von Andre Soudah

Nicht nur, dass ein Mensch brutal erstochen wurde und seinen Verletzungen erlag (zwei weitere wurden schwer verletzt), sondern dass ein Nazimob diese abscheuliche Tat auch noch für seine Zwecke missbraucht und auch unbescholtene Bürger die Nase voll haben. Eine Entladung, auf die die Polizei und die Stadt Chemnitz, trotz Ankündigung in den sozialen Medien, nicht vorbereitet war und ein Ministerpräsident der in einem Dilemma steckt; so muss er sich und die CDU als Landespartei profilieren, die mit starker Hand regiert und zum Beispiel gegen vermeintliche Ausländerkriminalität vorgeht und ein neues Polizeigesetz auf den Weg bringt, um rechte Wutbürger nicht vollends zu verprellen. Gleichzeitig soll Sachsen weltoffen sein. Ob diese Strategie ein Jahr vor der Landtagswahl aufgeht, darf mit einem Blick nach Bayern zu Recht bezweifelt werden. 

 Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda werden wach. Damals hieß es, das Boot sei voll. Heute, es reicht. Zur Erinnerung: geistige Brandstifter gab es damals leider vor allem in der CDU. Die Bildzeitung spielte damals wie heute eine unrühmliche Rolle. Leider. Erst zündeln, und sich dann wundern, dass es brennt. Heutzutage kommen auch merkwürdige Äußerungen aus Teilen der Linkspartei dazu. So geht sächsisch klingt inzwischen zynisch. In diesem Zusammenhang hat sich übrigens auch die erste Werbeagentur aus einem Pitch (Wettbewerb) um eine sächsische Imagekampagne unter dem Hinweis zurückgezogen, dass Sachsen im Lichte der jüngsten Ereignisse im Moment in der Welt nicht positiv vermittelbar sei.  

 Bloß die Frage bleibt, was wir als SPD, die strukturell, organisatorisch und personell in Sachsen leider sehr bescheiden aufgestellt ist, leisten können, um wirkungsvoll dieser Entwicklung etwas – außer blumigen Worten, Empörungen, Durchhalteparolen, Lichterketten und meines Erachtens einem sehr unklugen Sachsen-Bashing (weil es der AfD in die Hände spielt) – entgegenzustellen? Letzteres mögen viele – gerade auch Westdeutsche – nicht gerne hören. In Sachsen ist möglicherweise zuallererst etwas zu Tage getreten, was im gesamten Bundesgebiet schon länger latent vorhanden ist: die Angst vor dem Zurückbleiben.

Die SPD fällt in diesem Zusammenhang als Würdelieferant und ernstzunehmender Ansprechpartner leider weitestgehend aus. Unsere Parteiendemokratie mit ihren Mechanismen wirkt wie ein Sanierungsfall. Moralisierender Globalisierungsfetischismus als elitäres Selbstverständnis, das Teile unserer Gesellschaft nur noch als Gefahr (Stichwort: zurückbleiben!) wahrnimmt. Der Zwang zur Solidarität ist bei vielen Mitgliedern nur noch ein Lippenbekenntnis, das durch den Aufstieg abhanden gekommen ist. Zur Erinnerung: 300.000 Stammwähler sind bei der letzten Bundestagswahl zur AfD gewandert; das sind jetzt alles ›Rechte‹. Neun von zehn Bundestagsabgeordneten haben heute übrigens ein Studium – mit der Folge, dass Menschen ohne Studium keinen Einfluss mehr auf das nehmen, was in Parteien und Parlamenten passiert. Wer sich da noch wundert, dass die AfD mehr Wählerzuspruch als die SPD erfährt, der hat den Knall nicht gehört.

Und wie ist es mit dem Vertrauen in unsere Institutionen? Ein schlanker Staat hat zur Folge, dass der Staat nicht mehr präsent und damit wahrnehmbar ist. Hier wird die Diskrepanz zwischen dem Reichtum unseres Landes und der Realität sichtbar. Geld für Griechenland-, Euro- und Finanzkrise war da. Milliardensummen. Ebenso wurden im Rahmen der Flüchtlingskrise Milliarden zur Verfügung gestellt. Das Geld war und ist da. Auf der anderen Seite bekommt der Staat es nicht hin für ausreichend bezahlbaren Wohnraum für alle zu sorgen, ein gesetzliches Rentenniveau weit über 50 Prozent sicherzustellen oder ausreichend viele Menschen bei Polizei, Justiz, Verwaltung und Schulen arbeiten zu lassen.

Der Staat liefert nicht mehr (pünktlich) und entzieht sich damit sukzessive seine eigene Arbeitsgrundlage. Der geografischen Polarisierung, was nichts anderes als Landflucht ist, hat er schon lange nichts mehr entgegenzustellen; außer Flüchtlinge, die den ländlichen Raum wieder füllen sollen. Das stößt bei den beschriebenen Grundvoraussetzungen mit Sicherheit nicht auf Akzeptanz, sondern zu einer Trotzreaktion. Der Hinweis auf den Fachkräftebedarf mag in diesem Zusammenhang nicht falsch sein, ist aber zugleich ein Schlag ins Gesicht derer, die nach der Wiedervereinigung Arbeit gesucht und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gefunden haben. Der Ausruf ›Das ist unsere Stadt‹ ist daher nichts anderes als ein Hilferuf nach einer Identitätsbestätigung. Zurückbleiben steht hier für nichts anderes als enttäuscht sein und die Frage, ob ich noch dazugehöre. Akzeptanz erfährt der Staat – so jedenfalls bei einem Teil unserer Bevölkerung – nicht mehr. Ein Autoritätsverlust ist also vorprogrammiert.

Die SPD fordert in dieser Gemengelage u.a. mehr Globalisierung, Europa und Weltoffenheit. Also genau das, was die (ehemalige) Kernklientel als Bedrohung wahrnimmt und, wenn überhaupt, nur akademisierten ›Aufsteigern‹ zugute kommt. Entfremdung, Trotz und Radikalisierung sind also vorprogrammiert, wenn nicht zumindest erklärt wird, wie der deutsche Sozialstaat trotz Globalisierung, offenen Grenzen und Zuwanderung aufrechterhalten werden kann. Welche Perspektive bieten wir den Zurückgebliebenen in unserem Land also wieder an? Wie können wir wieder sicherstellen, dass der Staat nicht ständig hinter einer Entwicklung her läuft, die lange absehbar war? Wie lautet, das gesellschaftliche Vorhaben (Projekt) des 21. Jahrhunderts der Sozialdemokratie, dass uns wieder aktraktiv erscheinen lässt?

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