von Andreas Kalckhoff

Es ist viel die Rede dieser Tage vom Niedergang der Volksparteien, der Zersplitterung der politischen Landschaft und vom unerwarteten Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei. Dies läge daran, dass die Volksparteien ununterscheidbar geworden wären, heißt es. Um wieder Mehrheiten wie früher an sich zu binden, müssten sie ihr Profil schärfen, wieder Kante zeigen.

Tatsächlich ist das Parteiengefüge im Begriff, sich grundlegend zu wandeln. Um zu verstehen, was gegenwärtig mit den Volksparteien passiert, muss man ein Stück ihrer Geschichte erzählen. Ihr Verhältnisse zueinander war geprägt von der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik. Die Frage ist, ob es wirklich ein Zurück dahin gibt.

Nach 1945: Parteienkampf um Werte

Die Volksparteien Union und SPD hatten von Anfang an Schnittmengen an politischen Zielen, etwa in der Sozialpolitik, seit Godesberg auch hinsichtlich der Wirtschafts‐ und Außenpolitik. Dies machte die erste Große Koalition (1966‐1969) möglich. Trotzdem hatten beide Parteien ein deutliches Profil, das der politisch und gesellschaftlich‐kulturell gespaltenen Nachkriegsgesellschaft entsprach. Diese Spaltung gründete einerseits im Aufeinanderprallen von Nazi‐Mentalität und liberal‐demokratischen Werten westlicher Herkunft, zum anderen im Kalten Krieg, dessen Fronten den demokratischen Sozialismus in vieler Augen verdächtig machten. Deutliche Gegensätze gab es zwischen Union und SPD im Gesellschafts‐ und Staatsverständnis. Die Union trat für einen Obrigkeitsstaat ein, der Sicherheit, Recht und Ordnung propagierte, und betreute auch in der Rechtspolitik das Erbe der Vorkriegszeit. ›Keine Experimente‹ war ihr Motto unter Adenauer. ›Gesellschaft‹ tat sie als soziologischen Begriff ab. Demgegenüber stand die SPD deutlich für Freiheit und Bürgerrechte und schrieb unter Willy Brandt ›Mehr Demokratie wagen‹ auf ihre Fahnen. Sie trat entschieden für Meinungs‐ und Pressefreiheit ein und öffnet sich gesellschaftlichen Veränderungen.

Wirtschaftspolitisch ordnete sich die Union weitestgehend den Interessen der Arbeitgeber unter. Erleichterungen für Arbeitnehmer verteilte sie in Form der – von Wirtschaftsexperten scharf kritisierten – ›Wahlgeschenke‹. Die SPD trat dagegen, trotz ihres Einschwenkens auf Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft, weiter für eine stärkere staatliche Regulierung des Marktes und gewerkschaftliche Kontrolle der Arbeitgeber ein. Den größeren Zuspruch in der Bevölkerung erfuhr dabei die Union mit ihrer Wohlfahrtspolitik. Dank Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung fiel es den Gewerkschaften nicht schwer, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen. Noch weiter gingen die Vorstellungen beider Parteien in der Kultur‐ und Familienpolitik auseinander. Die Union war einem rigiden, klerikal unterfütterten Wertkonservativismus verpflichtet, der sich mit Rock ‘n Roll, Langhaarigen und der sexuellen Revolution schwertat. Auch in der SPD gab es Wertkonservative, doch im Unterschied zur Union wollten sie den Bürgern nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Indem sich die SPD dem Wertewandel öffnete, gewann sie die Jugend. Während die Union ein nebuloses ›christliches Weltbild‹ propagierte, zu dem neben Sexualmoral, Manneszucht und Konformismus auch die kapitalistische Ordnung gehörte, setzte die SPD auf Individualismus, Selbstbestimmung und Toleranz, auf betriebliche Mitbestimmung und gesellschaftliche Partizipation.

In der Außenpolitik stellte die SPD anfangs die Wiedervereinigung über die Westintegration. Dafür war sie bereit, sich mit der Sowjetunion über eine Neutralität Gesamtdeutschlands zu verständigen. Sie stand damit in Gegensatz zur Union, die auf Westbindung und Nato setzte, während Wiedervereinigung nur in Sonntagsreden vorkam. Als die SPD begann, die deutsche Spaltung als Realität anzuerkennen und vom Kalten Krieg zugunsten einer Verständigungspolitik mit dem Osten abzurücken, kam es wiederum zur Konfrontation. Die Ostpolitik der Regierung Brandt‐Scheel und die daraus folgenden Verträge, vor allem der praktische Verzicht auf die verlorenen Ostgebiete, führte zu einem Klima des Hasses, das Wählerschaft und Parteien in ›Lager‹ spaltete.

Volksparteien im Flügelkampf

Vieles davon kommt einem heute nicht nur von gestern, sondern wie von einem anderen Stern vor. Man muss sich aber diese oft mit Erbitterung und Wut geführten Auseinandersetzungen vergegenwärtigen, wenn heute die Ununterscheidbarkeit der Parteien beklagt wird. Will man wirklich in die Konfrontationen und verbalen Zuspitzungen der siebziger, achtziger Jahre zurück? Freilich, wenn Politik auf ein Entweder‐Oder reduziert wird, fallen Wahlentscheidungen leichter. Doch ganz so klar waren die Fronten letztlich gar nicht. In Wirklichkeit waren die Volksparteien ebenfalls in sich gepalten. In der Union reichte das Spektrum vom »Herz‐Jesus Marxisten« (Zitat F. J. Strauß) Norbert Blüm bis zum Stahlhelm‐Flügel‐Mann Alfred Dregger, vom ›Kopf‐ab‹‐Richard Jaeger bis zum Pinochet‐Kritiker Heiner Geißler. Die Sozialausschüsse der CDU hatten es schwer, sich gegen den übermächtigen Arbeitgeberflügel zu behaupten, konnten aber durchaus Akzente setzen. Nobert Blüm war lange Jahre ihre Gallionsfigur in den Kabinetten Kohl. In der Außenpolitik teilte sich die Union in Atlantiker und ›Gaullisten‹, später in Europäer und Europaskeptiker. Überdies gab es heftige Konflikte zwischen CDU und CSU. Dabei war auch die CSU nicht monolithisch.

Neben reaktionären Mitgliedern aus der ehemaligen Bayerischen Volkspartei, die sich dem NS‐Regime durch Selbstauflösung bereitwillig unterworfen hatte, fanden sich in ihr auch Nazi‐Gegner aus dem katholischen Widerstand, wie den ›Ochsensepp‹ Josef Müller. Der wurde allerdings bald von seinen Parteifreunden kalt gestellt. Verglichen mit dem klerikalen Hundhammer‐Flügel galt Franz‐Josef Strauß anfangs als liberal. Später wurde er zu einem Exponenten des rechten Flügels der Gesamtunion. Doch die Liberaleren in der CSU behaupteten sich weiter. So verhinderten sie die Spaltung der Union nach dem Kreuther Beschluss. Die SPD zerfiel in einen sozialistischen Flügel, der auf Verstaatlichung und Vergesellschaftung von Betrieben setzte, und Marktwirtschaftlern, die mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten wollten. Seit Godesberg beherrschten Marktwirtschaftler und Fiskalisten die Partei: Schiller, Möller, Schmidt, Apel, Schröder, Eichel. Die ›demokratischen Sozialisten‹ gerieten gegenüber den wirtschaftsliberalen ›Kanalarbeitern‹ (später Seeheimer Kreis) in die Minderheit. Auch Gastarbeiter, Umweltpolitik und nukleare Nachrüstung führten zu parteiinternem Streit. Dabei hatten es Jochen Steffen (›Der rote Jochen‹), Erhard Eppler (Zitat Wehner: »Pietkong«) und Oskar Lafontaine schwer in ihrer Partei. Vor allem die Debatte um die Pershing‐II‐Raketen wurden zu einer ernsthaften Zerreißprobe für die SPD.

Seit 1998: Angleichung der Volksparteien

Mittlerweile unterscheiden sich die Parteien – AfD ausgenommen – in ihrem Gesellschafts‐ und Staatsverständnis sowie in ihren politisch‐ethischen Werten nur noch graduell. Individualismus, Selbstbestimmung, Frauenrechte, Toleranz gegenüber Randgruppen sind Mainstream. CDU‐Politiker marschieren in der Love‐Parade mit, schwule Minister, Ministerpräsidenten und Bürgermeister sind kein Aufreger mehr. In Familien‐ und Frauenfragen mag es Differenzen um Prozentzahlen geben, die grundsätzliche Ausrichtung ist dagegen nicht strittig. Alle treten für Frauenrechte ein, aber auch für Kinder und Familie und Jugend und Ausbildung und sexuelle Freiheit. Auch in den aktuellen Fragen Digitalisierung, Internet und bessere Altenpflege bestehen kaum Differenzen.

Über Gesellschaftsthemen gibt es zwischen den Parteien oft weniger Streit als innerhalb. Die Frontlinien laufen, wenn überhaupt, dann quer zu den Parteilinien, etwa in den Fragen Abtreibung, Sterbehilfe oder Gentechnik. In der Innenpolitik gelang es dem ›Rote[n] Sheriff‹ Otto Schily, die Union rechts zu überholen. In der Verteidigungspolitik setzten Helmut Schmidt, Georg Leber, Hans Apel und Peter Struck jeweils die militärnahe Linie der CDU‐Minister fort. In der Rechtspolitik fanden sich Union und SPD zu umstrittenen Verfassungsänderungen zusammen. Gemeinsam stimmten sie für Notstandsgesetz und Asylrechtsänderung, unter Unionsdruck erließ die SPD den zweifelhaften Radikalenerlass. Warnungen vor dem Überwachungsstaat finden heute weder bei Union noch bei SPD sonderliches Gehör.

In der Wirtschafts‐ und Arbeitspolitik geht es zwischen Union und SPD fast nur noch darum, in welchem Maße Arbeitnehmer und Rentner zu begünstigen seien, Arbeitgeber und Aktionäre dagegen zur Kasse gebeten werden sollten. Auch in der Finanzpolitik gibt es nur unterschiedliche Akzente. Nicht, dass Verteilungs‐ und Geldpolitik als unwichtig angesehen würde; man kommt sich darüber durchaus heftig in die Haare. Aber niemand bestreitet dem Gegner mehr die Legitimität seiner Position und wirft ihm vor, er wolle eine ›andere Republik‹. Die Lagerwahlkämpfe sind vorbei.

Auch in der Außenpolitik gibt es kaum mehr Streitfelder. Fern die Zeit, da Konrad Adenauer von der SPD als ›Kanzler der Alliierten‹ beschimpft wurde und Willy Brand als Agent des Ostens. Die Außenminister, egal von welcher Partei, werden heute von allen Parteien respektiert und sind in der Bevölkerung hoch geachtet. Der Streit über die Nachrüstung ist längst vorbei, jetzt geht es um Prozente beim Nato‐Beitrag. Der zweite Irakkrieg war noch strittig, der Afghanistaneinsatz nicht mehr, ebenso wenig das Engagement in Bosnien und Kosovo. Über eine Finanzunion in Europa wird zwar gerungen, aber man sieht keine Wertentscheidung darin. Die EU‐Mitgliedschaft selbst ist unumstritten.

Niedergang der Volksparteien

Ist der ›Kampf um die Mitte‹, der zu einer Angleichung der Volksparteien führt, an ihrem Niedergang schuld? Das wird vielfach behauptet. Die Parteien müssten wieder unterscheidbar werden, ›mehr Kante zeigen‹, ihr mangelndes Profil schläfere den Wähler ein. Was aber ist mit den kleineren Parteien, die durchaus – oft etwas unterkomplex – kontroverse Themen besetzen? Umweltschutz (Grüne), Neoliberalismus (FDP) und soziale Gerechtigkeit (Die Linke) werden zwar auch von den Volksparteien bedient, aber zweifellos sind die Klientelparteien an ihrem jeweiligen Leib‐ und Magenthema deutlich erkennbar. Für viel mehr als zehn Prozent hat es trotzdem nie gereicht, jedenfalls nicht im Bund. Das gilt auch für die AfD: mit der Flüchtlingskrise gibt es jetzt wieder ein Thema, das die Gemüter erregt – trotzdem blieb sie mit ihrer Stimmenzahl weit hinter den Erwartungen und Befürchtungen zurück.

Bemerkenswerterweise haben die Themen innere Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, für die sich Union und SPD im letzten Wahlkampf stark gemacht haben, auch nicht verfangen. Kann es sein, dass beide ihre Glaubwürdigkeit verloren haben? Das gilt sicher für die Sozialdemokraten. Gerhard Schröder eroberte nach sechzehn Jahren Kohlregierung mit einem wirtschaftsfreundlichen Programm die Kanzlerschaft. Er gewann zweimal die Wahl, weil er versprach, nichts anders zu machen als der Vorgänger, aber besser. Mit seinen neoliberalen Reformen beschädigte er jedoch den Markenkern seiner Partei. Davon hat sich die SPD bis heute nicht erholt.

Die Kernkompetenz der SPD ist ihr Engagement für die Arbeitnehmer und sozial Schwachen. Ihre Motivation ist Solidarität und Empathie. Sie will nicht die Erfolgreichen belohnen, sondern den Benachteiligten helfen. Auch die Union beansprucht, zum Wohle der Arbeitnehmer zu handeln, doch meint sie, dies vorrangig durch Politik zugunsten der Arbeitgeber zu erreichen, in denen sie die alleinigen Garanten des Wohlstands sieht. Die Unternehmen sollen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben, was am Besten durch steuerliche Erleichterungen, Entlastung von Sozialabgaben und Deregulierung des Arbeitsmarktes ginge. Dieser Auffassung näherte sich die SPD zulasten der Arbeitnehmer und Schwachen immer mehr an. In den Augen vieler Wähler macht sie sich dadurch überflüssig.

Wenn die SPD heute weniger Wähler hat als die Union, dann nicht zuletzt, weil ihnen Umweltschützer, Friedensbewegte, Linkssozialisten und auch viele Gewerkschafter von der Fahne gegangen sind. Wie Die Linke sind auch die Grünen Fleisch vom Fleische der SPD. Ungeachtet der Mahnungen Epplers hat sich die SPD dem Umweltthema lange verschlossen. Ministerpräsident Börner wollte anfangs Umweltaktivisten noch mit der Dachlatte bekämpfen. Später hat er freilich als erster die Grünen in eine Landesregierung geholt. Aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Auch der Nachrüstungsbeschluss trieb viele aus der SPD.

Unterdes hat die CDU unter Angelika Merkel, mit Verzögerung auch die CSU, ebenfalls eine Wandlung durchgemacht. Merkel schloss aus dem anhaltenden Wählerschwund ihrer Partei nach Kohl, dass sie sozialer, liberaler, weibliche, jünger, ja ›bunter‹ werden müsse. Sie erkannte, dass auch die CDU sich dem gesellschaftlichen Wandel anpassen müsse, sonst stürben ihr die Wähler weg. Dass sich Merkel in der Union durchgesetzt hat, bedeutet eine Wendung hin zur SPD, die man durchaus als Sozialdemokratisierung bezeichnen kann.

Mit der Abschaffung der Wehrpflicht und mit der Energiewende hat es die Union ihrerseits geschafft, SPD und Grüne zu überholen. Da sie mit Merkel und von der Leyen auch in der Familien‐ und Frauenpolitik eine Kehrtwende vollzog, bleibt der alten Union als Alleinstellungsmerkmal nur mehr die tönende Sorge um die innere Sicherheit. Doch die wird von vielen Unionwählern nach der Flüchtlingskrise in Frage gestellt. Was die äußere Sicherheit angeht, sind Auslandseinsätze unpopulär. Der Zustand der Bundeswehr als Berufsarmee weckt auch kein besonderes Vertrauen in die Sicherheitskompetenz der Union.

Glaubwürdigkeitsverlust oder Erfolgsgeschichte?

Verlorene Glaubwürdigkeit ist sicher ein Problem. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Wie aber soll man beim Regieren nicht Erwartungen enttäuschen, wenn man vorher zu viel versprochen hat? Wenn die Partei der Sicherheit bei einem drohenden Notstand nicht jene Ordnung wiederherstellen kann, die doch ihr Markenzeichen ist? Plötzlich erweist sich, dass Wahlkampfsprüche nur bei Schönwetter halten. Und warum soll man die SPD dafür wählen, dass sie sich für eine Sozialpolitik stark macht, die sie zuvor quasi abgeschafft hat? Schröders ›epochale‹ Agenda 2010 war mit großen Ankündigungen und Versprechen verbunden, die sich später als hohl erwiesen. Dass Unionsanhänger das Gegenteil behaupten, bestätigt diesen Befund. Zweifellos wird die Lösungskompetenz der Volksparteien vom Wähler in Frage gestellt. Aber das ist nicht die ganze Erklärung. Es geht auch um Inhalte. Die Bilanz der offenen und heimlichen großen Koalitionen erweckt nicht nur Freude. Viele wenden sich gar mit Grausen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründe. Doch ist an den Ergebnissen wirklich die Angleichung der Volksparteien Schuld? Schlechte Politik wurde auch von kleinen Koalitionen gemacht, ob mit Hilfe der FDP oder der Grünen. Andererseits wurden Irrtümer auch korrigiert. Fehler passieren halt. Eine unaufgeregte Politik wird damit fertig.

Im Grunde ist die Konvergenz der Parteien eine Erfolgsgeschichte: sie signalisiert einen gesellschaftlichen Konsens, um den uns viele in der Welt beneiden. Um seinen Wert zu begreifen, muss man sich noch einmal das vergiftete politische Klima der siebziger und achtziger Jahre vor Augen führen, als Wahlen zu ›Richtungsentscheidungen‹ hochstilisiert und Kanzlerkandidaten als ›Vaterlandsverräter‹ beschimpft wurden. Es sei daran erinnert, wie gleichzeitig das Parteiengezänk beklagt und Wahlkampf mit Wohlfühlslogans geführt wurde, weil der Wähler keinen Streit will. Und jetzt soll am Wählerschwund schuld sein, dass die Parteien zu sehr kuscheln? Dabei ist die Ähnlichkeit der Volksparteien kein Ergebnis politischer Planung, sondern der gesellschaftlichen Prozesse Demokratisierung, Liberalisierung und Individualisierung. Umso lächerlicher wirkt der Ruf nach ›mehr Kante‹. Man bekommt ein Spiegelei nicht wieder in die Schale zurück. Die hässlichen Kontroversen der Vergangenheit waren wohl unausweichlich, aber nun sind wir froh, dass es vorbei ist. Wir sollten uns über den erreichten Grundkonsens freuen: er ist ein Zeichen gesellschaftlicher Reife. Angleichung heißt nicht, dass man in allem einer Meinung ist, sondern dass man unter einem gemeinsamen Wertehorizont handelt.

Man mag mit den Ergebnissen dieses Konsenses nicht immer zufrieden sein. Doch Politik geht ja weiter. Es gibt neue Probleme, über die man sich auseinandersetzen kann. Viele sind so komplex, dass sie für Wahlkampfparolen zu sperrig sind. Das kann man an den Wortungetümen im aktuellen Koalitionsvertrag ablesen, die nur Experten etwas sagen. Zugleich wird damit der wahre Inhalt von Politik beschrieben: verhandeln und dicke Bretter bohren. Antagonistisches Denken und lautstarkes Poltern ist dabei eher hinderlich. Dass die Demokratie vom Streit lebt, ist durch nichts bewiesen. In Wirklichkeit lebt sie vom Argument.

Verlierer der Konsensgesellschaft

Der Angleichungsprozess hat gleichwohl Verlierer hervorgebracht. Das sind in der Union die Marktradikalen, Nationalkonservativen und christlichen Fundamentalisten. Man kann verstehen, dass diese gerne behaupten, mit ihrer Politik könne man verlorene Wähler zurückgewinnen. Doch ein Zurück gibt es nicht. Es würde nicht nur ein Minderheit in der Partei zum Verlierer machen, sondern die gesamte Union. Ein Zurück zu Nationalstaatsdenken und völkischen Ideen, zum Familien‐ und Frauenbild der Fünfziger, zu christlichem Fundamentalismus und Manchesterkapitalismus ist in einer modernen Gesellschaft nicht vermittelbar.

In der SPD sind die Linkssozialisten die Verlierer. Sie bezweifeln nicht zu unrecht, dass Senkung des Spitzensteuersatzes, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Entlastung der Arbeitgeber von Sozialabgaben wirklich Arbeitsplätze mit erträglichem Einkommen schaffen. Grundsätzlich wird dieser Zweifel von der Parteimehrheit auch geteilt, doch ist sie nicht bereit, ihn in konkrete Politik umzusetzen. Die Mehrheit glaubt stattdessen, zu weitgehende Forderungen könnten die Wähler verschrecken. In diesem Glauben hat sie schließlich Schröders neoliberale Reformen unterstützt. Verlierer aus allen Wählerschichten sind auch diejenigen, die in Immigranten und Flüchtlingen ein Sicherheitsrisiko und eine Bedrohung ihrer Lebensart zu erkennen glauben. Da diese Gefahr von den ›Altparteien‹ und der ›Lügenpresse‹ nicht im gleichem Maße gesehen wird, fühlen auch sie sich an den Rand gedrängt. Die Bundestagswahl, in der sich 82,3 Prozent gegen die AfD entschieden, zeigt freilich, dass sie dort auch hingehören.

Dazu muss man noch einmal sagen: diese Verlierer sind Verlierer, weil die Gesellschaftsentwicklung über sie hinweggerollt ist. Ihre Ansichten, Befürchtungen und Leidenschaften gehen an den Wahrnehmungen und Interessen der Bevölkerungsmehrheit weitgehend vorbei. Es ist nicht unmöglich, aber doch unwahrscheinlich, dass sich das ändert oder gar umkehrt. Bei alledem wird ein kompromissloser, eifernder Politikstil nur noch von einer kleinen Minderheit akzeptiert, der Ziele und Anliegen mit einem Absolutheitsanspruch verbindet. Seinen schlimmsten Ausdruck findet er im Hass.

Es ist für SPD‐Linke gewiss hart, sich als Verlierer zu sehen – Verlierer in der eigenen Partei wie in der Gesellschaft. Aber auch aus Verlieren kann man lernen. Es fehlt der Linken nicht an guten Argumenten für ihre sozialpolitischen Forderungen. Dass sie nicht hinreichend erhört wird, ist auch ein Vermittlungsproblem: Linke neigen dazu, ihre Ziele ideologisch zu überhöhen und ihnen durch Rigorosität zu schaden. Dennoch haben sie viel bewirkt. Historische Verlierer sind sie nicht. Aber sie sollten erkennen, dass vor allem eine jüngere Wählerschaft mit Kampfparolen nicht mehr so leicht zu erreichen ist. Sie sollten Opas Parteifahnen im Keller lassen. Zu verbreitet ist mittlerweile die Erfahrung, dass es in einer komplexen Welt weder Schwarz‐Weiß noch Patentlösungen gibt.

2017: Aufstand der Verlierer

Die Partikularisierung der Parteienlandschaft erklärt sich zu einem Gutteil aus dem Zweifel an großen Lösungen. Wenn es keine absoluten Wahrheiten gibt, probiert man es mit Projekt‐ und Milieuparteien, denen man überschaubare Teillösungen zutraut. Diese Zersplitterung muss nicht schlecht sein. Wenn die Volksparteien – so klein sie auch mittlerweile sein mögen – noch Energie für Flügelkämpfe haben, warum dann nicht auch eine Ebene höher, wenn es um die Vereinbarkeit von Parteiprogrammen geht? Die Jamaika‐Verhandlungen, obgleich am Ende gescheitert, haben gezeigt, wieviel Gemeinsamkeit und Kompromissbereitschaft die einst so zerstrittenen ›Altparteien‹ verbindet – zumal sie dank der AfD Ballast losgeworden sind.

Die Konvergenz der Volksparteien, so begrüßenswert sie grundsätzlich ist, zeitigt allerdings eine unerfreuliche Nebenwirkung: die potentielle Radikalisierung der Verlierer. Ein Häuflein versprengter Euro‐Gegner und Querulanten hat sich unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise zu einer extremistischen Partei politischer Verlierer entwickelt, die sich aus protofaschistischen Milieus nährt. Ihre Ziele – rassistisch, intolerant und inhuman – bedeuten einen Wertebruch in unserer Gesellschaft. Es hat sich eine neue Frontlinie gebildet zwischen Liberalität, Humanität und Toleranz auf der einen Seite, Demokratieverachtung, Demagogie und Fremdenhass auf der anderen. Zwischen diesen Haltungen kann es keinen Kompromiss geben.

Die Frage ist, wie stark die Wählerschaft einer rechtsextremistischen Partei bei uns werden kann. Wir haben diese Gefahr bisher für gering erachtet. Doch in den USA sieht man gegenwärtig, dass nichts ausgeschlossen ist, wenn die Liberalen unter sich zerstritten sind oder ihre liberalen Überzeugungen hinter Eigeninteresse und Parteiräson stellen. Opportunismus und Eigennutz in Verbindung mit Demagogie wirken in jeder Demokratie zerstörerisch.

Wenn unsere liberalen Parteien dagegen aus dem Untergang der Weimarer Republik lernen, wenn sie die demokratischen und liberalen Werte der Bundesrepublik offensiv verteidigen und ihre Differenzen sachlich und ergebnisorientiert austragen, hat die Marginalisierung der Volksparteien keine Bedeutung. Solange es koalitionsfähige Parteien gibt, die eine Mehrheitsregierung bilden können und dazu auch willens sind, ist die Stabilität der Republik nicht in Gefahr. Zwölf Prozent AfD‐Wählern stellen dann keine Bedrohung dar, sondern eher eine sportliche Herausforderung. Profilneurosen sind dabei eher hinderlich. Wie die sinkenden Umfragewerte von SPD und FDP gezeigt haben, werden sie vom Wähler auch nicht honoriert.

Politik jenseits des Absoluten

Dass die Fortsetzung der GroKo zu Langeweile und Politikverdrossenheit führt, ist angesichts der numerischen Stärke der Opposition und den schrillen Töne von rechts kaum zu erwarten. Davon abgesehen ist eine Koalition, die gerade mal über die Fünfzigprozenthürde kommt, eher eine KleiKo. Die Zurückweisung populistischer Parolen und Provokationen wird, so kann man hoffen, die liberalen Parteien enger zusammenrücken lassen und sie zur Sachargumentation ermutigen. Gegen Lügen hilft kein Schimpfen, sondern nur Wahrheit.

Wovon aber wird die Gunst der Wähler in Zukunft abhängen? Nicht von harter Kante und in die Fresse geben, nicht davon, nur mit dem spitzen Finger auf die Fehler der anderen zeigen: das ist Politik von gestern. Natürlich muss parlamentarische Kontrolle der Regierung sein und kritische Auseinandersetzung. Aber die kann man so oder so gestalten. Die Versuchung, mal auf den Putz zu hauen, um die eigenen Anhänger zu motivieren, ist groß. In Maßen kann das einen Wahlkampf beleben. Doch bleibt es eine Gratwanderung zwischen Authentizität und Unglaubwürdigkeit. Von Peinlichkeiten nicht zu reden.

Die Mehrheit der Wähler weiß mittlerweile, dass es in unserer schwierigen Welt keine einfachen Antworten gibt. Um die besten Lösungen soll gerungen, über strittige Fragen sollen Debatten geführt werden. Man kann das auch Streiten nennen. Doch muss man dabei die Integrität des politischen Gegners nicht in Frage stellen, auch nicht im Wahlkampf. Dass man sich erst mit Dreck bewirft und anschließend wieder unter eine Decke kriecht, ist nicht erwachsen. Im übrigen ist nicht Lageweile das Problem in der Politik. Vielmehr zerstören Phrasen und leere Versprechungen ihr wichtigste Kapital: Vertrauen.

›Deutlich machen, wofür wir stehen‹: das sollte heißen, eigene Ziele und Lösungsvorschläge solide begründen, und nicht: ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders!‹ Immer weniger Wähler wollen Bekenntnisse hören. Den Wähler ernst nehmen heißt: Politik immer und immer wieder erklären, Entscheidungsprozesse durchsichtig machen. Man muss mit Argumenten für politische Entscheidungen werben, statt sie nach Basta‐Manier für alternativlos zu erklären. Es gibt in der Politik keine Selbstevidenz. Auch politische Mantras nutzen sich ab. Vor allem die Jungen, werbungsgestählt wie sie sind, schalten da ab.

Die gesellschaftlichen Verlierer sollte man nicht vergessen. Ihnen nach dem Mund zu reden, bringt jedoch nichts. Aber ihr Protest muss Anlass sein, sich mit Argumenten um sie zu kümmern und die Politik nach Versäumnissen abzufragen. Berechtigter Protest sucht sich oft Umwege, um Gehör zu finden. Ratlose Opfer von Neoliberalismus und Globalisierung machen schon mal an der falschen Stelle ihr Kreuz. Wo irrationale Ängste auftreten, muss man sie mit Fakten und Argumenten auflösen. Das gelingt oft nicht. Aber Unbelehrbaren nach dem Mund zu reden, bedeutet politische Selbstaufgabe.

Natürlich muss man auch mit Leuten, die sich nach Identität sehnen – was immer das sein mag – oder die sich vor einer unkalkulierbaren digitalen Zukunft fürchten, ins Gespräch kommen. Sie in einen Topf zu werfen mit Fremdenhassern und Rassisten, ist voreilig. Wo aber Vaterland über Menschlichkeit gestellt wird, wo mit nationalem Egoismus der europäischen Einigung gespottet wird oder globalistische Verschwörungstheorien in Fremdenhass münden, endet die Verständigung. Die Vorstellung, solche Leute in Parteiflügel einbinden zu können, ist weltfremd, vor allem, wenn sie bereits ihre ideale Partei gefunden haben. Man soll ihnen auch nicht nachlaufen. Es zahlt sich politisch nicht aus, seine Seele für Stimmenprozente zu verkaufen.

Vieles davon ist wahrlich nicht neu. Umso mehr muss man sich wundern, dass es so wenig beachtet wird. Offensichtlich verzerrt das Denken in Parteiungen, das in Mittelalter und früher Neuzeit entstand, immer noch Vernunft und Wahrnehmung. Mittlerweile gibt es nicht zwei Lager, sondern fünf Parteien (zählt man die CSU extra), die wohl nicht so schnell verschwinden werden. Gleichzeitig wächst eine Generation heran, die bei Politik nicht unbedingt an Ortsvereine und Parteitage denkt. Diese jungen Leute, die sich mit Recht um ihre Zukunft sorgen, haben am Spiel ›hie Welf, hie Waibling‹ nicht mehr soviel Spaß.

Die zunehmende Zahl von Wahlverweigern legt nahe, nach neuen Wege zu suchen, die Menschen anzusprechen. Die herkömmlichen Parteien mit ihren Kaderstrukturen stellen sicher nicht die einzige Möglichkeit dar, politisches Interesse zu binden. Da die traditionellen Medien ebenfalls an Zuspruch verlieren, wird das Internet als Mittel zur politischen Willensbildung immer wichtiger. Dabei ist Kreativität gefragt. Wie kann man verhindern, daß sich die Wähler in selbstreferentiellen Blasen verlieren? Facebook reicht nicht. Wie in Vereine sollten sich Parteimitglieder und Anhänger in Blogs und Foren einbringen, nicht nur in seriöse. Fake News muss man mit Fakten kontern, immer und immer wieder. Notfalls auch anonym. Wem das nicht gelingt, der verliert die Zukunft.

Andreas Kalckhoff, geb. 1944, ist promovierter Historiker und Politologe, der in München studiert hat und heute als Fachjournalist und Autor in Stuttgart lebt. Er trat 1972 in die SPD ein, war bei den Jungsozialisten aktiv, half bei Volksbegehren und Wahlen und verließ die Partei 1993 aus Protest gegen die Grundgesetzänderung zum Asylrecht. Danach hat er sich in der Gewerkschaft IG Medien engagiert. In letzter Zeit wählt er wieder SPD. Dabei ist er der Meinung, dass parteiliche Profilneurosen in diesen gefährlichen Zeiten nicht hilfreich sind.