Eine Nacht auf dem Breitscheidplatz

von Ulrich Schödlbauer

1.

Geht, geht nicht, geht, geht gar nicht, geht, geht schon

Man kann den Beginn des Albtraums auf die ›absolute‹ Grenzöffnung vom 4. September 2015 datieren – und damit auf den Ausbruch eines jener halb verordneten, halb spontanen Räusche, mit denen Deutschland von Zeit zu Zeit seine näheren und ferneren Nachbarn verblüfft –, oder, wahlweise, auf die Kölner Silvesternacht vom Ende desselben Jahres, das ebenso abrupte Ende jener damals ausgerufenen kurzlebigen ›Willkommenskultur‹ –: ich bevorzuge, warum auch immer, als Tag der Wahrheit den 19. Dezember 2016, den Tag, an dem ein amtlich registrierter Gotteskrieger mit einem kurz zuvor per Kopfschuss erbeuteten Lkw in eine Budenstraße des Weihnachtsmarktes am Berliner Breitscheidplatz einbog, um Christen zu töten, ja, Christen, sie hören’s nicht gern, es klingt nach Beirut oder Bagdad, ganz recht, so darf es klingen, Bagdad ist überall, wie die muslimischen und nichtmuslimischen Zuwanderer, die sich dem Irrsinn entziehen wollten, inzwischen wissen. Bekanntlich gibt es auch Zeitgenossen, die wollen nichts davon wissen. Manche unter ihnen beschäftigen sich intensiv damit, was ihre Mitmenschen wissen und nicht wissen sollen. Sie vermeiden, wie Intensivtäter meist, das Wort ›dürfen‹, es behagt ihnen nicht, sie finden, es sei nicht erlaubt.

2.

Ich habe dieses Datum gewählt, weniger, weil sich einige Leser vielleicht noch daran erinnern können, während der Rest der Republik unter der Dauerberieselung mit Terror-Gedenktagen bereits ein wenig die Orientierung verloren hat, eher, weil in den Tagen danach mein Körper rebellierte und mir ein Jahr ganz spezieller innerer Anspannung bescherte, das nun zu Ende zu gehen scheint. Unter den Rebellen dieser Erde ist der eigene Körper, wie bekannt, der nächste und fernste; er kann überall und jederzeit zuschlagen und verfehlt sein Opfer nie. Einreden kümmern ihn nicht, sie gehen ihn nichts an. Sicherungsmaßnahmen schiebt er höhnisch beiseite. Wer das Gefühl der Hilflosigkeit nicht kennt, das eine solche Attacke aus dem Nichts bewirkt, der hat nicht gelebt oder doch unter einem Glücksstern – hoffentlich bleibt es dabei. Doch machen wir uns nichts vor: es bleibt nicht dabei. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Attacke ist, statistisch gesehen, sogar drastisch höher als die, einem politisch-religiös-ethnisch-rassistisch motivierten Anschlag zum Opfer zu fallen – von sexuell motivierten Anschlägen rede ich nicht, die stehen auf einem anderen Blatt. Bleibt also der ganz spezielle Umgang, den die innere und die äußere Welt der Attacken miteinander pflegen. Aus ihm sei hier gebeichtet.

3.

Nein, ich fühle mich nicht in meinem Heimatgefühl verletzt. Ich schreibe das so, weil zu jedem inneren Zustand ein äußeres Klima gehört – oder passend hinzutritt –, von dem mancher sich bestätigt fühlt, während einige Leute Fremdheitsgefühle entwickeln – im eigenen Land, gewiss, wo denn sonst? Dieses Land ist eigen, es könnte das eigene sein, ausschließen lässt sich das nicht. In diesem Land, entnehme ich den Meldungen, ist Heimatgefühl angesagt: Man veredelt damit die Parole Macht weiter, als sei nichts geschehen, an sich eine Unparole, denn nichts kommt den Alltagsmenschen weniger in den Sinn als nicht weiterzumachen, wo alles weitergeht, -schiebt, -drückt, -drängt: Wie zum Teufel sähe es aus, das Nicht-Weitermachen? Heimatgefühl ist angesagt, man trägt es – Himmel, wo trägt man es? Es muss doch etwas hermachen, dieses Gefühl, bei all der Sorge, die ihm mit einem Mal widerfährt. Abgesehen davon, dass alles Angesagte, beginnend beim Ausdruck selbst, die Intimsphäre des Einzelnen verletzt, lässt es sich wunderbar manipulieren. Beim Wort ›Heimatgefühl‹ richtet sich die gedrückte Psyche auf und fühlt sich in Regionen verstanden, für die sie bereits auf kein Verständnis mehr hoffte. Könnte es sein, so der rudimentäre Gedankenblitz, der das Glückshormon freisetzt, dass diese verrottete Politikerkaste, die von unserem Geld lebt und den unverbrauchten Rest lachend nach Brüssel und in alle Welt trägt (oder alle Welt einlädt, ihn hier im Land zu verprassen), könnte es sein, dass sie weiß und versteht, was es bedeutet, hier und nirgendwo anders zu Hause zu sein? Wie gesagt, es handelt sich nur um einen Gedankenblitz, er geht gleich vorbei, aber er versöhnt das unruhige Spießerherz, er stimmt weich und das ist, politisch gesprochen, die halbe Miete.

4.

Heimatgefühl kennt viele Facetten und kommt auch mit Attentaten zurecht. Das gilt vor allem, solange die Motivationen der Handelnden jedermann zugänglich auf dem Tisch liegen und das Vertrauen in die Arbeit der staatlichen Organe halbwegs intakt ist. Wenn allerdings... (so beginnen viele bedrohlich klingende Sätze, sie schicken gleichsam den Schatten voraus, den das zu konstatierende Übel über die Dinge legt) – wenn allerdings Heimatgefühl sich politisiert, zum Beispiel deshalb, weil auf Abhilfe gegen himmelschreiende Missstände nicht anders zu hoffen ist – »Und holt herunter seine ew’gen Rechte, / Die droben hangen unveräusserlich / Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst«, heißt es in Schillers Tell –, dann ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen und für die in harmlosen Zeiten gern verlästerte öffentliche Ordnung ist Gefahr im Verzug. Das muss nicht sein. Eine kluge Politik lässt die Kirche im Dorf und das Dorf in der Provinz, – dort, wohin es gehört. Das Schlimmste, was der Provinz passieren kann, ist, dass man sie verwechselt. Das Schlimmste, was einem Provinzpolitiker passieren kann, ist, dass er sie verwechselt, zum Beispiel mit falschen Reden am falschen Ort. Was immer Heimat sein mag, sie ist vor allem eins: unverwechselbar. Das große Dorf Charlottenburg macht da keine Ausnahme. Wer das Heimatgefühl kennt, weiß: Mit Gefühlen kommt man nicht weit. Heimat bleibt Heimat. Meine Bitte an die noch nicht von allen guten Geisern Verlassenen: Lasst Heimat Heimat sein und führet niemanden in Versuchung, sie zu instrumentalisieren, es sei denn zu Werbezwecken, vornehmlich in der Tourismusbranche.

5.

Fühlte ich mich verletzt, erschüttert, gepeinigt? Kann sein, ich erinnere mich nicht daran. Eher fühlte ich mich betäubt. Ich erwartete etwas und es geschah etwas anderes. Man nennt das gemeinhin ›Erwartungsenttäuschung‹. Eine solide Erwartungsenttäuschung entsteht, wenn einer versetzt wird, das heißt ... muss man eigentlich alles erklären? Natürlich nicht, das liegt in der Natur des Erklärens, das sonst an kein Ende käme, am besten erklärt die verletzte Seele sich alles selbst, damit klärt sich der Blick und das Leben kann weitergehen. Doch in diesem speziellen Fall zögere ich, das Wort zu benutzen. Das liegt an der ›Enttäuschung‹ – ich erwartete ja nicht, mit Weihnachtsgeschenken überhäuft oder anderweitig beglückt zu werden. Ich erwartete, die Medien, ja die Medien, und eine durch sie, falls nicht bereits durch das Geschehen selbst, aufgescheuchte Politik, würden einfach das tun, wofür sie gekauft beziehungsweise gewählt werden: ihre Pflicht. ›Pflicht‹ ist ein gutes, ein verlässliches Wort, niemand muss es in der Regel erläutern. In der Regel… Das eben nennt man im sozialen Leben Erwartung: Jemand steht in der Pflicht und es passiert, was passieren sollte, weil der Fall so liegt, wie er liegt. Wenn Politiker sich per Wahl vom Souverän in die Pflicht nehmen lassen, dann tragen sie Verantwortung, wenn sie Verantwortung tragen, dann, ja dann … dann müssen sie sich im gegebenen Fall ohne Umschweife zu ihr bekennen. Wenn sie sich zu ihr bekennen, dann müssen sie, wiederum im gegebenen Fall, im Fall des Scheiterns, die Verantwortung für das Geschehene übernehmen und gehen. Nicht immer gelingt das ohne Nachhilfe. Dafür gibt es Medien. Als Gegenspieler der Mächtigen stehen auch sie in der Pflicht.

6.

Wie andernorts wimmelt es auch in der Politik von Verrätern. Die Vokabel ›Volksverräter‹ – links-, rechtslastig, im Kern totalitär – bildet das unzutreffend, überdies mit falschem Zungenschlag ab. Das Gros der Handelnden verrät sich, das eigene Selbst, die ›Grundsätze‹, auf die es – in aller Freiheit – sein Leben baut. Dabei werden sie nur aufgerührt, so dass – na endlich! – auch andere sie zu Gesicht bekommen. Nicht jeder will weitersagen, was da alles zum Vorschein kommt. Wo Gesellschaft ist, da ist immer auch Schweigen. Nimmt es überhand, sagen Kritiker gern: Es ›herrscht‹. Wer so redet, bricht es bereits. Wenn Schweigen herrscht, hat Öffentlichkeit aufgehört zu existieren. Das öffentliche Schweigen ist nicht intermittierend, es unterbricht nicht etwa, wie das private, den Fluss der Bekundungen, es lenkt ihn um: vorbei an dem, was ›schon klar‹ ist, weil es irgendwann auch dem Langsamsten dämmert. Also gut: Selbst dem Langsamsten dämmerte in jenen Tagen… Wer sagt das? Wer kann das wissen? Passend, fast wie von selbst stellt sich der Saison-Ausdruck fake news ein, wie geschaffen dafür, nicht zur Sache kommen zu müssen. Wer bezichtigt, der wird bezichtigt. So einfach geht das. Noch Fragen? Mancher, der noch eine hätte, verkneift sie sich schon, redet lieber von anderem, vor allem vom anderen – vor allem: er distanziert sich. Wer kann, geht auf Distanz – zum Wissbaren, das plötzlich ohne Verehrer dasteht, zu sich, zu seinesgleichen, zu jedem, der im Verdacht steht, er könne das Schweigen brechen und sich damit zu den Schreiern von der anderen Straßenseite gesellen: »Lasst die Polizei ihre Arbeit machen.« Hinterher fällt alle Welt über sie her, nicht weil die Welt klüger geworden wäre, sondern weil die Spur, die von den politischen Entscheidungen und den Kalkulationen, die sie umranken, zu diesem Ort führt, an dem sich die Konsequenzen verkörpern, noch heiß ist. Auskühlen soll sie, was denn sonst. Geht weiter, Leute, hier gibt’s nichts zu sehen. Nicht einmal die Gesichter der Ermordeten.

7.

Märchen für Abgebrühte: Es soll Politiker geben, die den Rücktritt von Entscheidungsträgern als überlebtes Ritual betrachten. Sie stehen damit nicht allein. Genauso denken die Zyniker unter ihren Verächtern, und dem, der hinreichend abgeklärt über den kapitalistisch-imperialistischen Komplex denkt, ist ohnehin alles Verantwortungsgetue Schaumschlägerei. Die Frage Ist das Denken oder Mit-den-Ohren-Wackeln? einmal beiseite gesetzt: Alles lässt sich mit einem Grinsen wegschieben, vorausgesetzt, der Hebel stimmt, alles, doch manchmal geschieht des Guten zuviel und dann ... geschieht etwas anderes. Mag sein, der eine oder andere meint, mit passend heruntergezogenen Mundwinkeln zum rechten Zeitpunkt die Kurve zu kriegen. Mag alles sein. Doch übersieht, wer so denkt, dass alles Regieren auf Ritualen beruht – Ritualen der Unterwerfung, freiwillig oder nicht, Ritualen der Anerkennung, sei es von Gegebenheiten, sei es von Entscheidungshierarchien, Ritualen der Betrachtung, changierend zwischen Pragmatismus und Wertekonsens –, und dass es in der Regel aus rituellen Handlungen besteht. ›In der Regel‹, ganz recht – wer sich nicht an sie hält, kann es weit bringen, aber er ist, wiederum in der Regel, schnell damit durch. Wahlen zum Beispiel sind, unter anderem, Rituale, sie dienen der Mehrheitsermittlung, vor allem aber dem Zweck, den inneren Frieden zu sichern und das Handeln der Gewählten, wer immer das sein mag, zu legitimieren, also: mit dem Vertrauen der Wähler zu segnen. Wer dem Gewinner nicht traut, muss sich wenigstens sagen lassen (und sich gegebenenfalls selbst sagen), dass, was geschieht, allem Dissens zum Trotz seine Richtigkeit hat. Wo das nicht geschieht, herrscht Unfriede, wo Unfriede herrscht, herrscht Herrschsucht, wo Herrschsucht herrscht, herrschen Zustände, die … nun ja, siehe Tell, zum Himmel stinken.

8.

Etwas persönlich nehmen? Geht gar nicht. Einem, der, wie er sagt, guten Willens ist, Verantwortung aufhalsen? Was soll das denn? Gehört das zum guten Ton? Lässt sich das rechtfertigen? Ist es Hass? Sind wir wieder so weit? Wie weit sind wir denn? Nicht fertig, nein, die Aufgabe ist noch nicht bewältigt, wir haben noch ein gutes Stück Weges vor uns, es wird schwer werden, aber wir lassen uns nicht entmutigen. Wer nicht für uns ist, der ist wider uns, wer wider uns ist, der widert uns an, wer uns anwidert, den… Ja? Ja! So geht Meinungsstreit. – Nein. Nein, so geht es nicht. Irgendwann ist es nicht mehr von Belang, dass einer seine Meinung vertritt, es zählt, was er getan hat. Kein Besuch beim Papst bindet ihn davon los. Etwas ist geschehen, etwas mit Folgen, ziemlich üblen sogar, Folgen, so gar nicht nach jedermanns Geschmack, vor allem, wenn sie den Unvernagelten zeigen, wohin die Reise geht. So etwas nennt man Einsicht. Einsicht an der Spitze kann spät kommen, sie kann auch zu spät kommen. Wenn sie kommt, dann … was dann? Mitgefühl? Reicht das? Eher nicht. Bedauern? Nein, bitte nicht. Kein Bedauern? Erst recht nicht. Gegen Terror hilft kein Bedauern. Das hier ist Terror gegen das Land und seine Bewohner. Wer an diesem Ort starb, hat für dieses Land, selbst wenn es nicht das eigene war, gänzlich ungefragt sein Leben dahingeben müssen, so wie der polnische Lastwagenfahrer, der beiläufig ermordet wurde, einfach so, damit andere, Passanten, nichts weiter, ermordet werden konnten. Sie alle sind Opfer einer gegen den Staat und seine Bürger gerichteten Aggression. Mit einem hastig anberaumten Trauergottesdienst ist das nicht ›bewältigt‹. Ein Angriff auf Land, Religion, Sitte, Lebensart, öffentliche Ordnung, privates Leben sollte nach keiner weiteren Antwort verlangen? Ein wenig fromme Erbaulichkeit sollte hier genügen? Die Polizei war schuld? Ganz sicher? Das ist … das ist doch … grotesk.

9.

Man soll Parlamentswahlen in puncto Volkswillen nicht überstrapazieren. Man sollte sie auch nicht unterstrapazieren, es missfällt den Leuten, wenn Verlierer zusammenlegen und so tun, als sei alles paletti. Stell dir vor: Man kann eine Wahl verloren haben, selbst wenn hinter einem die stärkste Fraktion mit den Hufen scharrt, und einfach nicht hingehen, ganz nach dem Sponti-Motto: ›Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin‹. Stell dir das einmal vor. Soviel Spontaneität bei denen, die das Land schon länger regieren – Volltreffer! So bewegt man sich jenseits der Pflicht in einem Raum bar aller Erwartung. Willkommen in der Sandkasten-Demokratie! Her mit den Förmchen! Her mit den rein rechnerischen Mehrheiten! Wo bleibt die Füllung? Wo bleibt sie denn…

10.

Das Ritual des Rücktritts, nächst dem der Wahl das wichtigste Instrument der Demokratie, ist kein Selbstzweck. Es dient dazu, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen – naturgemäß nicht in das abtretende Personal, sondern in das demokratische Spiel und seine Fähigkeit, sachhaltige Entscheidungen an der Spitze des Staates zu ermöglichen, denn garantieren kann ein System sie genauso wenig wie eine Person. ›Sachhaltig‹ heißt nicht zwingend ›sachgerecht‹, es bedeutet bloß: die Option ist gewahrt. Dass die Handelnden sich am Gemeinwohl orientieren, muss außer Frage stehen. Nichts anderes bedeutet Vertrauen im öffentlichen Raum. Eine Regierungschefin, der vom Publikum allenfalls noch ein ungebrochener Machtsinn, die Unfähigkeit zu trauern und ein hurtiger, in idealistische Formeln verpackter Opportunismus nachgesagt wird, ist, was immer das Parteienkalkül hergibt, ›am Ende‹.

11.

Jeder trägt Kindheitserinnerungen mit sich herum, von denen die Psyche nicht lassen kann. Mich verfolgt der aus Versehen in eine Hobelmaschine geratene Arm eines Schreinerlehrlings: So ein Anblick prägt sich ein. Seltsamerweise überkommt mich diese Erinnerung, sobald ich über den Zustand unserer Öffentlichkeit nachdenke – die eine Seite scheinbar intakt, die andere auf voller Länge aufgerissen und blutüberströmt. So sieht es aus, wenn eine Regierung einfach weitermacht und darauf vertraut, dass im Ernstfall die Mittel des Gesinnungsdiktats greifen, sollte das Lager der Kritiker unerwartet Zuspruch aus der ›Mehrheitsbevölkerung‹ erhalten und dadurch zum Machtfaktor aufrücken. Wer nicht pariert, wird denunziert. Professoren zum Beispiel lassen sich bequem mundtot machen, einfach deshalb, weil sie einen Ruf zu verlieren haben. Wer hätte das nicht? Sie stehen dann sonderbar nackt in der Gegend herum, manche Betrachter finden: wie Vogelscheuchen. Die Vorsichtigen wagen kaum hinzuschauen, sie denken und handeln wie Vögel und sind schon weg. Das Schon-Wegsein hat in diesem Land Ausmaße angenommen, die entfernt an vom Sog der Flucht gen Norden erfasste afrikanische Dörfer erinnern. Ist die Infrastruktur des Verstehens einmal zusammengebrochen, dann haben die Macher freie Hand – für eine Weile jedenfalls, was dann geschieht, steht in den Sternen. Dort steht es gut.

12.

Herr Asselborn sagt – warum fällt mir an dieser Stelle Herr Asselborn ein? –, »ohne diese europäische Lösung hätten wir Krieg auf dem Balkan bekommen, die Länder dort wären dem Ansturm allein nicht gewachsen gewesen«, und meint damit die per Mehrheitsvotum beschlossene ›Flüchtlingsquote‹ der EU, eine symbolische ›Figur‹, die keinen europäischen Politiker zwingt, mehr zu tun, als an passender Stelle zu nicken oder den Kopf zu schütteln, je nachdem, welcher Redner gerade am Zug ist. Man muss das Politikverständnis dieses großen Europäers nicht erst hinterfragen, um die elende Praxis, dem Hühnervolk draußen jedes Erbsenzähler-Produkt als eine Frage von Krieg und Frieden zu verkaufen, gleichgültig, wie weit es an allen Realitäten vorbeisegelt, als das zu begreifen, was sie ist – ein Spiel mit dem Feuer, allerdings einem längst erloschenen, denn was wie Qualm aussieht, ist nichts weiter als aufgewirbelte Asche. Asche woraus? Die Asche Europas, so nimmt sie sich aus, wenn sein ›dienstältester Außenminister‹ spricht – einer, der den Abgang so oft verpasst hat, dass er sich nicht länger daran erinnert, in wessen Namen er spricht und in welcher Sache. In welcher Sache? Die Formel ist die Sache, die Floskel der Kompost, auf dem sie gezogen wird, das kann nicht anders sein, wenn Beschlusslage und Sachlage die Plätze tauschen, weil sie sich nichts weiter zu sagen haben.

13.

Die SPD hat den Anschluss verpasst und versichert jedem, der es nicht hören will, Bahnverkehr sei unter ihrem Niveau. Derweil rasen andere im Taxi zum Ziel, denn sie haben eines. Wie konnte das geschehen? Ach kommen Sie, alle wissen es, die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Sozialdemokrat ist, wer die ihm genehmen Linien der Gegenwart bis zum Horizont auszieht und erwartet, sie würden dort pünktlich zusammentreffen. Das geschieht praktisch nie, aber es wärmt die Herzen und spendet, was die Partei dort kritisiert, wo es ihr nicht in den Kram passt: Identität. Fällt auseinander, was, ihrer Auffassung nach, besser zusammenfiele, so schraubt sie ihr Niveau auf schwindelerregende Höhen; Realist ist, wer sich unter Niveau begibt. Worin besteht dieses berühmte Niveau? Man will sich nicht lumpen lassen – auf keiner Seite, von keiner Seite, man will, was einmal in Gremien beschlossen oder ›angedacht‹ wurde, um keinen Preis aufgeben; man ist Agenda-Sozialist, solange der Sozialismus auf der Agenda steht, steht er dort nicht mehr, so trägt man ihn auf der Brust – will sagen, man brüstet sich mit etwas, das im Alltag keine Rolle spielt –; man ist Agenda-Europäer, solange Europa auf der Agenda steht, steht es vor der Tür, flüchtet man, die Agenda im Henkeltäschchen, auf Paradiesbäume, von denen goldene Äpfelein blinken; man ist Agenda-Partner der ewigen Kanzlerin – stellt sich die Machtfrage, so stellt man sie ins Regal und sorgt dafür, dass sie nicht herausfällt. So funktioniert das Spiel, funktioniert es nicht, dann steht man für Werte.

14.

Ein Haus, in dem niemand Verantwortung übernimmt – wobei kein anderer Grund als der lächerlichste von allen genannt wird: das Geschehene sei nun einmal geschehen und damit unabänderlich –, ein solches Haus ist niemandes Haus. Das Niemandsgemäuer verwandelt seine Bewohner in Käfer, Schaben, Asseln, Fledermäuse, Iltisse und dergleichen, soll heißen in eine Zufallspopulation, die nichts von einem Haus weiß – geschweige denn von den Mitteln, es zu erhalten. Das geht eine Weile gut, es geht eine Zeitlang irgendwie, irgendwann geht es nicht mehr, dann geht, wer kann, seiner Wege. Die Zauberformel heißt brain drain, sie schmeckt nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach Wettbewerb und Chancenerhöhung. Besser würde sie schmecken, klebte nicht der fade Beigeschmack versagter Existenzen daran: Geh doch weg, wenn es dir hier nicht passt. Schließlich kommen viele, denen es andernorts nicht gepasst hat. Der Wanderungssaldo ist positiv, also: Was solls? Politiker, die Wählern die Auswanderung empfehlen, weil sie Gefahr für das Land aufziehen sehen, eine Kanzlerin, die, ohne einen allgemeinen Aufschrei zu fürchten, verkünden kann, dass dies dann nicht mehr ihr Land wäre, sollten die Lemminge aus irgendeinem Grund Bedenken gegen ihr Handeln anmelden – als Leser verstünde man gut, was der Satiriker damit sagen wollte. In der Realität verrätselt sich ihre Existenz bis zum Unauflöslichen: Was hält sie an der Macht? Welche unbekannte Macht mischt im Hintergrund mit, wenn Politik im Wesentlichen, der Sorge ums Ganze, die den Einzelnen mitnimmt, in Deckung geht?

15.

Unter denen, die es angeht, klingt die Parole anders: Wer schlau, nein, wer klug ist, nein, wer es sich leisten kann, geht weg. Wer nicht schlau, geschweige denn klug ist, geschweige denn es sich leisten kann, wohin wandert der? Ins Abseits. Darin liegt der politische Sinn der hochmütigen Formel von den ›Abgehängten‹, denen sich eine verantwortungslose Politik nicht mehr verpflichtet weiß. Aus unterschiedlichsten Gründen können – oder wollen – die damit Bezeichneten nicht gehen, obwohl das Haus, ihr Gemeinwesen, für sie nicht länger die Funktion des Hauses erfüllt. Was es ihnen bietet, kann, verglichen mit dem, was sie andernorts erwarten würde, immer noch viel sein. Aber zwischen dem erwarteten Zuhause und dem übriggebliebenen Grundversorger klafft eine Lücke. Sie erzeugt jenen tiefliegenden Groll, der größeren politischen Beben vorauszugehen pflegt. Das gilt, wie es in manchen Gehirnen langsam dämmert, nicht nur für Personen, »die schon länger hier leben«, es gilt ebenso für die frisch oder noch nicht so lange ›hier‹ Lebenden. Sie, die mit unerfüllten, vielleicht unerfüllbaren Versprechen geködert wurden, reagieren nicht weniger empfindlich auf die Versagungen und Versager des politischen Systems. In Wahrheit sind sie empfindlicher, ihre ›Frustration‹, besser gesagt, ihr Groll geht tiefer, denn zwischen ihrer Lebenswelt und wirklicher Teilhabe staut sich mehr und Grundsätzlicheres, als eine oberflächlich geführte Wertediskussion ahnen lässt. Er wird sich, schon aus demographischen Gründen, Bahn brechen, soviel ist gewiss. Der fürs erste in die Bresche springende Islamismus kann die entstandene Lücke nicht füllen. Er vertieft die Gräben, er ist nicht die Explosion, seine Gegenwart macht sie wahrscheinlicher.

16.

Die Gestaltbarkeit der Welt erproben – ein legitimes Motiv für junge Menschen, welche die Welt, wie sie existiert, für einen Tummelplatz finsterer Vorurteile halten, zu Recht… Darf ein Mensch vorgerückten Alters, wissend um die in Gesellschaften schlummernden Explosivkräfte, ein gewisses Sensorium für die Grenzen seiner Gestaltungskraft vorausgesetzt, eine Lawine lostreten, von der er weiß, dass niemand, er nicht und seine Nachfolger nicht, sie bei Bedarf wird stoppen können? Gute Frage, nächste Frage. Unter allen Zweigen der Sozialwissenschaften ist Demographie vielleicht der seltsamste. Nirgends entfernt die Wissenschaft von der Gesellschaft sich weiter vom Augenschein und den Handlungsoptionen, die er den Mitmenschen eingibt. Die Demographie korrigiert rigoros die spontane Wahrnehmung der sozialen Welt, sie enthüllt die Naivität aller, die Sicht auf die Dinge, die sie gewährt, zählt zu den elementaren Kränkungen des natürlichen Menschen durch Wissenschaft. Wer ihre Ergebnisse ignoriert, handelt ignorant, wer sie, zum Beispiel aus Wertestolz, willkürlich fehlinterpretiert, dem entgleiten unbemerkt die Mittel, Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen zu korrigieren, vorausgesetzt, seinesgleichen ist noch am Ruder, wenn erst die Alarmglocken schrillen. Bevölkerungswandel vollzieht sich subkutan. Der Mensch besitzt kein Wahrnehmungsorgan dafür, was nicht bedeutet, dass er nichts merkt. Das Alltagsurteil der Leute, die der Wandel angeht, weil er in ihren Lebensstil eingreift, die vielleicht etwas wittern und glauben, es gehe sie an, gerät rasch auf den Holzweg. Man könnte Wetten darauf abschließen, wie weit es danebengeht. Wer glaubt, er besitze die Macht dazu, kann den inneren Zensor aufrufen und es ächten. Nur eines kann niemand: es abstellen.

17.

Betroffenheit ist keine Politik. Worin also besteht eine Politik, der nichts Besseres einfällt, als das große Publikum mit jenem unsäglichen Gezerre um Obergrenzen für als Flüchtlinge drapierte Zuwanderer (und als Zuwanderer drapierte Flüchtlinge) an der Nase herumzuführen, während sie im Nebel des Machbaren stochert, als befinde sie sich dauerhaft auf Schatzsuche? Offenkundig darin, Zündstoff zu häufen und darauf zu vertrauen, dass der Zünder verlegt bleibt, solange man »Haltet den Dieb!« schreit und dabei auf die antidemokratischen Kräfte im Lande zeigt, denen es dringend Paroli zu bieten gelte. Die Wiederbelebung des inneren und äußeren Feindes in Not- und Krisenzeiten beeindruckt immer aufs Neue, vor allem dann, wenn am Feind vorbei, gegen den das Land, zusammen mit seinen Verbündeten, ideologisch und militärisch einen wirklichen Krieg führt, auf Leute gezeigt wird, welche die Ungehörigkeit begehen, Gefahren für das Gemeinwesen anzusprechen, von denen man öffentlich lieber nicht reden möchte, obwohl sie – ergebnisoffen – seit Jahr und Tag das eigene Denken beherrschen. Der Terminus dafür lautet ›Tabupolitik‹. Sie beschädigt die Steuerungsfähigkeit des Gemeinwesens und führt früher oder später in den Exzess, der eintritt, sobald nicht steuerbare Prozesse die Entwicklung des Landes dominieren.

18.

»Warum?« stand ein Jahr lang auf einem Pappschild zum Gedenken an die Toten und Verletzten des Anschlags am Breitscheidplatz, das es zu deutschland-, vielleicht weltweiter Beachtung brachte. Was immer der oder die Schreiber sich dabei gedacht haben mögen – die Frage hat sich verselbständigt, sie wurde zum Stand- und Elendszeichen des fehlenden Willens zur Aufarbeitung, des fehlenden Willens, Fehler, Versagen, Schuld einzugestehen oder ansatzweise Verantwortung dafür zu übernehmen, überdies des fehlenden Willens zur Remedur. Man kann den Angehörigen der Opfer ebenso wenig Vorwürfe machen wie denen, die sich als Privatleute mit ihnen öffentlich solidarisieren. Das antwortfreie ›Warum?‹ als Dummheits- und Verdummungszeichen der Politik zu verantworten haben andere. Wofür es steht? Für Infantilisierung und Verrohung der Diskurse, für Realitätsflucht, Propagandagetöse und Ratlosigkeit in den Kreisen der ›Entscheider‹.

19.

Aufklärung und Aufarbeitung sind nicht dasselbe. Ebensowenig sind polizeiliche und mediale Aufklärung identisch, geschweige denn juristische und politische Aufarbeitung. Aufklärung und Aufarbeitung auf die Arbeit von Polizei und Justiz zu begrenzen, während die Politik mit verschränkten Armen dabeisteht und versichert, alles Notwendige werde getan und die Leute sollten sich nicht beunruhigen, heißt Hustensaft gegen die Folgen eines Erdbebens zu verordnen oder, um im Bild der ›mündigen‹ Gesellschaft zu bleiben, die Lippen zu spitzen, um nicht pfeifen zu müssen, während alle Welt auf den Pfiff wartet und den Ohren nicht traut, weil nichts zu hören ist. Eine Führungsriege, die im Modus des Das-darf-doch-nicht-wahr-Seins wahrgenommen wird und munter weiterregiert, kann Wahlen verlieren, ohne dass es ihr auffällt, sie hat damit keine logischen Schwierigkeiten, sachhaltige ohnehin nicht. Im Zweifelsfall verkauft sie das Nichtregieren als Regieren, das Feilschen darum, wie gerade noch so regiert werden könnte, während die Grundparameter festliegen und öffentlich nicht thematisiert werden, als demokratischen Prozess, und den Aufschub im Hinblick auf die Lösung der Probleme erster Ordnung als Zukunftsgestaltung.

20.

Sichtbar wurde in diesem Jahr hinter alledem der unbedingte Wille zum Weiter so, dessen Ursprung im Kanzleramt sitzt und sich keines Fehlers bewusst ist. Welchen Fehlers? Wenn kluge Leute, so der zum Außenseiter gestempelte österreichische Ökonom Franz Hörmann, seit Jahr und Tag, ohne ernsthafter Gegenrede gewürdigt zu werden, die durch den Fall des Bankhauses Lehman Brothers ausgelöste Bankenkrise von 2008 als Krise des Geldsystems verstehen, die durch einfache Buchungsvorgänge hätte beigelegt werden können, und damit theoretisch unterfüttern, was ohnehin als Gemeinplatz kursiert: dass die sogenannte Bankenrettung vor allem als gigantischer Fischzug des Bankensektors und seiner Eigner zum Schaden der Steuerzahler (und mündigen Bürger) gelten darf, mit den bekannten Folgen überbordender Staatsverschuldung, daraus resultierender Euro- und Griechenland-Krise inklusive staatlicher Insolvenzverschleppung und im Weltmaßstab ruinierter Arbeitsmärkte, in Deutschland der Verzwergung einer erst wenige Jahre zuvor zur Notwendigkeit erhobenen privaten Altersvorsorge und anderer Petitessen durch die hybride Notstands-Geldpolitik der zum Allzweck-Retter in Permanenz erhobenen EZB – dann stellt sich zwangsläufig die Frage, was in den seither vergangenen Jahren kein Fehler, keine Fehlerfolge und kein Fehlerberichtigungsfehler gewesen ist.

21.

Vom doppelten Urknall des 21. Jahrhunderts, dem islamistischen Angriff auf die Twin Towers in New York und dem Konkurs von Lehman Brothers, hat nur der erste es zur ikonisierten Dauerpräsenz gebracht. Der zweite schwelt in der Erinnerung als historische Singularität, von welcher der Blick der Öffentlichkeit sich schaudernd abwendet. Dabei ließe sich aus seiner ökonomisch-politischen ›Bewältigung‹ fast alles lernen, was seither die Parameter der Politik und ihrer gelebten Auswirkungen bestimmt. Einiges davon erfährt, wer den Auslassungen des politischen Irrlichts Varoufakis lauscht, dessen Horizont seltsamerweise auf Europa und dessen Problemlagen beschränkt bleibt, während die Konflikte des Nahen Ostens, Afrikas, des postsowjetischen Raumes unverzichtbare Zubringerdienste leisten. Mit erbaulichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, mit schimärischen Begründungen für tertiäre Folgeeignisse wie die Massenflucht aus mit Fleiß zerrütteten Ländern und Wertedeklamationen, die sich von früheren vor allem durch ihre Substanzlosigkeit unterscheiden, wird seither durchregiert, werden Parlamente schleichend entmachtet, Parteien bis zur Unkenntlichkeit entsubstanziiert, Staaten aus der EU, dem geknickten Hoffnungsträger der Kapitaleigner und ihrer prophetischen Schar, vertrieben oder an den Rand gedrückt, Bevölkerungen in genehme und nicht genehme Anteile zerlegt, Intellektuelle nach Belieben kreiert oder mundtot gemacht, demographische Realitäten geschaffen und geleugnet – wie es euch beliebt.

22.

Dick und rot führt die Linie, die sich von jenen Auslöse-Ereignissen des 21. Jahrhunderts zum Breitscheidplatz zieht, mitten durch die deutsche Politik der letzten zwölf Jahre. Dem militanten Islam ist es gelungen, die Staaten des Westens an eine Kriegspolitik zu schmieden, deren Erfolg weiterhin in den Sternen steht, während sie längst als warnendes Beispiel für learning by defeat in die Geschichtsbücher einging. Die in Expertenzirkel verbannte ökonomische Dauerkrise hat Europa in Zwiespalt und partiellen Zerfall geführt, seine Politik zum Wurmfortsatz der Finanzwirtschaft und sein Grenzregiment zur Gelegenheitstrickserei verkümmern lassen, die Machtbalance in den Staaten zugunsten internationaler Akteure verschoben, darunter Privatpersonen, die ihr eigenes geopolitisches Süppchen kochen, und, wie viele unterstellen, der Militarisierung der Politik Vorschub geleistet. Geld, Öl, Macht, Einfluss, Hegemoniestreben, staatlicher und ›religiöser‹ Terror bilden ein reales Beziehungsgeflecht, in dem alles auf alles abfärbt und die Färbung des jeweils anderen annimmt, je nach Bestellung.

23.

Die globale Finanzkrise mitsamt ihren europäischen Ablegern hat das System Merkel erzeugt und ihren sorgsam gepflegten Ruf als ›besonnene Macherin‹ begründet. Ein einfaches Pappschild am Breitscheidplatz hat ihn ihr am Ende mit derselben unaufdringlichen Selbstverständlichkeit wieder genommen. Das System lebte von der Auskunftsverweigerung über elementare Handlungsoptionen und ihrer Substitution durch Scheinoppositionen, deren einziger Inhalt darin bestand, Opposition zu diskreditieren. Dass es sich heute im freien Fall befindet, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass ihm der amerikanische Verbündete im Westen, die Visegrád-Staaten im Osten bereits den Kredit entzogen haben und einer hinreichenden Zahl von Deutschen dämmert, dass die verbliebenen Verbündeten in der EU die gemeinsame Zukunft hauptsächlich als Transferunion buchstabieren, während sie den deutschen Träumen von einer solidarischen Einwanderungspolitik und einem gemeinsamen Zukunftsstaat hartnäckig die kalte Schulter weisen.

24.

Die heutigen Europäer haben das Ur- und Vexierbild der Revolution aus ihrem politischen Besteck verbannt. Alles, was mit ihr zusammenhängt, ist ›Geschichte‹. Alles, was jetzt und in Zukunft geschieht, kommt ›danach‹. Dafür mag es Gründe geben, gute womöglich, aber das Denken in Post- und Post-Post-Begriffen beschert gelegentlich denen Vorteile, die noch in die Schule des alten Denkens zu gehen Gelegenheit hatten. In Osteuropa, unter Einschluss Russlands, scheint das offenkundig der Fall: Dass Putin dem Westen so erfolgreich die Spitze zu bieten gelingt, ist sicher auch jenem ›aus einem anderen Jahrhundert‹ stammenden Denken geschuldet, in dem er aufwuchs und in dem er trainiert wurde. Die einzige Revolution, an die man sich in Deutschland erinnert, als habe sie stattfinden müssen, um das historische Gemüt ein für allemal zu befrieden, ist die hartnäckig ›Wende‹ genannte ›friedliche Revolution‹ von 1989-1991, während die dritte russische Revolution, in die sie eingebettet war, als ›Auflösung der Sowjetunion‹ und des Warschauer Pakts mittlerweile einen eigentümlich passiven Beigeschmack besitzt, als habe ein bereits in die Systeme eingespeistes Verschwinden es sich zwischendurch anders überlegt und jenen Putin-Staat aus dem Hut gezaubert, der eigentlich schon Geschichte ist und sich bloß durch irgendein Versehen, zum Verdruss der Konkurrenten im Spiel der Mächte, weiterhin in der Gegenwart tummelt.

25.

Gleichgültig, ob man es vorzieht, die globale Finanz- oder die europäische Migrationskrise oder was auch immer als Auslöser zu begreifen: Wer nicht davon ausgeht, dass eine Revolution ›unterwegs‹ ist, dem entgeht womöglich manches von dem, was vorgeht, weil ihm der Schlüssel zum Handeln des einen oder anderen Mitakteurs fehlt. Die allgegenwärtige Werbesprache hat, wie alle Großbilder der Geschichte, sich auch dieses einverleibt und miniaturisiert: ihr zufolge ist Revolution alles, was den Umsatz anzukurbeln verspricht. Die erste Schwierigkeit, sich von dieser albernen Vorstellung zu befreien, liegt in der Erkenntnis, dass diese Revolution nicht ›vom Volk‹ ausgeht, sondern sich ihr ›Volk‹ dort zusammensucht, wo es im digitalen Zeitalter kommuniziert. Dazu gehört der Subsaharagürtel ebenso selbstverständlich wie der Länderbogen des arabischen Halbmonds. Es kommunizieren viele, sie kommunizieren nicht miteinander, sondern untereinander, die Kommunikation überspringt Distanzen, die gestern noch fast absolut trennten, sie reißt unüberwindlich scheinende Gräben auf, wo gestern der einfachste Weg von A nach B führte. Kommunikation ist nicht selbstgenügsam: die realen Bewegungen folgen ihr ›auf dem Fuß‹.

26.

›Einwanderung‹ ist ein Begriff aus einem anderen Jahrhundert, aus einer anderen Welt. Im Zeichen globaler Echtzeit-Kommunikation wird nicht gewandert, weder aus noch ein, weder im Singular noch im Plural, die Menschen verlassen nichts, es sei denn ihr Elend, sie finden nichts vor, es sei denn ein neues Elend, das sich eine Zeitlang prickelnd anfühlen mag, aber im Grunde bleibt es dasselbe. Wer heute migriert, trägt den Käfig seiner mentalen Ausstattung, großspurig ›Identität‹ genannt, mit sich herum. Ein schlichtes Mobiltelefon reicht in der Regel aus, um die einfachsten Anpassungsvorgänge im Aufnahmeland zu verpassen. Assimilation, sprich: Anpassung an die fremde Kultur ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit: So tönte der weise Führer seines Volkes, der findet, dass ihm ein Teil dieses Volkes in anderen Ländern praktischere Dienste leistet als innerhalb der eigenen Landesgrenzen. Die Anspielung enthält eine Drohung, die ihre Dienste stets zuverlässig verrichtet. Im wiedervereinigten Deutschland herrscht die fatale Tendenz, den Teppich, unter den man seine Probleme zu kehren pflegt, als Holocaust-Denkmal zu dekorieren. Das beleidigt die Opfer und beschämt den praktischen Verstand, der dringend benötigt würde. Integration ohne Anpassung, Integration, deren Scheitern vorprogrammiert ist, wirkt als Ferment radikaler Umgestaltung der Zielgesellschaften: ein revolutionäres Potential, das heben mag, wer will. Ein Narr, wer glaubt, er könne sich von der Gefahr loskaufen. Nicht die Kulturen der Länder, das ›Volk‹ der globalen Kommunikation ist divers. Das, worin es zusammenkommt, ist nicht seine Menschlichkeit, sondern gerade das, was es trennt.

27.

Es gibt keine Menschlichkeit, außer man praktiziert sie. – Die zweite Schwierigkeit entsteht aus dem Versagen ›der Klassiker‹ bei der Bestimmung des Richtungssinns. Eine Revolution ohne Richtungssinn ist ein Unding, ein ›hölzernes Eisen‹, oder wie die ererbten Floskeln heißen mögen. Andererseits ist der Richtungssinn einer Revolution kein anderer als der, den der Revolutionär ihnen gibt: Revolution entsteht im Kopf. Entsprechend ist sie für den wahren Revolutionär bereits im Gang: Er selbst erkennt die Zeichen, die sie ihm sendet. Daher gilt: Wer ihn verstehen will, muss sich auf diese Zeichen verstehen. Eine Revolution der Menschlichkeit, ausgelöst durch zwei dürre Paragraphen der UNO und ein paar ebenso dürre Formulierungen im geltenden EU-Recht, entbehrt per se eines Ziels, auf das sich alle einigen könnten. Sie selbst ist das Ziel. Versagte Einmütigkeit wiederum ist eine Grundbedingung des ›revolutionären Kampfes‹ – das gilt auch dann, wenn das Wort durchgestrichen und das Ziel aus vielerlei Gründen blockiert ist.

28.

Weltfremd sind solche Gedanken - weltfremd und unberechenbar. Dem Krypto-Hegelianismus sind die Zügel des Weltgeschehens entglitten, die verbliebenen Marxisten reiten ihr ideologisches Steckenpferd, ohne von der Stelle zu kommen. Die vergangenheitsbereinigte Revolution hat mit dem sozialistischen Stadium auch dessen Projektion, den Kommunismus, hinter sich. Sie geht mit keinem Weltbeglückungsprogramm schwanger. Eher treibt sie ihren Spott damit: Die verlässlichsten Projektionen lösen sich auf und treiben als Vexierbilder in den Wogen, die das Leben bedeuten, die Strafinstanz für zu spät Gekommene, aber auch darin kann man sich täuschen. Als globaler Pausenfüller auf mittlere Sicht wirkt die Vision des siegreichen Panislamismus, die ›Revolution der Bäuche‹, des einen Traum, des anderen Albtraum, eine weitere ›Zukunft aus Vergangenheit‹ in der Geschichte der menschlichen Vorstöße auf das Terrain jenes Unbekannten, das besser unbekannt bliebe, aber gerade dieser Wunsch bleibt in der Regel versagt. Ist Deutschland seit Jahrhunderten das Schlachtfeld der Ideologien, so ist Europa mindestens ebenso lange der Kontinent der Aufbrüche ins Irgend- und Nirgendwo – die Tatsache, dass er bereits einmal von außen gerettet werden musste, scheint an dieser Disposition nichts geändert zu haben. Europa, wie es sich in Berlin und Brüssel die Klinke in die Hand gibt, zeigt sich offen um jeden Preis – auch den der Selbstpreisgabe. Der Islam jedenfalls ist ›im Kommen begriffen‹, gleichgültig, ob er kommt oder nicht. Eine Weltgesellschaft kommt so nicht.

29.

Butter bei die Fische: Mir scheint, Putins beinahe heitere Gelassenheit findet in solchen Überlegungen ihren Grund. Er wäre der erste ›Revolutionsführer‹ der postsowjetischen Ära, einer, der sich ›auf Revolution‹ versteht, ohne in Sowjet-Nostalgie zu verfallen oder dem westlichen Modell beizudrehen: Was wie ein System persönlicher Machtakkumulation aussieht (und zu großen Teilen auch sein dürfte), wäre dem Entschluss verdankt, die globalen Verhältnisse als Ausdruck einer Umwälzung zu begreifen, die sämtliche Macht- und Lebensverhältnisse des Planeten erfasst hat, und à la Lenin in ihr zu ›navigieren‹, das heißt, vorhandene Konfliktlagen ›skrupellos‹ auszubeuten, ohne, wie Gorbatschow oder Jelzin, der Vision eines sicheren Hafens oder auch nur einer erreichbaren Küste zu erliegen. Kein Wunder also, wenn das auf globale Bestandssicherung und -erweiterung angelegte System Obama/Clinton mit ihm nichts anfangen konnte. Kein Wunder auch, wenn zwischen ihm und Trump das tiefe Einverständnis zweier Konkurrenten erkennbar wird, von denen jeder dem anderen zubilligt, dass auch er etwas von der Sache versteht. Von welcher Sache? Der Sache der Revolution, die, gleichgültig, wie sie ausgehen wird, für den einen eine russische, für den anderen eine amerikanische sein muss – die Asiaten und Europäer mögen sehen, wo sie bleiben und wie sie sich stellen. Das ist weder Ziel noch Fata Morgana, das ist Realität.

30.

Auch Angela Merkel hat eine Revolution hinter sich. Sie hat erlebt, wie alle Türen aufsprangen und sie sich im Märchen wiederfand. Es spricht für sie, dass sie teilen kann. Was ihr widerfuhr, das soll, aus echt christlichem Geist heraus, allen widerfahren, die guten Willens sind und den Aufbruch wagen. Die Orangenrevolutionen, die Ereignisse auf dem Maidan und an den Brennpunkten des arabischen Frühlings, der syrische Bürgerkrieg, die sich zum ›Strom‹ verstetigende ›Flüchtlingswelle‹ des Nahen Ostens und Afrikas: Nach dieser Lesart folgen sie alle dem Drehbuch der ›Öffnung‹. Das verlangt den ›Aufnahmeländern›, allen voran dem von der Geschichte verworfenen und zum Eckstein des Westens gewordenen wiedervereinigten Deutschland, die Paraderolle der offenen Gesellschaft ab, in der es keine ›Obergrenze‹ der Aufnahmebereitschaft, des Willens zur Aufnahme, geben darf, da sie sonst ihre ›Werte‹ verrieten. Apropos offene Gesellschaft: der passend zum Propagandazweck gewendete Begriff meint bei Popper keine offenen Grenzen, sondern den offenen Lernprozess einer Gesellschaft, die sich keine fixen Staats- und Gesellschaftsmodelle vorschreiben lässt, stattdessen dem social engineering vertraut, dem Prozessmodell von Versuch und Irrtum, von learning by doing oder wie die einschlägigen Formeln lauten. Dem schlichten Modell der Mimesis, der geschichtsblinden Wiederholung einer Urszene, und sei es nur in der Beurteilung von ›Lagen‹, fällt darin, wenn überhaupt, nur ein bescheidener Platz zu.

31.

Vordergründig betrachtet ist das revolutionäre Potential der Merkel-Gesellschaft gering. Andererseits erscheint es, sieht man auf die sich bereits abzeichnenden Verwerfungen, gewaltig. Entsprechend tief gehen die Differenzen bereits auf der Wahrnehmungsebene. Demographische Verschiebungen vollziehen sich, wie gesagt, schleichend, das Erleben bleibt dahinter zurück, es sei denn, eine einschneidende Episode wie der Flüchtlingsansturm 2015 fungiert vorübergehend als Augenöffner. Mehr als ein Blinzeln kommt auch dann nicht zustande. Eine Geburtenrate von 1,2 bedeutet, dass die Kernbevölkerung in einer Generation um mehr als ein Drittel schrumpft. Die erste, westdeutsch geprägte Generation, der das widerfuhr, brachte nicht mehr zustande als wütende Abrede des Unumstößlichen, seltsam konterkariert durch eine hastig zurechtgeschusterte Rentenreform mit dem unausgesprochenen, vielleicht unbewussten, für die Nachgewachsenen umso klarer erkennbaren Ziel, das eigene Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die zweite, nunmehr gesamtdeutsch geprägte Generation scheint zu glauben, man brauche nur die Tür für Einwanderer ein wenig weiter öffnen und alles könne so bleiben, wie es ist. Keine Dummheit brächte zuwege, was der Bereitschaft der Menschen, von etwas anderem zu reden, sobald es ernst wird, ohne Mühe gelingt. Mechanische Politik mit dem Rücken zur demographischen Wand bedeutet, mit den Illusionen der Menschen Va banque zu spielen: »Wir schaffen das.«

32.

EU-Europa hat das amerikanische Aufbruchspathos verpasst, weil es, verführt durch die Scheinsicherheiten der Bush-Obama-Ära, in Donald Trump bloß den Störfaktor wahrnehmen konnte, der sich, wie man eine Spur zu lange glaubte, durch ein paar Manipulationen seitens der liberalen Elite leicht beseitigen lasse. Inzwischen wachsen die Divergenzen zwischen den ›führenden Ländern‹ des Westens. Amerika scheint nicht länger gewillt zu sein, über seine Verhältnisse zu leben, um dem Traum einer unerreichbaren Ökumene des Kapitals nachzujagen, die grosso modo nach amerikanischen Regeln funktioniert, nachdem die militärische Machtprojektion an unerwarteter Stelle Risse bekam. Daran wird sich auch nach Trump wenig ändern. Leider, so muss man es wohl sagen, haben einige EU-Staaten, darunter Deutschland, zu gut von einem Weltzustand gelebt, den ein paar Amerikaner zuviel als Ausverkauf erlebten, während Skeptiker diesseits und jenseits des Atlantik seit Jahr und Tag das Ende des Dollar-Imperiums an die Wand malen, um es jetzt gut finden zu können, dass ihr Welt-Garant womöglich endlich seine ungelösten Probleme angeht, die sie irgendwann selbst in den Abgrund reißen könnten. Wie immer am Ende einer Ära steht der Status quo dumm da, was seine Faszination für die Dummen steigert.

33.

Die neue Völkerwanderung, wie sie irreführend genannt wird, scheint einem Dreiphasenmodell zu folgen: von der pragmatisch-rechtlichen Öffnung der Aufnehmerstaaten über eine flächendeckend verhängte Aufnahme-Euphorie hin zum hartnäckig betriebenen Grabenkampf um Meinungsführerschaft ringender Weltanschauungs-Gegner, die wenig Skrupel besitzen, über der Frage der Zuwanderung sich in wirkliche Feindschaft zu steigern und der ebenso verunsicherten wie gespaltenen Bevölkerung das Selbstbild einer zerrissenen Nation aufzunötigen, auf deren Bühne am sichersten agiert, wer den rechtlichen Status quo am energischsten beiseitesetzt. Mit der einsamen Entscheidung, die deutschen Grenzen bedingungslos offen zu halten und damit EU-Europa in eine Aufnahmeschleife ohne Ende zu nötigen, hat sich Merkel an die Spitze aller Kräfte gesetzt, die dieses Land verändern wollen, koste es, was es wolle – nicht zum ersten Mal, stellt man den Sonderweg der ›Energiewende‹ und seine projektierten volkswirtschaftlichen Folgen in Rechnung. Die Ohnmachtsformel der Reaktion, durch die Entscheidung, Millionen Flüchtlinge ›über Nacht‹ aufzunehmen, sei dieses Land ohne Mandat ›unwiderruflich verändert‹ worden, deutet es wie nebenher an: Am Ausgang des offenen Kräftemessens wird definitiv ein anderes Deutschland und selbstredend ein anderes Europa stehen. Manches an ihnen wird an vergangene Zeiten erinnern, doch nur, um den eingetretenen welthistorischen Umbruch im Bewusstsein anzuzeigen – ›welthistorisch‹ deswegen, weil weder die deutsche noch die europäische Perspektive ausreichen werden, um zu erfassen, was hier geschah.

34.

Zurück in den Spätsommer 2015. Was damals wie grenzenloser Opportunismus daherkam, gekleidet in die berühmt gewordene, harmlos-hintergründige Aufforderung an die Administration, im Grenzbereich alles zu unterlassen, was ›hässliche‹ Bilder provozieren könnte, hat den politischen Gegner verwirrt und – im Wortsinn – entzaubert: es gab, von diesem Augenblick an, keine Parteien mehr, jedenfalls nicht im Parlament, in dem sich die legitimen Kräfte des Landes verschanzten, um den sprunghaft wachsenden Unmut in der Bevölkerung abzuschmettern und seine politischen Wortführer zu desavouieren. Plötzlich stand das Land links – gerechtigkeitshalber wäre hinzuzufügen: um den Preis genuin linker Inhalte, aber das versteht sich praktisch von selbst und lädiert vermutlich nur das Ansehen der Sozialdemokratie, die es allen Seiten recht machen wollte und jetzt einsehen muss, dass sie buchstäblich für nichts mehr steht, gleichgültig, an welchen Stellschrauben der Sozialpolitik sie gerade zu drehen beabsichtigt. Schwerer wog – und wiegt – die Ausgrenzung weiter Bevölkerungskreise, die sich außerstande zeigten, den Schwenk mental zu verkraften, geschweige denn nachzuvollziehen, aus dem demokratischen Meinungsspektrum: zu keinem anderen anderen Zweck als dem, den Rest – die Mehrheitsgesellschaft – einigermaßen bei der Stange zu halten. Das mag erbärmlich klingen, aber es entspricht der Logik des Kampfes, in dem nicht das Argument zählt, sondern die Geschlossenheit der eigenen Truppe. Meinungsführerschaft in der Krisis ist kein Besitz, sondern eine scharfe Klinge.

35.

Praktisch wendet das Trommelfeuer der deutschen Leitmedien gegen Trump jeden Vorwurf, der sich gegen die Noch-Regierung und ihre kraftlosen Helfer erheben ließe, gegen den US-amerikanischen Popanz: die autokratische Selbstherrlichkeit, mit der weitreichende Entscheidungen zur Umgestaltung des Landes ohne erkennbares Mandat der Bevölkerung gefällt werden, die Verletzung internationaler Abkommen (Dublin), die Außerkraftsetzung elementarer Gepflogenheiten des demokratischen Umgangs, die Einschüchterung Andersdenkender, die Logik der Ausnahme, eine hyperpolemische Wortpolitik, die Differenzen nach Bedarf einebnet und erzeugt (›Flüchtlinge‹, ›Fake news‹, ›postfaktisch‹, ›rechtsextrem, nicht -radikal‹ oder umgekehrt usw.), schließlich der schlimmste: Identitätspolitik, das heißt Vorzugs-, respektive Minderbehandlung einzelner Bevölkerungsgruppen – schwer nachzuweisen, aber als gefühlte Ungerechtigkeit in Krisenzeiten stets virulent. Selbst die schrill beschworenen, wenngleich wahlrechtlich irrelevanten Stimmen, die dem amerikanischen Präsidenten zur nominellen Stimmenmehrheit im Lande fehlten, kehren nach der letzten Bundestagswahl als Bumerang ins heimische Geschwätz zurück. Die schlecht versteckte Wahrheit nach der Wahl lautet: Es reicht für keine sinnvolle Kombination der eingesessenen (!) Parteien mehr zum Regieren. Die Große Koalition wäre im Augenblick, bezogen auf die im Wahlergebnis sichtbar gewordene Logik der Abwahl, eine Koalition ohne Wählerrückhalt, auch wenn es im Parlament noch einmal zur Mehrheit reicht.

36.

Beiseite gesprochen: Der so altgediente wie unversöhnliche Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik taugt nicht wirklich dazu, die scheinbar selbstlose Werte-Orientierung der deutschen Flüchtlingspolitik zu analysieren. Das beginnt schon beim Wort: Wer den Begriff des ›Flüchtlings‹ systematisch so verbiegt, dass er in der Sache nicht weniger leistet als die Verschleierung einer illegalen, aber geduldeten und unter der Hand massiv geförderten Einwanderungspraxis, handelt nicht ›ethisch‹, er handelt auch nicht einfach ›verantwortungslos‹, sondern verfolgt Ziele. Eine politische Beurteilung muss sich mit den Zielen beschäftigen, sodann mit den eingesetzten Mitteln, alles hübsch der Reihe nach. Die Nation saß vor den Bildschirmen, als eine aufgekratzte Kanzlerin eine pauschal als Bürgerkriegsflüchtlinge syrischer Herkunft apostrophierte Million Schutzsuchender ans mitfühlende Europäerherz legte – als was? Als die ›neuen Deutschen‹ und künftigen Sanierer des Rentensystems. Empfängt man so der Hölle entronnene, von schrecklichen Erlebnissen traumatisierte, vom jähen Heimatverlust gezeichnete Asylbewerber? Sicher nicht. Es sei denn, man verfolgt Pläne mit ihnen, die ungeniert über ihre Eigeninteressen hinweggehen und künftige Lebensentscheidungen vorwegnehmen, als habe man seine Klientel bereits im Sack. Der neue Gastarbeiterschub sollte, des untragbar gewordenen, konzeptionell überholten ›Gast‹-Status entkleidet, von Anfang an richtig ›integriert‹ werden – dafür gibt es schließlich Konzepte, die der Anwendung harren. Wo hier die Gesinnung endet und die Verantwortung für irgendetwas beginnt oder umgekehrt, wo überhaupt ein Ende und ein Anfang zu suchen wäre, das wissen wohl nur die heidnischsten aller Götter.

37.

Ein kleiner Unterschied zeigt sich schon, je nachdem, ob eine Regierung Haushalts- oder Bevölkerungssanierung betreibt. Dabei kann das eine leicht in das andere übergehen, wie das griechische Beispiel auf recht kostspielige Weise demonstriert. Je weniger ein Eurosanierer von Griechenland, seinen Bewohnern, seiner Kultur, seinen informellen Gepflogenheiten versteht, desto handlicher erscheint ihm die Aufgabe, vor allem dann, wenn das zugeschossene Geld nicht aus der eigenen Tasche stammt, sondern vom anonymen Kollektiv der Steuerzahler erwirtschaftet wurde. Da trifft es sich gut, direkt vom realsozialistischen Wissenschaftsbetrieb weg in die hohe Politik hinübergewechselt zu sein, gut genug offenbar, um es allen und jedem recht zu machen, der Einzelne mag aus der Sache herauskommen, wie er will. Wobei die Bevölkerungssanierung den Vorteil besitzt, dass eine Regierung nach eigenem Gutdünken bestimmen kann, was daran zählt und was nicht, ob Folgekosten nicht doch ›gut und gerne‹ als Folgegewinne verbucht werden können und ähnliches mehr. Integration zum Beispiel ist alles, was sich statistisch nicht erfassen lässt, also praktisch all das, was den Staat, streng genommen, nicht tangiert, darüber hinaus alles, was ihn tangiert, sei es als erbrachte, sei es als zu erbringende, sei es als geplante, sei es als vom Staat geforderte Leistung; hingegen liegt die Antwort auf die Frage, ob im Einzelfall gelungene Integration vorliegt, stets im Auge des Betrachters – wer kritisch darüber denkt, kritisiert indirekt die Regierung und entbehrt damit der ›erforderlichen‹ Objektivität. ›Gut integriert‹ ist ein Euphemismus, den jeder halbwegs narrativ verwertbare Herzinfarkt der Substanzlosigkeit überführen kann, in Wahrheit eine Beleidigung für einen erwachsenen Menschen, der, Herkunft hin oder her, begriffen hat, worauf es im Leben ankommt und was ihn von Seiten der Gesellschaft erwartet. Schlecht integriert ist, wer auffällt, negativ selbstverständlich, alles andere fiele unter das Stichwort ›Bereicherung‹. ›Auffällig werden‹ ist ein Euphemismus für ›straffällig werden‹, folglich ist, staatlicher Logik folgend, schlecht integriert, wer straffällig wird und im Prinzip abgeschoben werden darf. So macht Regieren Spaß.

38.

Die demokratische Kultur verlottert bei vollen Auftragsbüchern. Das ist insofern bemerkenswert, als zum Narrativ der alten Bundesrepublik die Behauptung gehörte, die Demokratie sei sicher, ›solange die Wirtschaft brummt‹. Inzwischen hat letztere eine Kammhöhe erreicht, auf der selbst Angehörige der Mehrheitsgesellschaft es nur unter steigenden Kosten schaffen, sich zu ›integrieren‹. Woher soll jemand, dem es bereits schwerfällt, sich vergleichsweise unauffällig in einem ›Kreativität‹ abschöpfenden, also kräftezehrenden Umfeld zu bewegen, die Energie und vor allem die innere Unabhängigkeit nehmen, sich politisch zu exponieren? Auch ohne Nachwuchs, also die dringend erwünschte kommende Generation, gleicht das für viele, die den Kopf und das Temperament dazu besäßen, der Quadratur des Kreises. Entsprechend auffällig präsentieren sich die Exponate des Politikbetriebs. Dabei stecken sie bis über den Hals in dem gleichen Dilemma. Wo Konformismus das Fortkommen sichert und, wer auffällt, mit Abschiebung rechnen muss, unterbleibt vieles, was als freie Meinungsäußerung unter die Grundrechte fällt, nur eben unsanft. Kein Wunder, dass in Zeiten propagandistischer Zuspitzung das Denunziantentum blüht. Alles andere wäre auffällig und daher unerwünscht. Es soll mittlerweile Professoren geben, die ihren Kollegen beim Dekan auf den unbestimmten Verdacht hin anzeigen, er habe sich mit (oder bei?) einem öffentlichen Auftritt politisch fahrlässig ›exponiert‹. Das geht einfacher als bei der Polizei, die nach dem Delikt fragen könnte, so wie alle geförderte Angstbeißerei schnurstracks in die Abgründe der Gesinnungstyrannei und der ihr auf dem Fuß folgenden Freiheit von aller Meinung mündet, es sei denn der herrschenden.

39.

Eine ›Ethik‹, die den Menschen weiszumachen versucht, das Elend der Welt könne gelindert werden, wenn ein einzelner Staat oder ein Halbkontinent seine Grenzen öffnet, um eine winzige, aber bereits in die Millionen gehende Zufallszahl und -auswahl von Migranten aufzunehmen, von denen nichts weiter bekannt ist, als dass sie etwas riskiert haben – Leib, Leben, Gesundheit, Geld, das Leben und, warum nicht, die Gesundheit ihrer Kinder, mag für die Kanzel taugen, in der Praxis erregt sie den Verdacht trügerischer Apologetik und wirft die Frage nach den Interessen abseits des unmittelbaren Lebensinteresses der Zuwanderer auf, die damit bedient werden. Zweifellos handelt es sich dabei, soweit keine plausiblen Asyl- oder Fluchtgründe vorliegen, um illegale, aber gestattete Einwanderung. Wer so redet – und man muss so denken, will man sich klar machen, was geschieht –, läuft bereits Gefahr, ›verortet‹ und mit einem Kollektivbann belegt zu werden. Dieses factum brutum der öffentlichen Meinungshatz lässt sich in zwei Richtungen lesen: als Ausfluss eines gewissen ›Klimas‹ und als ›Klimakiller‹, das Wort als gesellschaftsatmosphärische Metapher genommen. Wie jede Praxis der Einschüchterung dient auch diese vornehmlich der Kontrolle. Sie zielt auf die strukturelle Mehrheit der von Haus aus Schüchternen und lässt sie aktiv verstummen. Zwischen Waden- und Zungenbeißern herrscht seit altersher dichter Verkehr, ein commercium omnium contra omnes.

40.

Der Grund für die Einschüchterung ist schnell benannt. Da der Staat selbst, unter Zuhilfenahme von EU-Beschlüssen, die mit der Formel ›illegal, aber gestattet‹ verbundene Praxis mit dem gemeinsamen Wertefundament assoziiert und damit in den Raum der Staatsräson gerückt hat, muss ihm daran gelegen sein, wenigstens ein Minimum an öffentlicher Achtung für sie zu erwirken. Zweifellos sät jeder halbwegs aufgeweckte Kopf, der die Gleichung ›illegal = legal‹ aufmacht, Zweifel – sei es an der Rechtmäßigkeit der Regeln zur Aufnahme und Duldung der betroffenen Migrantengruppe, sei es an der Weisheit der Regelungen, sei es an der Migrationspolitik als solcher, und zwar gleichgültig, welcher politischen Formation er sich ansonsten zugehörig weiß. Das Verdikt über den Zweifel ist daher keineswegs über den Zweifel erhaben, wie es die moralische Lesart suggeriert, sondern das Produkt eines verschobenen Zweifels. Ein Staat, der keinen Zweifel an seinen Positionen zulässt, verfällt dem Zweifel an der Loyalität seiner Untertanen. Untertan ist, wer den Zweifel an der Loyalität seiner Gesinnungen fürchtet. Nicht Untertan ist daher, wer keinen Zweifel an der Loyalität seiner Gesinnungen kennt. Zumindest bildet er es sich ein.

41.

Kann eine aktive Menschenrechtspolitik die Demokratie gefährden? Die akademische Antwort darauf dürfte lauten: an sich nicht, möglicherweise jedoch dann, wenn sie als Hebel benützt wird, um damit Ziele zu erreichen, die eindeutig außerhalb der Menschenrechtscharta liegen. Das kann, wiederum im Prinzip, auf blinde, fahrlässige oder vorsätzliche Weise geschehen, ohne dass sich das, bei mangelndem Auskunftswillen der Regierenden, säuberlich voneinander trennen ließe. Wer die Ziele ›derer, die ihn schon länger regieren‹, nicht wirklich kennt, sei es, dass niemand sie kennt, da niemand sich die Mühe macht, sie zu kommunizieren, sei es, dass sein Unglaube irgendwann überwiegt, neigt dazu, jeder Unterstellung Glauben zu schenken – selbst auf die Gefahr hin, das Unglaubwürdige über das Rechtmäßige zu stellen. Auch Menschenrechtspolitik läuft Gefahr, die Menschen zu verlieren, sobald sie das innere Maß verliert. Das innere Maß ... mancher erinnert sich an dieser Stelle des Kantschen Postulats, das Gute müsse um seiner selbst getan werden. Merkwürdig, dass gerade der Kernsatz aller Gesinnungsethik an dieser Stelle einen Ausweg aus dem öffentlichen Dilemma weist: Wer schlauerweise das heimische Bevölkerungsproblem mit Hilfe einer Politik der Moral anzugehen gedenkt, dem setzt irgendwann die Moral Grenzen. Es ist ethisch nicht zu rechtfertigen, aus dem Ausbluten anderer Länder Gewinn zu schlagen, so wie es ethisch nicht zu rechtfertigen ist, Schaden für die eigene Bevölkerung heraufzubeschwören, um andernorts Missstände zu lindern. Die Definitionsmacht darüber, ob und an welcher Stelle ein solcher Schaden entsteht, liegt in der Demokratie nicht beim Staat, nicht bei seinen Vertretern und auch nicht bei den Parteien. Darüber, ob sie beim ›Volk‹ liegt, lässt sich trefflich streiten. Beschwerde führen kann jeder; ob und wo sie Gehör findet, ist Teil und Ergebnis jenes offenen Meinungsbildungsprozesses, ohne den in einer lebendigen Demokratie nichts läuft, es sei denn die Uhr.

42.

Missstände bekämpft man nicht, indem man hilft, sie zu perpetuieren. Nichts ändert sich in den Ländern des youth bulge, wenn Europa ihnen einen verschwindenden Teil jener unruhigen jungen Männer abnimmt, die das Zeug dazu hätten, die dortigen Zustände aufzumischen. Nichts ändert sich am heimischen Geburtenproblem, wenn man es, als handle es sich um ein unabänderliches Fatum, fortbestehen lässt und seine Auswirkungen auf bestimmte Branchen der Wirtschaft durch unkontrollierte Einwanderung zu lindern versucht. Stattdessen nimmt man Gefahren für das Gemeinwohl in Kauf, die im Zweifelsfall schwerer wiegen als der erhoffte Gewinn – allen voran die Segregation und Verfeindung größerer Bevölkerungsgruppen, geeignet, den Alltag sowie den demokratischen Zusammenhalt des Landes empfindlich zu stören, ohne dass Aussicht auf Remedur jenseits eines verschärften Gesinnungs- und Polizeiregiments bestünde. Auch die finanziellen Risiken scheinen hoch – Ökonomen mögen darüber rechten. »Aber Verfolgung und Flucht sind real: Wir müssen diesen Menschen helfen!« Ganz recht, doch weder ist Hilfe um der Hilfe willen in jedem Fall hilfreich, noch sind Hilfe und Einwanderung zwangsläufig ein und dasselbe. Vor allem der letzte Punkt verdient es festgehalten zu werden. Hier ist in vielen Köpfen zusammengewachsen, was nicht zusammengehört. Wer Hilfen ablehnt, sobald sie dazu dienen (könnten), den Einwanderungsstrom zu bremsen, denkt sicher nicht ethisch. Vielmehr scheint er gewillt, dem Phantom einer grenzenlosen Weltgesellschaft zu Lasten seiner Mitmenschen jedes Opfer zu bringen, selbst das eine, das über alle Vernunft geht.

43.

Das alles ist nicht so subtil gedacht, dass es nicht auch in den ganz normalen Überlegungen im Kopf eines Politikers Platz finden würde. Das Gegenteil scheint, eine Zeitlang jedenfalls, der Fall gewesen zu sein. Ein Politiker-Blackout, das weiß das Publikum seit Helmut Kohl, ist etwas anderes als ein Jedermanns-Blackout. In ihm wimmelt es von taktischen Überlegungen. Nicht selten steht hinter ihnen eine Strategie – nun ist ihre Zeit gekommen, sie muss heraus. Jeder Blackout der Angela Merkel hat einen politischen Gegner das Ansehen beim Wähler gekostet: die Strategie der Euro-Rettungstöpfe die FDP als Partei des freien Marktes und der Deregulierung, die Strategie der Energiewende, einer, wie es vielen vorkam – und weiterhin vorkommt – hochriskanten Preisgabe einer führenden Industrienation an Wind, Wasser und das bisschen Sonne die Partei der Grünen (die sich in der Wählergunst sonnten, solange es nicht ans ›Eingemachte‹ der Standortinteressen ging), die verweigerte Grenzsicherung schließlich die SPD, den ›Partner‹ in guten wie in schlechten Zeiten, dessen Führungspersonal offenbar bis zum heutigen Tag nicht begreifen will, was alles ihrer hergebrachten Klientel beim Stichwort ›Gerechtigkeit‹ durch den Kopf flitzt. Damit ist der Kanzlerin in einer Folge von Handstreichen gelungen, woran frühere Machtinhaber nicht im Traum zu denken wagten: die Aushebelung des auf Repräsentation angelegten Parteiensystems zugunsten einer Schwarzweiß-Republik, der Republik der Guten, die zombiehaft den unergründlichen Schwenks der politischen Führung folgen, und der Bösen, die, außerhalb des Konsensspektrums stehend, der Verachtung der Wohlmeinenden und gelegentlich Schlimmerem preisgegeben werden – in der Hoffnung, die Ausgrenzung möge in jenen selbst ihr Werk verrichten und ihre Partei dem Friedhof der rechten Popanze zuführen, an denen es der Republik in Krisenzeiten nie fehlte. Das Werk ist vollendet, allein es fehlt der Glaube – soll heißen, das Wählervolumen, ohne das Augustus – Augusta – nackt dasteht.

44.

Die Symboltheorie kennt den Begriff des mythischen Analogons: Der Handelnde nimmt an seinem – historischen oder mythischen – Helden Maß, er stellt das eigene Handeln ›ins Maß‹ des Urbilds, dessen Nimbus es legitimiert, dessen Erfolg zur Nachfolge reizt und dessen überlieferte Kontur ihm eine Festigkeit verleiht, die auf andere Weise schwer zu erreichen wäre. Zum Urbild des erwählten Helden tritt die Ursituation, die zur Wiederholung reizt, wann immer eine krisenhafte Konstellation nach Gestaltung verlangt. Es war ja nicht nötig, dass eine Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sich angesichts der steigenden Menschenflut in den Schatten eines ihrer männlichen Vorgänger stellte: Helmut Schmidts vielleicht, des ›Herrn der Flut‹ anno 1962, oder, horribile dictu, Gerhard Schröders, unter dessen Kanzlerschaft 55.000 Kosovo-Flüchtlinge in Deutschland Aufnahme fanden (unter Kohl: 440.000 Flüchtlinge), ohne dass deshalb die EU auseinandergefallen wäre oder eine neue Partei das ›System‹ Fürchten gelehrt hätte. Fürs erste genügte es offenbar, zu entscheidungsträchtiger Stunde die verwackelte Großtat des Egon Krenz nachzuahmen, die 1989 den Fall der Berliner Mauer einleitete, nur dass diesmal der Menschenstrom sich in umgekehrter Weise ergoss: Immer herein in die gute Stube, hier ist für alle Platz. Die Mehrzahl der Deutschen hat die Pointe kapiert und eine aktive Minderheit spielt eine Zeitlang, fähnchenschwenkend und ›Welcome‹-Plakate in die Kameras haltend, im Angesicht einer konsternierten Weltöffentlichkeit mit. Ob die Ankömmlinge verstanden, wie ihnen geschah? Der eine oder andere vielleicht … auf seine Weise. Viele der Jubler verstanden sich ein paar Wochen später selber nicht mehr. In den Niederungen des Alltags angekommen, bedurfte die freiwillige Helferschar, ohne die nichts mehr lief, über kurz oder lang härterer Kost.

45.

Auch hier verrichtet das mythische Analogon wertvolle Dienste. Von der Maueröffnung zur ›Aktion Sühnezeichen‹, das ist, wie es scheint, nur ein kleiner Schritt für die heimischen Stichwortgeber, ein großer Schritt hingegen für die um Argumente selten verlegene Community der Weltverbesserer aller Schattierungen, denen unverhofft die Politik eines großen, eines gernegroßen, von seinem Außenminister erst kürzlich unter die major powers eingereihten Landes in die Hände purzelte. Schon gilt, soeben noch Herrin des Geschehens, die Kanzlerin der Herzen als Getriebene. Den einmal eingeschlagenen Kurs muss sie halten, will sie nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen, was sie über Nacht an Statur gewann, hauptsächlich aber, um das Staatsschiff durch die eilends herbeiimaginierten Klippen und Untiefen der in den Kartentaschen der christlichen Seefahrt stets griffbereit liegenden Nazi-Nation zu steuern – eine pompöse Herausforderung, gewiss, eine reizvolle Aufgabe für die große Steuerfrau, die ›erfahrenste Politikerin Europas‹, die ›mächtigste Frau des Planeten‹, doch ebenso eine, bei der man sich seine Mitstreiter nicht immer aussuchen kann. Wo der Schuldgedanke sich regt, sind auch die Kirchen zur Stelle. Das liegt in der Natur der Sache, aber es besitzt einen Haken. Wie immer, wenn Glockengeläute das Argumentieren ersetzt, verschärfen sie das Dilemma der Kanzlerin, das sich drastisch im Türkei-Deal bekundet. So viel Staatsfrömmigkeit sah man selten, desgleichen so viel Kopfschütteln über pastorale Unvernunft. Erdogan zur Rechten, die Bedford-Strohms beider Konfessionen zur Linken: das Vergnügen, als seitenverkehrte Jeanne d’Arc in die Geschichtsbücher einzugehen, verlangt, christlich gesprochen, Opfer. Das Leben will es so. Den fast einzigen Lichtblick in trüber Zeit bietet der talentierte bayerische Staatsschauspieler Seehofer, der immer dann Opposition mimt, wenn die eigene Partei von der Stange zu gehen droht. Männer sind drollig. Nur die Juden im Lande, viele von ihnen als Fluchthelfer engagiert, müssen irgendwann einsehen, dass, was da an Allianzen geschmiedet wird, über kurz oder lang für sie zum Problem wird.

46.

Inhaltlich dürftig, in der Sache bemerkenswert – so präsentieren sich in jenen Wochen und Monaten die öffentlichen Statements der Kanzlerin, wenigstens dann, wenn man die Kommentare der internationalen Medien mitliest, die mit der deutschen Stimmungsdiktatur fremdeln. Man merkt, wie beweglich die ›Chefin‹ auf dem Klavier der Stimmungen und Sinnstiftungen spielt. Einmal in der Spur, unterläuft ihr der Fehler aller Autokraten aus Überzeugung, die dringend gebrauchten Skeptiker, die Mahner und Warner der Republik in, sagen wir es ruhig, bewährter Propaganda-Manier an die Wand zu pressen – wenn es denn ein Fehler war und nicht der Einstieg in eine neue Art Politik. Der Hebel war gefunden und was sich damit aushebeln ließ, war mehr als eine bereits über Gebühr gezähmte Opposition. Es war die Kontrollmacht der Medien, die sie damit gefügig machte und gegen die Bevölkerung in Stellung brachte, obgleich diese sich in der Mehrzahl mit ihrer Politik einig wusste. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wie oft in solchen Fällen lässt sich ›gut und gerne‹ auch umgekehrt argumentieren. Dann hätten eben die Medien, allen voran das gesammelte ›Feuilleton‹ (nach dem Ausdruck Gunter Weissgerbers), wie auf den Zauberschlag verständigt, zum gegebenen Zeitpunkt in ihr eine ebenso gelehrige wie schmiegsame Schülerin gefunden. Mag sein, mag durchaus sein. Aber die Frage bleibt: Was hätte die Kanzlerin der Griechenlandhilfe und des Atomausstiegs lernen können, was sie nicht bereits wusste? Hier kam, zum Schaden der öffentlichen Debatte, ein weiteres Mal zusammen, was nicht zusammengehört: Gesinnungsjournalismus plus parlamentsgestützte Verlautbarungspolitik Seit’ an Seit’, in gemeinsamer Anstrengung verbunden, die fatalen Folgen des, nach leeren no bailout-Versprechungen und kassierter AKW-Laufzeitverlängerung, dritten Schwenks herunterzuspielen, der diesmal die EU bis hin zum vermeidbaren Brexit und der Visegrád-Abspaltung mit in den Strudel riss – von der unfreiwilligen Wahlhilfe für das Licht der Abgehängten, Donald Trump, einmal abgesehen. Das freute selbst den einfachen Rentner Joschka Fischer, warum auch immer.

47.

»Die Bürokratie ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht ... Nach Lenin ist die Apparatur diejenige Stelle, an der die Bürgerlichkeit tödlich zu treffen ist.« (Hugo Fischer, Lenin) Niemand unterstellt der ›Chefin‹ zerstörerische Neigungen, schon gar nicht gegenüber dem bürokratischen Staatsapparat. Ganz im Gegenteil: das Vertrauen darauf, dass er, wie der Dschinn im Märchen, immer dann seinen Dienst verrichtet, wenn der Wunsch zum Vater des Gedankens wird, fällt unter die besonderen Kennzeichen ihrer Kanzlerschaft. Dass der Staat, wie beim BER zu beobachten, gelegentlich seiner Projekte nicht Herr wird, ist keiner Regierung anzulasten, sondern systemisch bedingt. Anders steht es um jene schwärende Wunde im demokratischen Körper, ›Abschiebepraxis‹ genannt. Hier wird von den Behörden eine Leistung verlangt, die von der Politik zu erbringen wäre. Was immer der Volksmund fordert –: die Abschiebung gestern noch willkommen geheißener Migranten ist ethisch anstößig und juristischer Unfug, der, strikt gedacht, dem Strafrechtsgedanken zuwiderläuft. Wer sich schuldig macht, muss mit Strafe rechnen. Dazu zählt mit Sicherheit nicht die Rückkehr ins geliebte Vaterland, das um eines besseren Lebens willen verlassen wurde, selbst für den Fall, dass der Delinquent es selbst so empfände. Solange Asylrecht, seinen geduldeten und augenzwinkernd erwünschten Missbrauch eingerechnet, das fehlende Einwanderungsrecht substituiert, kommt jede Ausweisung eines potenziellen Neubürgers einer Niederlage gleich – für den Rechtsstaat, das Rechtssystem, das Rechtsempfinden, dem ›fremdkulturelle Prägung‹ schon deshalb kein unübersteigbares Integrationshindernis sein darf, weil alles andere einem gesellschaftlichen Offenbarungseid gleichkäme. Die – meist unterbleibende – Abschiebung auffällig gewordener Migranten ist eine Konzession an diejenigen Bevölkerungsteile, denen die Migrationspolitik der Regierung ohnehin nicht passt: ein Ventil für aufgestauten Unmut, dessen eingebautes Versagen unaufhaltsam neuen Unmut schürt, gleichsam das Perpetuum mobile der Gebrechlichkeit, mit dem eine unpopuläre Politik sich Luft zu verschaffen versucht.

48.

Wer Hypotheken für eine Zukunft bündelt, die er nicht mehr verantworten muss, ist gut beraten, das Wort ›zukunftsfähig‹ als Etikett zu benützen. Seit 1984 weiß das jedes Schulkind, vorausgesetzt, der Unterricht findet statt. Kein Wunder, dass im Einwanderungsstaat, der sich weigert, die passenden Instrumente zu schaffen und darauf zählt, überrollt zu werden, die Schule als Bauplatz der neuen Gesellschaft einspringen muss, ohne dass mehr dabei herausspränge als ein Rohbau. Segregation, Ideenarmut und Bildungsverfall: Stichworte eines staatlichen Bildungssektors, der noch zu den besten der Welt zählt, was angesichts der kümmerlichen privaten Konkurrenz nicht sehr beruhigt. Ist das gewollt? Ist es ein Teil jenes Risikos, dessen wir uns alle bewusst sind? Wem nützt das Bewusstsein, wenn die Risikogesellschaft dem Willen, die bereits entstandenen Probleme zu meistern, davonläuft? Wer spricht vom Willen, wo das Vermögen gefragt ist? Eine Energiepolitik, die im Vorgriff auf noch nicht existierende Technologien die Taschen der Bürger leert, spricht Bände – wenn nicht über sich selbst, so über das Zukunftsbewusstsein ihrer Gestalter, wenn – mangels Masse – nicht darüber, dann über etwas anderes, etwa das Sendungsbewusstsein dessen, der diesen, wie andere Steine, ins Rollen brachte. Eine Sendung muss es schon sein. Kommt sie nicht im Fernsehen, dann vielleicht im Verborgenen, wo die Röslein blühen und der Mond von Soho über den Fenstern der Ausgepowerten steht, denen man gestern – oder war es morgen? – den Strom abgeklemmt hat. Es ist keine kleine Leistung, den bürgerlichen Staat an die Grenze seiner Innovationsfähigkeit befördert zu haben. Die Wirtschaft brummt und brummelt, in den Köpfen brodelt es.

49.

Deutsche Politik hat es dahin gebracht, dass eintrat, was lange Jahrzehnte als Ausdruck einer kontinentweiten Hoffnung galt. Europa darf nicht scheitern. Es darf nicht scheitern, weil andernfalls Deutschland scheitert. Dass darin bereits das Eingeständnis des Scheiterns liegt, lässt sich zwar ausklammern, aber nicht widerlegen. Wer muss, wo alle anderen können, der muss auch liefern, wenn er nach allen Regeln einer vernünftigen Buchführung nicht liefern kann. Deutschland ist erpressbar geworden, nach Großbritanniens Abgang mehr als zuvor, die ›Flüchtlingsfrage‹ liegt als Fluch über einer Politik, die Einheit sagt und Spaltung bewirkt, so wie der selbstverhängte, finanzpolitisch unterfütterte Zwang, die Eurozone in Richtung auf einen kommenden Großstaat zu komplettieren, den Platzhirsch unweigerlich in Machtkonflikte hineintreibt, denen er nicht gewachsen sein wird. Eine künstliche Großmacht, von nichts weiter zusammengehalten als einem phantasievollen Schuldenkonstrukt, Währung genannt, hineingestellt in das Ringen um globale Dominanz, zu groß, um sich zu ducken, zu unsicher, um unangefochten in die Spitze zu gehen, ist kein Segen, sondern ein Fluch. Jeder verantwortlich denkende Politiker in Europa weiß das – und schweigt. Man füttert die Deutschen mit Zukunftsfloskeln und zweigt für das eigene Land ab, was drin ist. Sobald es brenzlig wird, ist man draußen. Die deutsche Politik des letzten Jahrzehnts hat unumkehrbar gemacht, was in jenem stetig hinausgeschobenen Augenblick auseinanderzufallen droht, in dem die Geldmaschine versagt. Europa = Aufschub. Was wächst, sind Verbindlichkeiten, das Wort im weitesten Sinn genommen. Ein Transferstaat, der Schuldtilgung mit Schuldentilgung verwechselt, der die Zahlungsfähigkeit seiner Bürger im Weltpoker der Interessen verpfändet und ohne innere Überzeugung, bloß auf den Verdacht hin, es müsse so sein, ein exzessives Sozialexperiment beginnt, hat vielleicht nichts Besseres verdient. Doch so zu denken hieße, Staat und Bevölkerung künstlich auseinanderzureißen und damit den Hauptfehler einer Gesinnungselite zu wiederholen, die heute scheinbar die Diskurse dominiert und morgen spurlos zerstoben sein wird, sobald die Karten neu gemischt sind und die Macht ein anderes Gesicht annimmt.

50.

Es ist Nacht auf dem Breitscheidplatz. Die Toten haben ihr Denkmal bekommen. Die Spur des Goldes führt zu den Namen der Opfer, über die hinwegschreitet, wen es in den Raum frommer Selbstbeweihräucherung zieht. So soll es sein.

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