von Richard Schröder, Eva Quistorp und Gunter Weißgerber

1. Da der Migrationsdruck auf Europa vor allem durch den Geburtenüberschuss in Nahost, Mittelost und Afrika bedingt ist, wird er auf absehbare Zeit nicht abnehmen. Wenn wir Erfolge in der Bekämpfung des Hungers in Afrika erlangen, wird er sogar zunehmen, weil dann mehr Menschen sich die Reise nach Europa leisten können. Hochrechnungen aufgrund von Befragungen haben ergeben, dass ca. 500 Millionen aus diesen Gegenden nach Europa kommen möchten, wenn sie könnten. Daraus ergibt sich zwingend, dass Europa die Immigration regulieren muss. Wir können nicht alle aufnehmen, die zu uns kommen wollen. Zudem verbreiten Schlepper illusionäre Erwartungen, die Enttäuschungen und Aggressionen vorprogrammieren.

2. Wir müssen klar unterscheiden zwischen

a) Asylsuchenden und Flüchtlingen gemäß Genfer Konvention. Sie sind individuell verfolgt aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe;

b) Kriegsflüchtlingen, die der allgemeinen Kriegsfahr wegen geflüchtet sind. Diese beiden Gruppen sollten in Europa für die Dauer der Gefahr Schutz finden. Wir finanzieren sie mit Steuergeldern, da es um ihr Leben geht.

c) Einwanderern, auch Wirtschaftsflüchtlinge genannt, die zu uns kommen, um hier bessere Lebenschancen wahrzunehmen. Denen gegenüber dürfen wir Bedingungen stellen: dass sie von ihrer Berufstätigkeit leben können und den Sozialstaat nicht belasten; dass sie also einen Beruf erlernt haben, der auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragt ist, und dass sie über gute Deutschkenntnisse verfügen.

Für Einwanderer könnte man eine Obergrenze festlegen. Das wäre derzeit aber sinnlos, da trotz der vielen Flüchtlinge qualifizierte Einwanderer fehlen.

Auch die Medien haben dazu beigetragen, dass diese Unterschiede verwischt werden. Für die beiden ersten und für die dritte Gruppe sollten zwei verschiedene kooperierende Institutionen zuständig sein. Die die Einwanderung betreffenden gesetzlichen Bestimmungen sollten in einem Einwanderungsgesetz zusammengefasst werden. Dann könnte auch dem Missstand begegnet werden, dass diejenigen, die in Wahrheit einwandern wollen, sich als Asylsuchende oder Flüchtlinge ausgeben und die Verfahrenswege bei Behörden und Gerichten verstopfen.

Wenn Migranten gegenüber den Behörden ihre Identität verschleiern, muss das rechtsstaatlich geahndet werden.

Die Standards für die Aufnahme und Versorgung von Antragstellern müssen innerhalb der Europäischen Union angeglichen werden. Aufnahmezentren müssen endlich in ganz Europa humanitären Anforderungen entsprechen. Anreize, die außereuropäische Migranten aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland locken, sollten abgebaut werden.

3. Vor dem Fall der Mauer mussten Flüchtlinge aus der DDR sich zunächst in eines der Aufnahmelager begeben, bis alle Formalien geklärt waren. Warum sollen Migranten von weiterher nicht auch zunächst in Aufnahmelagern unterkommen, bis geklärt ist, ob sie bleiben dürfen? Es ist zumutbar, dass Antragsteller zunächst in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt sind im Unterschied zu denen, denen ein Aufenthaltstitel bereits zugesprochen ist. Der Staat muss Vorsorge treffen, dass seine Anordnungen auch durchgesetzt werden. Er ist berechtigt, zu verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber untertauchen, also illegal im Lande bleiben – und irgendwann auch noch legalisiert werden. Dadurch macht sich der Staat zum Affen und darf sich nicht darüber beschweren, dass er von vielen Migranten nicht mehr ernst genommen wird. ›Die Deutschen kann man leicht betrügen‹, denken sie dann.

4. Nach dem Fall der Mauer haben manche gemeint, nun eröffne sich die Möglichkeit einer Welt ohne Grenzen. In Wahrheit kann ein moderner Staat die in ihn gesetzten hohen Erwartungen ohne Grenzkontrollen gar nicht erfüllen. Wenn zwischen Staaten die Grenzkontrollen aufgehoben werden wie in der EU, ist das sehr angenehm und erfreulich, hat aber unausweichlich zur Konsequenz, dass die Kontrollen an die Außengrenzen verlegt werden. Das ist bei Seegrenzen nicht ganz einfach.

Bei völlig offenen Grenzen ist ein Sozialstaat unmöglich, denn das bedeutete: unbegrenzte Ausgaben bei begrenzten Einnahmen. Und das funktioniert nie.

Aber auch die soziale und innere Sicherheit sowie der Schutz vor Kriminalität sind nur möglich, wenn die entsprechenden Behörden wissen, wer sich im Lande aufhält. Und auch diejenigen, die erklären, der homogene Nationalstaat habe ausgedient, haben zwar darin recht, dass Zuwanderung jetzt europaweit etwas Normales ist, aber trotzdem werden alle europäischen Staaten bei ihren Amts- und Verkehrssprachen bleiben, wie auch bei ihren nationalen Feier- und Gedenktagen und den schwer zu definierenden, aber umso hartnäckiger bestehende nationalen Traditionen und Üblichkeiten. Wenn ein Regierungsmitglied – und ausgerechnet die Integrationsbeauftragte – erklärt, außer der deutschen Sprache gebe es keine deutsche Kultur, sollten wir sie bitten, auch mal in Frankreich oder Polen lautstark zu behaupten, es gebe keine französische oder polnische Kultur. Wir dürfen den Begriff der Nation nicht den Falschen überlassen (Helmut Schmidt).

5. Für die Wahrnehmung eines Grundrechts, wie etwa der Meinungsfreiheit, kann es keine Obergrenze geben. Dasselbe gilt für das Asylrecht. Es gibt aber bei der Aufnahme und Integration von Migranten Kapazitätsgrenzen. Diese Grenze wird gewahrt, solange die Zuwanderung die üblichen Abläufe in öffentlichen Einrichtungen, Kitas, Schulen, Krankenhäuser inbegriffen, nicht stört oder gar zerstört. Die Migrationswelle von 2015/16 hat diese Kapazitätsgrenze überschritten. Unsere staatlichen Institutionen und ihr Personal sind erheblich überfordert worden. Erst nach und nach werden Kommunen und Jobcenter davon betroffen. Denn erst nachdem Flüchtlinge in ihrem Status anerkannt sind, drängen sie auf den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Billige Wohnungen und Arbeitsplätze für niedrig Qualifizierte sind aber ohnehin knapp. Es gibt diejenigen Alteingesessenen mit und ohne Migrationshintergrund, die die Neuankömmlinge als Konkurrenten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt betrachten, und zwar nicht ganz zu Unrecht. Es ist abwegig und unanständig, sie deshalb als Nazis oder Rassisten zu beschimpfen.

Kapazitätsgrenzen können in Notsituationen überschritten werden, wie bei Naturkatastrophen oder Bürgerkriegen nebenan. Dafür bringt die Mehrheit Verständnis auf, wie wir beim wunderbaren, wenn auch vielleicht zunächst sehr naiven Willkommen 2015 erlebt haben. Wenn aber die Überschreitung der Kapazitätsgrenzen unabsehbar oder ›normal‹ wird, führt das zu fatalen Reaktionen, nämlich zu entfesselten Ängsten, die sich in Fremdenhass transformieren, zu Nationalismus und Rassismus, bis hin zur Gefährdung der Demokratie. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir auf die Kapazitätsgrenzen achten. Der zusätzliche Personalbedarf in den Bereichen Kita, Schule, Sozialarbeit, Pflege, Gesundheit, Polizei muss endlich ehrlich beziffert werden. Kinder sollen nicht spüren, was sie kosten. Erwachsene müssen bei allem, was sie in Werk setzen, die Kosten bedenken. In allen Bereichen der Gesellschaft sind zudem entsprechende Weiterbildungen nötig.

Deutschland verträgt Zuwanderung gut – aber nicht übermäßig große Zuwanderung in kurzer Zeit. Das verträgt überhaupt kein Land dieser Erde gut.

6. Familiennachzug

Kriegsflüchtlinge, die bei uns nur subsidiären Schutz finden, nämlich solange der Krieg sie an der Rückkehr in die Heimat hindert, haben derzeit keinen Anspruch auf Familienzusammenführung.

Dagegen protestieren manche mit den Argumenten, das Grundgesetz und christliche Werte forderten den Schutz der Familie und ohne Familiennachzug sei die Integration erschwert. Das letztere ist empirisch widerlegt. Mit dem Nachzug der Familie sinkt in der Regel die Integrationsbereitschaft. Man lebt dann in Deutschland, aber wieder wie zu Hause. Entscheidend sollte sein, wo sich die Familie aufhält. Befindet sie sich in einem sicheren Drittland nahe bei der Heimat, sollte die ›Familienzusammenführung‹ darin bestehen, dass der in Deutschland befindliche Migrant zu seiner Familie fahren kann und nicht umgekehrt. Dasselbe sollte für minderjährige unbegleitete Migranten gelten. Sie sollten ihren Eltern zugeführt werden, wenn diese bekannt und an einem sicheren Ort sind.

7. Angst vor Fremden ist per se weder rassistisch noch faschistisch. Die Angst, fremd im eigenen Lande zu werden, geht sehr tief und erregt ungemein. Diese Angst ist auch nicht unanständig. Aber zu prüfen ist immer, ob sie hier und jetzt berechtigt ist. Am größten ist die Angst vor Fremden dort, wo man kaum Erfahrungen mit Fremden hat. Viele sehen aber auch die sozialen Probleme von Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil und möchten diese Probleme nicht bei sich zuhause haben. Aber Überfremdungsängste wie die vor einer Islamisierung Deutschlands oder gar der Einführung der (strafrechtlichen) Scharia in Deutschland sind vollkommen abwegig. Wenn jedoch in einer Schulkasse in bestimmten Stadtteilen 80 Prozent der Schüler mangelhaft deutsch sprechen, werden Alteingesessene ihr Kind in einer anderen Schule unterbringen. Und in einigen Großstädten gibt es bereits Straßen und Viertel, in denen sich eine ethnische Parallelgesellschaft gebildet hat. Polizisten bekommen dann gesagt: Macht, dass ihr fortkommt, das hier ist unsere Straße.

8. Zum Thema Integration

Allgemein wird unterstellt, dass Zuwanderer sich integrieren wollen. Für Zuwanderer aus europäischen Ländern stimmt das auch, übrigens auch für Zuwanderer aus ostasiatischen Ländern. Für Zuwanderer aus islamischen Ländern gilt das nur bedingt. Bei Muslimen treten leider besonders häufig Integrationsprobleme auf. Das hat verschiedene Gründe.

Es gibt im Islam keine altehrwürdige Tradition für das Leben in der Diaspora, als Minderheit also, und unter einer nichtislamischen Regierung.

Und es gibt in der islamischen Welt zwar Reformbewegungen, die ähnlich wie die Reformation in Europa zum Ursprünglichen zurückkehren wollen, zu den Vorfahren (Salafisten), aber sie stoßen dabei nicht auf die Bergpredigt, sondern auf die Worte eines Staatsgründers und Feldherren. Wahabiten lehnen eine Assimilation oder Integration in die europäische Welt und ihre Wertvorstellungen ausdrücklich ab. Das ist für junge Muslime sehr attraktiv und ein Einfallstor für Radikalisierungen. Es ist ein verbreiteter Missstand, dass solche Kritik am Islam oft als Islamophobie diskreditiert wird.

Typische Konfliktpunkte mit Muslimen, und zwar nicht nur den salafistischen, sind folgende: die Stellung zur Frau, zu den Juden, den Homosexuellen, denjenigen, die sich vom Islam abwenden (darauf steht die Todesstrafe), das Verhältnis von Staat und Religion sowie eine generelle Staatsverachtung zugunsten des Clans.

Ein großes Problem besteht darin, dass die Muslime in Deutschland bisher außer Stande waren, eine gemeinsame Interessenvertretung zu installieren. Solche Organisationsformen haben im Islam keine Tradition. Dies hat aber zur Folge, dass andere Staaten, vornehmlich die Türkei und Saudi-Arabien, über Moscheen-Vereine, die sie finanzieren, ihre nationalistische Islamversion in Deutschland publik machen, was die Entstehung eines europäischen Islam behindert.

9. Wenn in einem Parlament Fragen und Ängste, die viele Bürger bewegen, nicht angesprochen werden, artikulieren sie sich außerparlamentarisch. Es wird sich dann auch eine Partei finden oder gründen, die daraus für sich Honig saugt. Diese Partei wird als newcomer unsortiert, chaotisch und zerstritten sein. Ihre zukünftige Stabilität ist ungewiss. Sie ist ein Denkzettel für die Beschöniger.

10. Es ist immer richtig, Fluchtursachen zu beseitigen und Kriege zu beenden. Wir müssen uns allerdings vor Illusionen hüten. Weder Deutschland noch Europa können ohne weiteres einen Bürgerkrieg beenden. Größere Chancen haben die Förderung nachhaltiger Entwicklung, Bildungsoffensiven, die Förderung von Frauenrechten und die Stärkung der Zivilgesellschaften gegen einheimische Korruption und autokratische Regimes. Aber das alles sind langfristige Projekte, die in den nächsten Jahren noch keine Wirkung zeigen können.

Berlin, 10. Oktober 2017

Richard Schröder, Theologe, SPD-Fraktionsvorsitzender in der Volkskammer, MdB a.D.
Eva Quistorp, Theologin, Mitgründerin der Grünen, MdEP a. D.
Gunter Weißgerber, Ingenieur, SDP/SPD, MdB a.D.

(Erstpublikation: WELT N24 v.14.10.2017, redigierte Fassung)

 

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