von Steffen Dietzsch

Vom einfachen Leben, das gerade nach dem Sieg des Sozialismus so schwierig ist

Man kann zunächst gut verstehen, wie sich der junge Sportschüler Faust sein künftiges gutes Leben – mit freien Volk auf freien Grund zu stehen – vorgestellt hat: Ein Foto von 1961 (S.74) zeigt ihn und einen Freund, beide in weißer Turnerkleidung, tadellos selbstbewusste Haltung, kräftig und sensibel zugleich – die Zukunft wird von ihresgleichen bestimmt, konzentriert, gradlinig, mit Disziplin und Leistungen, die ihnen nicht gleich jeder nachmachen kann. Das war eine neue, eben arbeiterkulturelle Prägung für Menschen, die den für unmöglich gehaltenen Aufbau aus den Trümmern deutscher Geschichte sollten bewerkstelligen können. – Doch der Aufbruchskultur in der DDR fehlte von Anfang an eine Bilanzstrategie. Es fehlte häufig das Verständnis für die schmale materielle Basis eines Neubeginnens. Immerhin musste erst Walter Ulbricht sterben, ehe man (seit Mitte der Siebziger) den heilsgeschichtlichen Begriff ›Sozialismus‹ auf einen wirklichkeitsnahen real-existierenden herunterbrach (dessen Pathosferne durch strafrechtliche Phantasien kompensiert wurde). Vor allem fehlten, und das hat der junge Faust sofort gespürt, akzeptable Umgangsregeln für legitime Kritik an Wegen und Abwegen des Neubeginnens. Die Erfahrungen mit der Macht der unbarmherzigen sowjetrussischen Bürger- & Weltkriegssieger wurden in der DDR als Maxime der eigenen Staatsräson übernommen.

Den jungen kunstinteressierten Faust ängstigten schon im Oberschulalltag die kleineren Wahrnehmungen des Abrisses der ›alten‹ bürgerlichen Welt, so der Verlust von Büchern (als antiquiert) oder die Imitation von Kunstwerken (als ›sozialistischer Realismus‹). Aber zunächst mäandert der junge Sozialist entlang der Serpentinen der jeweiligen ›Generallinie‹ der Staatspartei. Die (wie es scheint: unentrinnbar) verstrickt blieb zwischen ihrer millenarischen Grundausstattung und drängenden alltagspraktischen Entscheidungen; zwischen letztem Gefecht (›L’Internationale‹) und Mühen der Ebene (Brecht). So konnte ihm während seiner Bildungsgeschichte keiner der Kommilitonen oder Professoren erklären, warum man die weltweite, nicht-sowjetische oder auch bürgerliche Kritik am Kapitalismus oder allgemein am ›Westen‹ in der DDR aus Bildung und Diskurs ausgeschlossen hatte – und zwar strafbewährt! Es galt pauschal überall den offenen oder (schlimmer!) versteckten Faschismus abzuwehren.

Mit dem Wintersemester 1965/66 bezog Faust die Universität zu Leipzig; ein denkwürdiges Semester: Zweihundert Jahre zuvor hatten sich Goethe, und hundert Jahr später Nietzsche dort immatrikuliert. Die Fächer, die Faust gewählt hatte, Pädagogik/Kunsterziehung und Geschichte, enttäuschten ihn. Überall gab es bürokratische Hürden in Bibliotheken, politisierte Vorlesungen, uninspirierte Kommilitonen, parteiliche Presse. Alle geistig-kulturelle Arbeit, Bildende Kunst und Musik wurde gerade in diesem Herbst, autoritär wie lange nicht, von Zensuranweisungen und Verboten zunichte gemacht. Das inquisitorische ›Hochamt‹ hieß 11. Plenum, exekutiert wurde es in Leipzig vom Bezirksparteichef Paul Fröhlich (1913-1970) und vom Universitätsparteichef Hans-Joachim Böhme (1931-1995).

Der Student Faust war, wie viele politisch interessierte Menschen in jenem Staat, alltäglich irritiert von dem Umstand, dass man beliebig wegen Diskreditierung (›Boykotthetze‹) und Verleumdung von Staat und Sozialismus belangt werden konnte, auch ganz unpezifisch, diesseits vom Strafrecht. Es genügten anonyme Anzeigen oder öffentliche Vorwürfe von z.B. umstrittenen Witzen, Bücherbesitz, Freundschaften, Briefwechsel oder Reisepläne (ins ›westliche‹ Auenland), um soziale oder eben auch juridische Untersuchungen über sich anzuregen. Schnell war der Vorwurf erhoben, mit alldem ›objektiv‹ einer faschistischen Restauration (wie ›da drüben‹) das Wort zu reden. – Bei Faust genügte die plakatierte Ankündigung einer Veranstaltung »unzensierte Lyrik – von uns, mit uns, über uns« (S.139), um nach drei Semestern schon exmatrikuliert zu werden. Die übliche Verfahrensweise war, dass der Delinquent zur ›Bewährung in die sozialistische Produktion‹ geschickt wurde. Bei Faust war es eine Kunstseidenfabrik in Pirna, wo er sich im Sommer 1967 zu bewähren hatte (später wurde er auch ›in-die-Braunkohle‹ nach Böhlen, nahe Leipzig, geschickt). Solche massenhaften Verletzungen des Individuums durch staatliche Vormundschaft vergessen sich nicht so schnell.

Faust wechselt Studienfach und Hochschule: Seit Herbst 1967 studiert er am Leipziger Literaturinstitut. Er ist vielfach in gesellschaftlichen Institutionen tätig (Partei, DSF, sogar kurzzeitig Kampfgruppe) kümmert sich um seine lyrische Kompetenz und um lyrische Events außerhalb des Instituts. Von seiner geistigen Kondition in diesem Jahr aber zeugt sein »Bekenntnis«: ich hab mich neulich / mal getroffen/ und hab mich kaum / erkannt / denn mein bewußtsein / lag total besoffen / quer zum zeitungsrand / … verzeiht genossen! (S.147) – Natürlich wurde er auch hier ›geext‹ (erst im Oktober 1993 erreichte ihn eine Rehabilitation von Magnifizenz Weiss (S.189), der politische Gründe dafür namhaft machte).

Faust ist längst schon von der Staatsicherheitsbehörde registriert, er wird observiert, zumal im Jahr des ›Prager Frühlings‹ wird seine robuste Kritik an Staat und Partei der DDR aktenkundig (S. 231). Im Herbst 1971 wird er erstmals inhaftiert; kurzzeitige Entlassungen und erneute Inhaftierungen ziehen sich hin bis 1976.

Im Herbst 1976 wird Faust nach Westberlin abgeschoben; er ist Anfang Dreißig, er hat viel (zuviel!) von und über soziale und politische Gemeinschaften, die sich so oder so alternativ zur bürgerlichen Gesellschaft organisieren, lernen und leiden müssen. Was er dabei begriffen hat: Niemals war er (und wird es auch nie sein) ein parteilich domestizierbares Mitglied einer Gemeinschaft (womöglich der ›Gleichgesinnten‹!), sondern er wird immer eine exklusiv selber denkende Person sein, ein Individuum, kurz: ein Freigeist. Das aber ist einer, wie es einmal ein (älterer, auch sächsischer) philosophischer Landsmann, aus Röcken, gesagt hat, der anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet.