von Heinz Theisen
Schon der Werdegang als Tochter eines christlichen Kommunisten ließ lebenslängliche Verwirrung vorausahnen. Eine zutiefst idealistische und zutiefst materialistische Weltsicht lassen sich nur in Übereinstimmung bringen, indem zunächst alle Kategorien der Logik außer Kraft gesetzt werden. Zudem stellt sich die Frage, welche charakterliche Disposition für Spagate von dieser Spannweite notwendig ist.
Wie war es möglich, dass eine durch Biografie und Zeitläufte weltanschaulich desorientierte Frau zur Kanzlerin aufsteigen konnte? Wie konnte eine FDJ-Propagandistin, ohne größere Vernetzung in ihrem neuen Umfeld und ohne jede rhetorische Gabe, die Macht ergreifen, diese über 16 Jahre ausbauen, mit der Kernenergie Deutschlands Energieversorgung in Frage stellen und mit der von ihr exekutierten Willkommenskultur die Sozialstruktur Deutschlands auf den Kopf stellen? Warum unterwarfen sich ihre Partei und fast die gesamte politische Klasse ohne nennenswerte Gegenwehr?
Klaus-Rüdiger Mai versucht in seiner Merkel-Biografie das Rätsel Merkel zu enthüllen und diese Fragen zu beantworten. Er erklärt die Person Merkel aus ihrem sozialen und politischen Umfeld, aus den Zeitläuften und vor allem aus dem nach-ideologischen und schließlich postmodernen Zeitgeist. In dieser Einbettung einer Einzelperson in ihr Umfeld und ihre Zeit liegt die große Stärke des Biografen Mai, die er schon bei seiner Durchleuchtung Sarah Wagenknechts (›Die Kommunistin‹) gezeigt hatte.
Tiefere innere und leitende Motive von Angela Merkel bleiben notgedrungen unerwähnt. Schon in der DDR – so erfahren wir von Mai – fiel Zwielicht auf ihre berufliche Laufbahn. Sie brauchte acht Jahre für das Promotionsverfahren und die mutmaßliche Hilfe ihres späteren Ehemanns zur Fertigstellung. Warum konnte die nach ihrer Promotion als Assistentin an der Provinzuniversität Ilmenau abgelehnte Merkel stattdessen umgehend Anker bei der renommierten ›Akademie der Wissenschaften‹ in Berlin-Adlerhorst werfen? Warum konnte sie dort alle Privilegien einer Eliteeinrichtung einschließlich Reisemöglichkeiten in den Westen in Anspruch nehmen? Warum stand ihr nach der Ehescheidung umgehend eine freie Wohnung zur Verfügung?
Nicht einmal Andeutungen einer freiheitlich motivierten Oppositionshaltung gegenüber der DDR kann Mai bei ihr entdecken. Den Untergang der DDR überstand Angela Merkel dennoch unbeschadet. Im Gegenteil wusste sie, aus ihm Gold zu schürfen. Nach einer kurzen, den Karriereerwartungen dienenden Orientierungsphase fand sie zur CDU. Ihre vermeintlich provinzielle Unschuld täuschte selbst ihren durchtriebenen Mentor Helmut Kohl. Zum Dank schnitt sie ihm später die Ehre ab und verspielte dann dessen ansehnliches Erbe.
Bündnis mit dem jeweiligen Zeitgeist
Merkels Charakter findet beim Biografen wenig Gnade. Ihr zweifellos vorhandener Fleiß und ihre beachtliche Energie gingen demnach nahtlos in Machtstreben und Intriganz über. Wie kaum jemand anderer beherrschte sie die Kunst des Gegeneinander-Ausspielens und das Kaltstellen tatsächlicher oder auch nur potentieller Gegner.
Die Merkelsche Wunderwaffe der »asymmetrischen Demobilisierung« fiel ihr deshalb so leicht, weil – so Mai – ihr Inhalte gleichgültig waren.
Darüber konnte sie zur Erfüllungsgehilfe jeglichen Zeitgeistes werden, der ihr dienlich schien. Zuletzt auch noch dem von Davos, wo sie wie eine Lisa Neubauer haltlos und schwärmerisch von ›der großen Transformation‹ schwafelte und uns empfahl, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, »…in den nächsten dreißig Jahren zu verlassen, um zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen.« Mit der Abschaffung der Kernenergie hat sie in der Tat einen großen Beitrag zu einer Transformation geleistet, die heute allerdings als Transformation in den industriellen Niedergang erkennbar wird.
Merkels negative Dialektik. Schwächen zu Stärken machen.
Die in der Biografie ausführlich ausgebreiteten Defizite von Angela Merkel enthüllen paradoxerweise das Geheimnis ihres Erfolges. Sie vermochte es, aus jeder ihrer Schwächen Vorteile herauszuschlagen.
Ihre Herkunft als Frau und Ostdeutsche gab ihr dauerhaften Welpenschutz, ihre äußere Unauffälligkeit verwandelte sie in Bescheidenheit, mit ihrer mangelnden Fähigkeit, Inhalte zu formulieren, konnte sie in Ruhe den Verlauf der Debatten abwarten, um sich dann an die Spitze der siegreichen Meinung zu setzen. Ihr Mangel an Vision, Strategie und Konzept hieß nun: ›Auf Sicht fahren‹ und ›Vom Ende her denken‹. Ihr Mangel an Eindeutigkeit und Klarheit galt als Ausgewogenheit, der Mangel an analytischen Fähigkeiten als Pragmatismus und die selbstgerechte Verweigerung jeglicher Folgenverantwortung erhob sie zur Moralistin, die das Gute tut, weil es gut ist.
Entscheidend für sie war nicht das Wohlwollen der Mehrheit, sondern der Medien. Am deutlichsten wurde dies in der von den Medien angeheizten ›Willkommenskultur‹. Jahre zuvor hatte sie ›Multikulti‹ noch für gescheitert erklärt.
Ihr sprachliches Geschwurbel musste der Rezensent zweimal aus der Nähe miterleben. Unverständlich, was sie eigentlich gemeint hatte, schlimmer noch, was sie eigentlich gesagt hatte. Aber selbst diese in einer Demokratie eigentlich tödliche Schwäche wusste sie zur Stärke umzuformen, weil sie damit jegliche Angriffsfläche zu verhüllen verstand. Von ihrem Vortrag in der Katholischen Akademie Mülheim bleiben mir ihre beeindruckenden Detailkenntnisse zur Frage im Gedächtnis, wie weit Krankenkassen Brillengestelle mittragen sollten.
Kein Gegner, nirgends
Schon ihre Präsenz in einer Katholischen Akademie diente wiederum nur dem taktischen Zweck, ihre zuvor geäußerte unverschämte, allein zeitgeistig motivierte Kritik am deutschen Papst wieder abzumildern, da diese denn doch mehr Stimmen hätte kosten als bringen können.
Ihr weltanschaulicher Relativismus endet laut Mai immer beim eigenen Erfolg.
Trotz ihres Mittelmaßes war sie nie nahe beim Volk. Sie habe – so Mai – Politik immer als Service-Leistung für den Bürger verstanden, von oben nach unten – und daher habe der Bürger den Service auch zu akzeptieren. Damit reihe sie sich ein in jene weltweite Neo-Aristokratie, die sich über Demokratie und damit die Interessen des gemeinen Mannes zugunsten globalistischer Klimaziele und unter Verleugnung eigener Interessen hinwegsetzt.
Kritik, geschweige denn Selbstkritik, wie wir nach der Veröffentlichung ihrer Memoiren wissen, sind selbst im Rückblick nicht ihre Sache. Meckerte das Volk, war das nicht mehr ihr Land. Damit ging Merkel noch einen Schritt weiter als jene Regierung von Bertolt Brecht, die sich ein neues Volk wählen wollte. Merkel habe sich – so Mai – kein anderes Volk gewählt, sondern ein anderes Volk geschaffen: durch die Massenmigration in die deutschen Sozialsysteme eine neue Soziologie, eine andere Struktur des Volkes, einen Multitribalismus.
Mai benennt in beachtlicher Sachkenntnis der unterschiedlichen Themenfelder die Sargnägel ihrer Politik für Deutschland: Eurokrise, Energiewende, Migration und schließlich ein gespaltenes Land, in dem eine Brandmauer das freie Denken eingemauert hat. Weltoffenheit und Toleranz nach außen und rigide Ausgrenzung Andersdenkender nach innen ergänzen einander. Nicht nur ihr Nachfolger muss sich kläglich in diesem vorgefertigten Käfig winden. Aus den einst offenen Diskursen in Deutschland wurde giftige Polarisierung. Kritik galt bei ihr schon bald als ›wenig hilfreich‹ und wurde danach sogar in die Illegalität abgedrängt.
Starke Wurzeln der Politik liegen in der Kultur und eine von deren Wurzeln in der Religion. Von beiden ist bei der Pfarrerstochter Merkel nichts zu bemerken, dafür umso mehr an Bereitschaft, sich ersatzweise an ersatzreligiösen Vorstellungen zu berauschen – aber auch dies wiederum nur zugunsten profansten Machterhalts.
Aus der Volkspartei CDU schuf sie eine Block- und Kaderpartei, aus der Demokratie eine lupenreine Gesinnungsoligarchie. Sie kreierte den neuen Typus des weltanschauungslosen Politikers, der nur an seiner Karriere interessiert ist, all die Spahns und Wüsts, die sich bis zur Ununterscheidbarkeit dem antibürgerlichen Zeitgeist bis hin zum offenen Wokismus der Selbstauflösung unterwerfen. Auch der neue Vorsitzende Friedrich Merz folgt der Blockparteienmethode Merkels, sich links anzubiedern und rechts abzugrenzen. Die 16 Jahre der Merkel-Regentschaft sind noch lange nicht zu Ende. Das Erwachen zur Realität zieht sich grausam lange dahin.
Diese unerhörten Vorgänge wären ohne Beihilfe des einstigen, jeweils als das Eigene schützenden Bürgertums natürlich nicht möglich gewesen. In dessen zeitgeistiger Offenheit für eine fast bedingungslose ›Weltoffenheit‹ nach außen und nach innen, in der jede Art von Vielfalt in bunter Ergänzung aufgehoben werden sollte, liegt der tiefere Kern des Verhängnisses. Im Abgleiten von der bürgerlichen Sorge um Staat und Gesellschaft in ein fast schon infantil-utopisches Regenbogen-Denken liegt die Mitschuld fast der gesamten politischen Klasse von den Hochschulen über die Medien bis zu den diversen, gleichgeschalteten Parteien. Denn eines wird einem im Laufe der Lektüre der diesen Zeitgeist grausam genau sezierenden Biografie deutlich: Angela Merkel hätte in jedem Punkt genau das Gegenteil getan, wenn es Zeitgeist und Machterhalt von ihr gefordert hätten.
Alternativen zu Merkel?
Merkel habe – so Mai – nie in Rechnung gestellt
Statt die Staatsbürger in der Suche nach neuen Dritten Wegen zusammenzuführen, habe Merkel ein in sich verfeindetes Land hinterlassen, in der die einen den Klima-Tod und andere die Islamisierung Deutschlands fürchten. Schlechter könnte die Stimmung nicht sein, denn derjenige, der meine größte Angst verleugnet, kann nicht Freund oder Kollege sein. Mit seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Ignoranz gilt er in jedem Fall als ein Teil des drohenden Verhängnisses.
Aus dieser Denkfalle hätten eine Partei der Mitte und eine Staatsfrau der Sorge einen Ausweg suchen müssen, zunächst mit der Eröffnung von Räumen, die die unterschiedlichen Ängste durch offene Diskurse abzugleichen helfen. Der Weg einer liberalen Mitte wäre es gewesen, die Gesinnungskriege zwischen utopischen Globalisten und den Protektionisten des Eigenen in Dritte Wege zu überführen, darauf die besseren Globalisierungsprojekte zu fördern und die schlechteren zu behindern, weltweite Netzwerke aufbauen, deren Knoten – wie etwa die Nationalstaaten – im Sinne auch der Netzwerke zu stärken sind.
Stattdessen haben uns Merkels Wege vom Sowohl-als-auch zum Weder-Noch, vom Engagement zur Demobilisierung und vom Diskurs zur Polarisierung geführt. Und darüber wird sie als »einer der großen Unglückgestalten der deutschen Geschichte« (Rolf Peter Sieferle) in Erinnerung bleiben.
Klaus-Rüdiger Mai hat mit seiner hervorragenden Biografie unsere Einsichten in ein Verhängnis vertieft, in das wir als Zeitgenossen verstrickt sind. Ihre für die eigene Position geradezu absolutistisch in Anspruch genommene ›Alternativlosigkeit‹ hat im Gegenzug eine neue Partei hervorgetrieben, die sich der Suche nach Alternativen widmet. An dieser Suche müssten sich aber – über eine damit völlig überforderte Partei hinaus – weit mehr Bürger und Politiker beteiligen, wenn noch rettende Alternativen und Auswege gefunden werden sollen.