Wenn ein kluger Mann wie Klaus-Rüdiger Mai sich mit der Zukunft seines Landes beschäftigt, dann ist das Grund genug, genauer hinzuhören, als das im Medienbetrieb üblicherweise geschieht. Mai ist nicht der erste, der gegen das Schubladendenken der politischen Kräfte und ihrer medialen Knechte anschreibt, die immer wieder die Herren geben. Das Links-Rechts-Schema, könnte man dazu anmerken, veraltet nicht, es füllt sich nur mit neuen Inhalten. Das ist zwar richtig, impliziert aber auch, dass links wie rechts immer wieder Übernahmekämpfe zwischen Lagern stattfinden, die einander im Ernstfall spinnefeind sind.

Die heutige Situation wird durch zwei Anomalien gekennzeichnet: einerseits die absolute Dominanz ›linker‹ Elemente im Feld der politischen Schlagworte und Programme, soweit sie Aussicht haben, die operative Politik der nächsten Jahre zu bestimmen, andererseits die gnadenlose Überschreibung ›traditionell‹ linker und linksliberaler Überzeugungen durch eine seltsame Melange aus grünlackierten technokratischen und den Opferdiskurs vergangener Jahrzehnte expropriierenden identitätspolitischen Konzepten. Es existieren, vielleicht von der AfD abgesehen, keine Parteien mehr, die sich als ›rechts‹ verstehen. In der Sprache von Politik und Medien ist ›rechts‹ zu einem Synonym für ›rechtsradikal‹ oder gleich ›faschistisch‹ geworden. Dabei scheut das – cum grano salis sei es so genannt – herrschende Narrativ den historisch korrekten Ausdruck ›nationalsozialistisch‹ aus naheliegenden Gründen.

Der Sozialismus erlebt, dreißig Jahre nach seinem verdienten Ableben, eine neue Unschuldsphase. Das mag Menschen verblüffen, denen der historische Sinn abtrainiert wurde. Ansonsten ist es nicht allzu verwunderlich, sondern folgt der Verfallslogik politischer Begriffe sowie der Dialektik von Niederlagen ›historischen Ausmaßes‹. Zu dieser Dialektik gehört, dass der Totgeglaubte sowohl die Regierungspolitik imprägniert als auch die schärfsten Regierungskritiker mobilisiert. Der Preis, den er dafür entrichtet, ist hoch: Die regierungsamtliche Versicherung, es gelte, hier und heute die Welt vor den lebensfeindlichen Aktivitäten eines so nicht mehr hinnehmbaren Kapitalismus zu retten, verbindet kaum mehr mit dem Gesinnungs- und Sprachfanatismus pseudolinker Splittergruppen als jene aus den Zeiten des ›real existierenden Sozialismus‹ bestens in Erinnerung gebliebene Einstellung, die grundgesetzlich verankerte Freiheit des Individuums könne und dürfe aus ›ethischen‹ Gründen nicht länger als höchstes Gut im Staat gehandelt oder gar respektiert werden.

Das selbstbewusst entscheidende Individuum eine vom Ausssterben bedrohte Spezies, die liberale Gesellschaft ein Lippenbekenntnis vor den Hintergrund staatlicher oder ins NGO-Milieu ausgelagerter Gängelung, die auf Respekt vor dem Souverän gründende Bürgerrepublik eine Reminiszenz aus besseren Zeiten, klammheimlich ersetzt durch eine demokratische Fassade, hinter der die Interessenwalter einer weltumspannenden Geldelite immer unverhohlener die ökonomische Leistungskraft der Bürger abschöpfen und, gestützt auf Big Data, reglementieren – das sind schon längst keine individuell erhobenen Vorwürfe mehr, sondern Elemente einer weit gestreuten Wahrnehmung, in der auch die vor vergleichsweise wenigen Jahren noch als Hoffnungsträger gehandelte EU tief gesunken ist.

Von der einst linken Weltbeschreibung möchte eine, vielleicht voreilig, triumphierende Mehrparteienlinke kaum noch etwas wissen. Das ist schade, denn so kommt ihr vieles abhanden, nicht zuletzt der Sinn für Realitäten. Sahra Wagenknecht hat gerade eloquent darüber berichtet. Realitätsblindheit, einst der Vorwurf Casanovas an die Adresse Voltaires, ist das Stigma derer, die glauben, die Zukunft gehöre ihnen, weil ihre Partei irgendwann Definitionshoheit errungen hat. Nichts täuscht sich leichter über sich selbst als Diskursmacht, die von partikularen Kräften in Szene gesetzt wird, vor allem, wenn sie sich an die Stelle des Ganzen setzen.

Mais gerade und elegant formulierte, eine Reihe wichtiger Studien aufgreifende Analysen entsprechen im Großen und Ganzen diesen Befunden. Anders als bei Wagenknecht steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen nicht die Rückkehr zu den Bedürfnissen der Arbeiterklasse oder zur materiellen Interessenlage ihrer sozialen Erben, sondern Max Webers Herrschaftstypologie und die liberale Gretchenfrage, wie sich ein Abrutschen der demokratischen Herrschaftsform in oligarchische und bürokratische Erstarrungen verhindern lässt, kurz, das Postulat eines optimal geregelten, die spontanen Regungen des Bürgerwillens aufnehmenden Machtwechsels als Garanten einer entscheidungsoffenen, partizipatorisch gestaltbaren Zukunft.

Mais trotziges »Die Zukunft gestalten wir!« reflektiert, sicher nicht ungewollt, die Leipziger Parole von 1989: »Wir sind das Volk!« im Spiegel der US-amerikanischen Verfassungspräambel: »We the people«. Das ›Wir‹ umfasst die Gemeinschaft aller Bürger, die zusammen den Souverän bilden. Der Gestaltungsauftrag des Grundgesetzes ergeht an alle Bürger, nicht Mehrheit, nicht Minderheit – was immer sich an Opposition regt, das regt sich innerhalb dieses Auftrags. Das rührt die Frage auf, ob sich in der Demokratie ein wesentlicher Bevölkerungsanteil aus dieser Aufgabe davonstehlen kann, indem er sich voreilend in den Untertanenstatus verabschiedet, gemäß dem Motto: »Ihr da oben werdet schon wissen, welcher Grad an Freiheit uns frommt«. »Wollen Sie Angela Merkels oder Annalena Baerbocks Mensch sein?« fragt Mai zu Beginn seiner Überlegungen leicht süffisant (9). Die Ersetzung des ›Bürgers‹ durch den ›Menschen‹, durch ›unsere Menschen‹ am Ende, im Floskelhaushalt der politischen Rede gehört zu den Anzeigen dieses Übergangs.

Das ist nicht zwingend Agambens ›bloßer‹ Mensch. In der Bundesrepublik dieser Jahre ist es das »Sozialstaatsobjekt«, der Empfänger staatlicher Zuwendungen bis hin zu Aufmerksamkeiten aller Art, darunter einige eher unerbetene, solange im Objekt staatlicher Sorge noch das alte Subjekt grummelt und seine Rechte einfordert. Sollte die ›Große Transformation‹, wie von Mai befürchtet, den ihr von einigen Theoretikern vorgeschriebenen Gang gehen, dann wäre der Zusatz ›sozial‹ ohnehin ein Relikt aus untergegangenen Zeiten. Sozialfürsorge wäre dann ersetzt durch ein System zugeteilter und auszuschöpfender ›Kontingente‹, in dem der Einzelne keiner besonderen Unterstützung bedarf und auch keine erwarten sollte, weil die Logik des Pferchs die des verantworteten Handelns und eines darin immer möglichen Scheiterns außer Kraft gesetzt hat.

Verantwortung zeichnet den Bürger. Um ihr gerecht werden zu können, bedarf es rechtlicher und institutioneller Garantien. Um der Gefahr der Verstetigung der Macht und ihrer oligarchischen Verkrustung zu begegnen, skizziert Mai verschiedene Reformfelder, unter denen die Bildung den ersten Platz einnimmt. Das hat verschiedene Gründe, nicht zuletzt den, dass rationales Entscheiden im ökonomischen wie im öffentlichen Raum Wissen voraussetzt, verbunden mit der Fähigkeit, selbständig Wissen zu generieren, also die beiden klassischen Bildungsziele der Mündigkeit. Es ist bekannt, dass sich Bildung nicht in der Verfolgung dieser Ziele erschöpft, sondern den gesamten Bereich der Kultur umfasst. »Ohne Kultur«, so formuliert es Mai, »keine Demokratie.« (134) Die Grundlage der Demokratie ist für ihn der Nationalstaat, gelebte Demokratie, das heißt Partizipation an den Geschicken des Landes, vollzieht sich im Raum der Kulturnation. Das ist nicht chauvinistisch, sondern antiglobalistisch gedacht, als Remedium gegen die Gefahren der Großen Transformation, und muss hier so stehenbleiben.

Wie auch immer: Das Ende der Ära Merkel fest im Blick, laufen die vorgetragenen Überlegungen auf eine »Reform der Demokratie« (153) hinaus, das heißt auf eine diskrete Stärkung der Elemente direkter Demokratie im Labyrinth der Berliner und Brüsseler Entmündigungsmaschinen, unter denen der Euro-Politik samt ihren Auswirkungen auf den parlamentarischen Betrieb und die faktischen Entscheidungsspielräume der Regierungen eine besonders problematische Bedeutung zugewachsen ist. Mai verabschiedet sich von der Idee eines künftigen europäischen Zentralstaates, dem, wie er annimmt – denn Genaues weiß man noch immer nicht –, Telos dieser Politik, er will so viel Macht wie möglich in die Hände der Bürger und ihrer Repräsentanten zurücklegen und die Ausgabenflut der Institutionen bremsen. Damit steht er nicht allein, auch wenn die schlagkräftige Truppe, die solchen Forderungen Nachdruck verleihen könnte, es bislang vorzieht, in den Kulissen an ihren Gedanken zu feilen und vielleicht ein bisschen zu träumen.