Vergessene Fakten. Erfahrungen, Fakten und Empfindungen im geteilten und vereinten Land

von Herbert Ammon

I.

Der 9. November 2019 steht bevor, der Tag zum Gedenken an den einzigartigen, wenn nicht einzigen Glücksfall der deutschen Geschichte. In den anstehenden Gedenkreden und Artikeln in den ›Leitmedien‹ wird die Rede sein vom Freiheitswillen der DDR-Bürger, von der Überwindung der Teilung Europas, dazu die Warnungen vor dem erstarkenden ›Nationalismus‹, verknüpft mit mahnenden Verweisen auf das andere Novemberdatum (unter anderen). An besorgt klingenden Kommentaren zu den in der politischen Landschaft sichtbaren Bruchlinien zwischen Ost und West wird es nicht fehlen. Ob darüber die im Ost-West-Konflikt der Nachkriegszeit verwurzelte Vorgeschichte der deutschen Teilung, des Mauerbaus und des Mauerfalls näher beleuchtet wird, kann als Frage offen bleiben. Jedenfalls sind in der ahistorisch gestimmten Bundesrepublik außer den verblassenden Bildern vom Tanz auf der Mauer die historischen Umstände des Mauerfalls kaum noch geläufig, so wenig wie die historischen und politisch-psychologisch fortwirkenden Tiefenschichten der deutschen Teilung.

II.

Vor diesem politisch-medialen Hintergrund ist ein Lesebuch zu empfehlen, das deutsche Bewusstseins- und Lebenszustände ›damals‹ – in den Jahren der anscheinend unüberwindlichen Teilung – und heute widerspiegelt. Der Herausgeber Frank Blohm (Jahrgang 1959), im Hauptberuf als Psychoanalytiker tätig, gehörte dank elterlicher Herkunft aus Mecklenburg und Besuchen bei kirchentreuen Verwandten zu jenen ›Westdeutschen‹, die mit dem Land östlich der Elbe innerlich verbunden waren. Seit Anfang der 1980er Jahre, in einer Phase deutsch-deutscher Erregungen und friedensbewegter Hoffnungen, verfolgte er die Idee eines Buchprojekts unter dem ironisch-provokanten Titel »Geh´ doch rüber!«

Das Projekt nahm Gestalt an, als Blohm, 1983 als Psychologiestudent an der TU Berlin, einen Praktikumsplatz in einem von Jürgen Fuchs geleiteten Jugendprojekt bekam. Jürgen Fuchs, 1977 aus der DDR ausgebürgert, sowie Roland Jahn vermittelten Kontakte zur Dissidenten- und Dichterszene am Prenzlauer Berg, zu Lutz Rathenow, Uwe Kolbe, Bernd Wagner, Katja Lange-Müller und zu Sascha Anderson, dem – später als Stasi-Spitzel enttarnten – ›ungekrönten König‹ des Ostberliner Untergrunds (S. 17). Naturgemäß geriet Blohm ins Visier der Stasi, wurde am Grenzübergang Friedrichstraße festgehalten, schließlich mit Einreisesperre bedacht. Zuvor, im Jahre 1984, informierte das MfS die sowjetischen Organe über eine bevorstehende Reise Blohms ins Vaterland der Werktätigen.

Das Buch brachte Blohm anno 1986 unter dem Pseudonym Per Ketmann – entnommen dem Essayband »Verführtes Denken« (1951) von Czeslaw Milosz – bei Luchterhand heraus. Die Texte stammten teils – herübergeschmuggelt – von ›drüben‹, teils von in den Westen exmittierten Autoren sowie von einigen ›Westlern‹ wie Peter Schneider und dem aus Kalifornien stammenden, mit der ›Prenzlberg‹-Szene vertrauten Grenzgänger Mitch Cohen. Eben dieses Lesebuch ist nunmehr, erweitert um Reflexionen der Autorinnen und Autoren im Jubeljahr 2019 und einen Fotoessay des Herausgebers (»Einblicke in ein verschollenes Land«), im Berliner Lukas Verlag neu erschienen.

III.

Die Psychologie der deutschen Teilung hielt Frank Blohm 1986 im Vorwort, in einem Kurzessay, in einem Poem (»WIR«) sowie in drei Porträts von im Westen ›Angekommenen‹ fest. Bei Begegnungen zwischen ›Bewohnern der beiden Hemisphären‹ waren Verständigungsprobleme vorprogrammiert: »Der Systemvergleich, von den Politikern und der einschlägigen Presse bis zum Überdruss vorexerziert, durchzieht auch die privaten Gespräche: Im falschen WIR und IHR gehen ICH und DU verloren.« (S.32) Die Illustration zu gut gemeinten, oft verfehlten Annäherungen lieferte Irene Böhme unter dem Titel »Die Mauersegler kommen«.

Andere Empfindungen überkamen Helga Schubert, wenn sie ›Ansichtskarten‹ von in den Westen geflüchteten Freunden oder Bekannten erhielt. Ein Buch, in dem sie derlei Bilder aus unerreichbaren Sehnsuchtsorten zur Anschauung bringen wollte, wurde vom Aufbau-Verlag zuerst abgelehnt, sodann in entsprechend gekürzter Version gedruckt und mit dem Heinrich-Mann-Preis belohnt. Der sie von Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit an observierende zuständige MfS-Offizier entschuldigte sich in den neunziger Jahren bei ihr. Es handelte sich um einen früheren SS-Offizier und Literaturwissenschaftler (»Die Rückseite der ›Ansichtskarten‹ [2019]«).

Die meisten Texte aus jenen Jahren der Teilung reflektieren Schmerz, Trennung, Fremdheit und Enttäuschung. Katja Lange-Müller und der Herausgeber hielten es seinerzeit für ratsam, einen aus der Ich-Perspektive verfassten Text über den Tod des italienischen Lkw-Fahrers Benito Corghi, der am Grenzübergang Hirschberg (zwischen Thüringen und Bayern) von einem dienstbeflissenen Gefreiten ›irrtümlich‹ erschossen wurde, nicht zu veröffentlichen. In ihrem Text von 2019 erläutert die Autorin die heute vergessene Episode aus Zeiten der ›Entspannung‹ und Gewöhnung an die Teilung. Die tödlichen Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze versetzten das SED-Regime in peinliche Aufregung, geschuldet der Tatsache, dass es sich bei dem Toten um ein Mitglied der KPI handelte.

Ein paar Texte enthalten Erheiterndes, etwa die »Grenzerfahrungenx von Mitch Cohen sowie dessen »Zwiespältiges Mutual Interview« mit seinem Ostberliner Dichterkollegen Bert Papenfuß. An Komik schwer zu überbieten ist der Text des heutigen WDR-Redakteurs Stefan Moll über eine vom studentischen DKP-Ableger MSB-Spartakus (damals noch ›Marxistischer Studenten-‹, nicht Studierendenbund) organisierte Delegationsfahrt in die DDR. Im Zug, bevölkert von Geschenke gen Osten transportierenden Rentnern, eröffnete MSB-Reiseleiter Kalli seinen ›Genossen‹, darunter auch ein paar Jungsozialisten, »jetzt sind es nur noch fünfhundert Meter bis zur Freiheit« (S.69). Die Reise hielt noch andere Highlights bereit: Bei einem Treffen wollte eine annäherungsbereite FDJ-Funktionärin von einem Juso wissen, ob er denn den Genossen Günter kenne. Gemeint war der Ex-Spion Günter Guillaume, der ihnen bei einer Schulung (Adnote: im früheren Goebbels-Landhaus) am Bogensee erläutert hatte, wie leicht es sei, bei den Sozis Karriere zu machen. Ein schwuler Mitreisender, angetan mit rosa Winkel im selbstgestricktem Pullover, erregte Anstoß, als er im realsozialistischen Sexualkundeunterricht dem Direktor ins Gehege kam und ›Faschist‹ brüllte. Nachdem er sich bei einem Abstecher in eine Leipziger Schwulenkneipe verliebt hatte, blieb er seiner roten Truppe fern (›Reisen bindet‹).

Unter dem Pseudonym ›Emil Nichtsnutz‹, das er ehedem als ›Sponti‹ auch in dem Frankfurter Untergrundmagazin »Pflasterstrand« gebrauchte, berichtete Albert Sellner von seinen Begegnungen mit der jungen DDR-Opposition, darunter einige in der Anarchismus-Literatur bewanderte Punker. Im Unterschied zu seinen Freunden in der CSSR und in Ungarn, die jegliche Information, die ›von oben‹ kam, für gelogen hielten, zeigten sich einige seiner Gastgeber vermeintlich hinreichend informiert und – fast regimekonform – negativ beeindruckt von den Lebensbedingungen in der BRD: hohe Arbeitslosigkeit, vom Konsumdenken verblendete Arbeiter, dazu Zehntausende frei herumlaufender Neonazis. Für seine Schwärmerei für die weniger verkniffenen Frauen in der DDR handelte er sich bei einer Ostberlinerin eine Abfuhr ein: »Solche wie dich kenne ich. Ihr seid von euren Feministinnen, die im Gegensatz zu uns Klartext sprechen, frustriert und möchtet euch jetzt seelisch bei den Schwestern jenseits der Elbe aufmöbeln...« (S.80)

Jürgen Fuchs, nach seiner Ausbürgerung auf Schritt und Tritt von der Stasi verfolgt, 1999 an einer seltenen Bluterkrankung verstorben, brachte die Haltung vieler westdeutscher ›Linker‹ auf den Begriff. Anders als die von Alexander Solschenizyn belehrten nouveaux philosophes in Frankreich brachten sie es fertig, die Realität des ›Archipel Gulag‹ abzuweisen: »GIBT ES HIER ETWA KEINE GEFÄNGNISSE? UND DASS HIER ALLES ANDERS WERDEN MUSS, SIEHST DU SCHON DARAN, DASS ICH WAHRSCHEINLICH NICHT BEAMTER WERDEN KANN, sagte mir ein Student der Politologie aus Lüneburg, bevor er in einem kleinen grünen Auto davonfuhr.« (S.200).

Michael (›Salli‹) Sallmann, heute Literaturredakteur beim RBB, schilderte seinen Auftritt bei einem Stadtteilfest in einer schwäbischen Kleinstadt. Mit Liedern, inspiriert von den Zuständen in der DDR, blieb der im Programm nach hinten geschobene Sänger auf der Bühne nahezu gänzlich allein. Im Rückblick schreibt er: »Und nun, dreißig Jahre nach dem Mauerfall? Ich hatte mich zwar seit meiner Ausbürgerung 1977 aus der DDR immer als so etwas wie [ein] Gesamtdeutscher, ein Erzgebirgler im preußischen Exil empfunden, aber jetzt bin ich wieder ein Stück ›ostdeutscher‹ geworden. Zumindest, wenn es darum geht, interessierten ›westlich sozialisierten‹ Deutschen die andere, die ostdeutsche Geschichte zu erklären, um begreiflich zu machen, wer wir sind in diesem neuen alten gemeinsamen Land Deutschland.« (S. 197)

IV.

Bleibt ein minderes Manko: Die Beiträge von ehedem beziehen sich hauptsächlich auf das Leben der Nichtangepassten, der Widerstrebenden und der Opfer des Regimes. Mit Ausnahme der erwähnten Texte von Albert Sellner und Stefan Moll sowie der Geschichte eines der Staatsgewalt trotzenden (Ost-)Berliner Schlitzohrs, von Bernd Wagner in Berliner Dialekt erzählt (»Wie Tute bis zum HSV durchkam«), fehlen Schilderungen des Alltags der nach dem Mauerfall als ›Ossis‹ belächelten Deutschen in der DDR.

Gleichviel: Das Lesebuch hat viele Leser/innen verdient. Es erhellt in der klimaerregten Bundesrepublik nicht nur die vergessene, verdrängte Geschichte der deutschen Teilung, sondern hilft zum Verständnis der nach wie vor von westdeutschem Hochmut geprägten Gegenwart. Wer sich in jenen Jahren mit dem Faktum der Teilung nicht abfinden wollte, den bewegt, schmerzt, betrübt – und erleichtert die Lektüre.

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