Die unpolitische Politikerin – eine Kritik des anhaltenden Merkelismus
von Herbert Ammon
Die jüngsten Auftritte der Kanzlerin Merkel – beispielsweise in Marrakesch am 10.12.2018 zur Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes - lassen den Schluss zu, dass sie ungeachtet ihres Rücktritts vom CDU-Parteivorsitz noch keineswegs am Ende ist. Auf den ersten Blick mag der Titel des Buches – angesprochen dürften sich vornehmlich die Gegner des Merkelismus fühlen – daher als voreilig, gar als Wunschdenken des Autors erscheinen. Bei der Lektüre des Buches, vollendet noch vor den Aufregungen um die Nachfolge an der Parteispitze, wird derlei Gedankenassoziation indes widerlegt. Im Gegenteil, eindrücklich belegt wird die These des Untertitels: In einer Gegenwart, in der die politische Wirklichkeit der in politischen Weihnachts- oder Neujahrsreden beschworene Harmonie der Welt und ihrer (westlichen) Werte entgegensteht, erweist sich die ihrem Wesen nach unpolitische ›Methode Merkel‹ als untauglich – und unverantwortlich.
Der Merkelismus ist ein als ›alternativlos‹ dargestelltes, moralisch drapiertes System politischer Beliebigkeit zum Zwecke bloßen Machterhalts. Ferdinand Knauß, Redakteur bei der Wirtschaftswoche, beruft sich auf einen – nicht zufällig ungenannten – führenden CDU-Politiker: »Die Person Merkel ist völlig unwichtig. Ihre falsche Politik ist wichtig.« (8) Der selbst dem dahingeschwundenen konservativen Flügel der Partei nahestehende Autor definiert diese Politik wie folgt: »Es ist der Ausverkauf von politischem Kapital, also von Werten und Positionen ihrer Partei und Interessen des Landes und der Bürger ... Merkel und die mit ihr Regierenden gaben auf, was sie eigentlich bewahren und schützen sollten – im Interesse des eigenen Machterhalts.« (9).
Frappierend an Merkel ist der Erfolg ihrer Methode. Kapitel 1 und 2 liefern einen Überblick über Stationen ihres Umgangs mit der Macht. Merkels besondere Begabung liegt darin, kritische Stimmen aus der eigenen Partei zu überhören, früher mit eingeübter Rhetorik verfochtene Positionen (›Multikulti ist gescheitert‹; ›Ich als Physikerin‹) abrupt zu ändern und den politischen Gegner durch Übernahme von dessen Positionen ins Leere laufen zu lassen. Zu Merkels Repertoire gehört mittlerweile die grün-linke Leerformel von der ›uns bereichernden‹ Migration. Beispielhaft ist ihre Bekehrung zum Ausstieg aus der Nuklearenergie ( ›Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie geändert‹) am 9. Juni 2011, nachdem sie ein halbes Jahr zuvor noch mit ihrem damaligen Koalitionspartner FDP die Restlaufzeiten für Kernkraftwerke verlängert hatte.
In der Energiewende sieht der Verfasser Merkels »taktisches Meisterstück« (80-86). Ihr Taktieren in der Flüchtlingskrise erklärt er – leicht zweckoptimistich – zum Wendepunkt ihrer Karriere. In Erinnerung gebracht wird das medienwirksame Bild des arabischen Mädchens, das zu weinen begann, als Merkel ihm beschied, man könne nicht »alle aufnehmen, das können auch wir nicht schaffen.« (86). Ein paar Wochen später, im September 2015, dann das Diktum ›Wir schaffen das.‹ Hinter der Widerspruch ausschließenden Phrase steckte in Wirklichkeit fehlende Entscheidungskraft. Die Sorge um ›hässliche Bilder‹ vermengte Merkel mit Moral. Ein paar Monate später reiste sie zum teuren Flüchtlings-Deal mit dem türkischen Potentaten Erdogan nach Ankara.
Der Autor zitiert den linken Soziologen Wolfgang Streeck: »Spätere Historiker werden versuchen müssen, das System Merkel auf seinem Höhepunkt als ebenso regierungsseitigen wie selbstauferlegten Dauertest einer demokratischen Öffentlichkeit auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft hin zu beschreiben, unter laufender Opferung ihres Intellekts immer neue Absurditäten zu glauben oder wider besseres Wissen zu bekennen...‹ (90) Das ›System Merkel‹ – besser die Methode Merkel – kann nur funktionieren, solange es in der Bundesrepublik keine wirkungsvolle Opposition gibt. Dessen ungeachtet kann die durch den Zustrom von ›Schutzsuchenden‹ seit 2015 verschärfte, womöglich unlösbare Integrationsproblematik ›in diesem Land‹ – in den Jahren als Oppositionsführerin kamen Merkel noch Worte wie ›Deutschland‹ und ›Vaterland‹ über die Lippen – schon jetzt als das eigentliche historische Vermächtnis Merkels gelten. Ihre politisch unzweifelhafte Hinterlassenschaft ist die AfD.
Bis dahin mag man das flüssig – und unpolemisch – geschriebene Buch als Auffrischung des bereits Bekannten lesen, angereichert mit Insider-Episoden, welche die Mechanismen der Parteipolitik, die Kritiklosigkeit und jubelnde Unterwerfungsbereitschaft von an ihren Job gebundenen Berufspolitikern erhellen. Zu empfehlen sind die in Kapitel 2 (»Die Bilanz – Deutschland nach 13 Jahren Merkel«) gebotenen Informationen zur Wirtschaftspolitik. Im Falle Griechenlands schwenkte Merkel im Sommer 2015 – in den 1990er Jahren rhetorisch noch radikale Marktwirtschaftlerin – auf die Linie der meisten –vornehmlich die an weicher Währung interessierten – Euro-Länder ein und überstimmte Finanzminister Schäuble, der für einen temporären Austritt aus dem Euro plädiert hatte. Die zur Euro- und Griechenland-Rettung ersonnenen Konzepte – zur Umgehung des no-bail-out-Prinzips bei der Gründung der Währungsunion – beruhen auf einem durch die Nullzins-Politik der EZB abgestützten System kontinuierlicher Kreditausweitung. Der Weg in die Transfer- und Haftungsunion sowie zu gemeinsamer Staatsverschuldung – offen gefordert von Emanuel Macron – wird von den Apologeten dieser Politik verschleiert. Die Rede von der vom schwachen Euro profitierenden deutschen Exportwirtschaft ignoriert die Tatsache, dass angesichts der von der Bundesbank nie einlösbaren Target-Forderungen – annähernd 1 Billion Euro – der Euro »in Wahrheit ein Subventionsprogramm [ist], das wir selber bezahlen«, so der Ökonom Daniel Stelter (zit. 67). Es handelt sich um ein System der Krisenverschleppung (71).
Den Kern des Buches bildet die These von der »unpolitischen Politikerin« Merkel. Knauß bescheinigt Merkel »extrem hohe analytische Intelligenz«, vermutet bei ihr – nicht anders als Peter Sloterdijk – indes einen inneren Hohlraum. (123) Auskünfte über ihr Innenleben sind von der Tochter des ehedem in die DDR übersiedelten linksprotestantischen Pastors Horst Kasner nicht zu gewinnen. Dem Journalisten Hugo Müller-Vogg beschied sie auf die Frage nach ihren politischen Überzeugungen mit fröhlichem Lächeln: »Ich weiß, ich weiß, das ist die Frage, auf deren Antwort ganz Deutschland wartet.« (122)
Die These: »Angela Merkel ist ein unpolitischer Mensch« ist in doppeltem Sinne brisant. Sie verweist zum einen auf die Leerstelle in Merkels Verständnis von Politik, genauer »des Politischen«. Knauß verwendet bewusst – wenngleich in abgeschwächter Form – den im ideologischen Raum bundesrepublikanischer Wohlanständigkeit verpönten Begriff von Carl Schmitt. Als unverdächtige Zeugin ruft er die eher linke Politologin Chantal Mouffe auf. In dem Buch Über das Politische (2005) konstatiert sie, dass gerade auch demokratische Politik ohne die grundlegende Unterscheidung von wir und sie nicht auskomme (143). In der Politik geht es um die Definition und Wahrnehmung von Interessen gegenüber den Ambitionen der ›anderen‹, nicht um harmloses Eiapopeia.
Zum anderen ist das Unpolitische – ein reaktives, ausschließlich taktierendes Verhalten – hoch- politisch. Politik ist nicht der ziellos beliebige Umgang mit (anvertrauter) Macht, sondern der mit ›Leidenschaft‹ (Max Weber) betriebene, verantwortungsbewusste Verfolg von Zielen inmitten einer konfliktreichen, vom Eigennutz anderer Mächte (heute: players) bestimmten Realität. An die Stelle von – durchaus auch politisch-ethischen – Zielen ist die Beschwörung inhaltsloser ›Werte‹ – Weltoffenheit, Toleranz, Vielfalt etc. – getreten. Merkel beherrscht in gewohnt peinlicher Sprache auch diesen Jargon.
Die dank Ehrgeiz, Protektion – zu erinnern ist an ihren einstigen Förderer Helmut Kohl – und Geschick ins Amt gelangte Bundeskanzlerin Angela Merkel erscheint als Person ohne Ausstrahlung, ohne historischen Sensus, ohne patriotische Passion, last but not least ohne Sinn für das Politische. Eine solche Führungsfigur dürfte sich Deutschland, das Land in der Mitte Europas, nicht leisten. Der Autor zitiert Henry Kissinger, ›eldest statesman‹ der USA: »Angela Merkel is very local. I like her personally and I respect her, but she is not a transcendent figure.« (185). Freundlich formuliert, birgt der Satz ein vernichtendes Urteil über die seit dreizehn Jahren unangefochten regierende Kanzlerin Merkel.
Im Blick auf die epochale politische Fehlleistung Merkels in der ›Flüchtlingskrise‹ seit Herbst 2015 attestiert Ferdinand Knauß Merkel eine »leidenschaftslose Gleichgültigkeit gegen die Folgen ihres eigenen Nichthandelns«. (218) Dies werde offenbar in ihrem Satz »Nun sind sie halt da.« Ein hoher Sicherheitsbeamter hatte damals prophezeit, man werde »eine Abkehr vieler Menschen vom Verfassungsstaat erleben.« (Ibid.) Dazu der Kommentar im Schlußsatz des Buches: »Das wäre die schlimmste Spätfolge dieser langen, verhängnisvollen Kanzlerschaft.« (219)
Doch wie es scheint, ist Merkels Kanzlerschaft eben noch nicht zu Ende. Potenzielle Nachfolger mit Sinn und Leidenschaft für das Politische sind – von gewissen Erwartungen an den CDU-Politiker Friedrich Merz abgesehen – in Deutschland, das an der so vergeblichen wie überheblichen und unpolitischen »Sehnsucht der Deutschen nach Wiedergutwerdung« (Markus Vahlefeld, zit. 205) leidet, in keiner Partei in Sicht.