von Gunter Weißgerber

1992 starb der große deutsche und europäische Sozialdemokrat Willy Brandt. Vieler Menschen Wege kreuzte er, viele begleiteten ihn über längere, auch kürzere Wegstrecken. Klaus-Henning Rosen ist so einer, der den Jahrhundertmann Brandt eine längere Zeit eng begleitete und unterstützte. 15 Jahre sind in der großen Politik eine ganze Menge. Daraus lässt sich gut schöpfen.

Rosens Zeit im Bundeskanzleramt begann mit den Forderungen des ÖTV-Vorsitzenden Kluncker nach einer fünfzehnprozentigen Lohn- und Gehaltssteigerung im Öffentlichen Dienst für 1974 und den damit einhergehenden schwierigen Diskussionsprozessen. Beinahe wäre Brandts Kanzlerschaft an dieser unerfüllbaren Forderung gescheitert. Selbst Bundespräsident Heinemann riet Brandt, gegebenenfalls mit Rücktritt zu drohen. Der erste Verhandlungsmarathon scheiterte, die Schlichtung brachte immer noch astronomische elf Prozent für Kluncker und seine ÖTV. Für Brandt war es eine bittere Niederlage, auch wenn Rosen es so deutlich nicht beschreibt.

Guillaume mag wenig später der endgültige Auslöser für Brandts Rücktritt gewesen sein, Klunckers Sieg wird wohl die Grundstimmung für diesen Schritt mitgeschaffen haben. Die weiteren Gründe wie Wehners 1973er »der Herr Bundeskanzler badet gern lau« – von Moskau aus in die Welt gesetzt – und vieles mehr müssen hier nicht erörtert werden. Es geht um die Zeit Rosens mit Brandt.

Stichwort Guillaume. Ausgerechnet dem Mann lief der Neuankömmling im Kanzleramt Rosen über den Weg als er dem Bundeskanzler den Spruch des Schlichters überbringen sollte. Noch nicht mit den Fallstricken und -gruben im Amt vertraut, ließ er sich die Überbringung des Schiedsspruches an Brandt durch Guillaume abnehmen (S. 133).

Den Wechsel von Brandt zu Schmidt erlebte Rosen als von beiden noch entfernt arbeitender Beamter im Kanzleramt. Einmal im Monat protokollierte er die Kabinettsitzungen unter Leitung Brandts und später Schmidts. Beider Temperamente skizziert er deutlich mit der ihm eigenen Contenance. Lediglich Schmidts Sottisen gegenüber Eppler deutet er relativ deutlich an, wobei ich nach Jahrzenten hier noch immer und erst recht auf Seiten Schmidts stehe. Diese Bemerkung genehmige ich mir.

Schmidts Kritik an seinen Ministern ist legendär. Wer nicht schnell genug im Sinne Schmidts begriff und nicht akkurat im Stoff stand, der hatte es nicht wirklich leicht. Auch das skizziert Rosen. Sein eigener Start mit dem nicht zur Kumpelhaftigkeit neigenden Schmidt verlief holprig, wurde aber mit Schmidts eigener Erkenntnis, in Rosen einen erstklassigen Beamten auf dem Flur zu haben, schnell besser. Rosen spürte, Schmidt verließ sich auf ihn. Mehr an Augenhöhe war bei Schmidt nicht zu erreichen. Da ich das Glück hatte, Brandt und Schmidt noch persönlich kennenzulernen, denke ich, Rosen bekam mit dem »Danke, Sie haben mir eine gute Rede aufgeschrieben« (S. 136) Schmidts Ritterschlag. So sieht es Rosen auch. Schmidt hatte Rosen ruppig getestet. Rosen bestand. Geschenke taugen ohnehin wenig in solcherart Beziehungskisten.

Zum 1. Juni 1976 wechselte Klaus-Henning Rosen zu Willy Brandt. Brandt als ehemaligem Bundeskanzler stand ein Büro zu und Rosen sollte dies fortan leiten. Dass Rosen ausgerechnet im glücklichsten Moment der jüngeren deutschen Geschichte den Dunstkreis Willy Brandts im November 1989 verlassen würde, stand damals noch in den Sternen.

Rosen beginnt sein Buch mit dem wohl wichtigsten Ereignis in Brandts politischem Leben nach der Außenminister- und Kanzlerschaft. Brandt und Rosen waren am 10. November 1989 nach dem Mauereinsturz nach Westberlin in Berlin, Egon Bahr war nicht dabei. Warum Bahrs Nichtanwesenheit im Flugzeug und im Laufe der nächsten Stunden mit Willy Brandt der Erwähnung wert ist? Liebe Leser, die Seiten 14 bis 28 geben wenig bekannte und dafür umso interessantere Einblicke in das, was Egon Bahr unter persönlicher Geschichtsschreibung in Verbindung mit seiner ›Sonne‹ Brandt verstand.

Rosen beschreibt in der Folge den sozialdemokratischen West-Ost-Kennenlernprozess in Personalunion als Vorsitzender eines westdeutschen Ortsvereins (SPD-OV Rheinbreitbach) und als enger Begleiter von Willy Brandt, dem die Herzen nur so zuflogen. Neben noch heute anhaltenden Freundschaften begannen zugleich auch die Enttäuschungen. Der Spitzel Manfred (»Ibrahim«) Böhme sollte eine der ersten großen Ausfälle, jedoch keinesfalls die letzte dieser Art werden.

Sogar rückwirkend kam das alles mit Wucht auf ihn zu. Gerade seine innenpolitischen Hauptthemenbereiche Extremistenbeschluss und ›Blick nach rechts‹ wimmelten zwangsläufig von Irrlichtern mit ihren Auftraggebern von jenseits des ›Eisernen Vorhangs‹. Diese Gefahr war Rosen sicher bewusst, das Ausmaß konnte er erst nach ›Friedlicher Revolution‹, Mauerfall und dem Stasi-Unterlagen-Gesetz erfahren. Daran knabbert er heute noch. Als mit der Ungnade östlicher Geburt beglückter, konnte ich beim Lesen seiner diesbezüglichen Schilderungen ob einer gewissen freundlichen Naivität ab und an staunen. Eindruck hinterlässt bei mir Rosens Offenheit.

Dass es neben dem ›Blick nach rechts‹ in der SPD nicht gleichzeitig einen ›Blick nach links‹ gab, das empfand ich ab 1990 in der gemeinsamen Partei als schweren Fehler, der aber nicht Rosen anzulasten ist. Diese Sensibilität und Entscheidung war ein Dilemma der gesamten SPD. Manche unangenehme Überraschung wäre keine geworden. In Ostberlin saßen definitiv keine Freunde.

Am 26. Oktober 1977 (S. 168 ff.) kreuzte Rosens Weg ein Mann, dessen Hintergrund und Werdegang ihm runde vierzig Buchseiten wert ist. Mit Kurt Hirsch platzierte das Ministerium für Staatssicherheit einen zweiten Top-Zuträger und -Zersetzer nach Günther Guillaume direkt in Brandts intimes Umfeld. Nicht direkt an Brandt angedockt, wohl aber an Brandts Büroleiter. Kurt Hirsch war übel und doch effektiv. »Dass Kurt Hirsch auf diese Weise seine Auftraggeber in Ostberlin noch besser über die SPD informieren konnte, sahen wir erst nach der Herstellung der deutschen Einheit.« (S. 188).

An dieser Stelle weiche ich stilistisch von den Gepflogenheiten bei Rezensionen ab und füge meine persönliche Nachfrage an den Verfasser samt seiner in ihren Details sehr wichtigen Antwort ein:

GW: Sie schreiben, dem Bundesamt für Verfassungsschutz seien die Kontakte Hirschs zu Ihnen zu keinem Zeitpunkt verborgen gewesen sein, auch wurden Sie zu keinem Zeitpunkt von dieser Seite gewarnt. Gerade nach den Fehlern oder besser Hinterhalten in der Affäre ›Guillaume vs. Brandt‹ zwei Jahre vorher scheint mir das intensiver Nachfragen wert. Stimmt mein Eindruck, dass es bei ›Hirsch vs. SPD‹ auch im Hinblick des Verhaltens bundesdeutscher Dienste weiterer Aufklärungsarbeit bedarf?

K.-H.R.: Was die Sache rund machen könnte, ist die Tatsache, dass der erste Kontakt mit Kurt Hirsch vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wurde, das sodann in regelmäßigen Abständen seine ›Späher‹ ausschickte, um zu erfahren, was H. von mir wollte. Dies geschah, obwohl H. bereits seit 1962 unter Beobachtung des BfV stand, dass ihm nachrichtendienstliche Tätigkeit nachzuweisen versuchte. Mich empört, dass zwei Jahre nach der Enttarnung von Guillaume H. praktisch als Ermittlungshilfe bei mir platziert wurde, wie man seinerzeit GG bei Brandt gewähren ließ. Ich hatte im Buch bedauert, dass ich keine Einsicht in die Akte des BfV bekommen hatte, das ist auf Antrag vom Januar 2016, erneuert nach Ablauf der Verschlußfrist im Juli 2017, erst zu Anfang dieses Jahres geschehen. In den 2000 Blatt Akten, weitgehend geschwärzt bzw. mit Austauschblättern versehen tauche ich ein einziges Mal erst am Ende mit dem Aktenvermerk auf, in dem ich Peter Glotz die ›Enttarnung‹ von H. durch eine seiner Mitarbeiterinnen mitgeteilt hatte, obwohl es mehrfach Situationen gab, in denen H. Termine bei mir bzw. wir gemeinsam etwa bei Veranstaltungen von Gewerkschaften u.a. hatten. Jetzt liege ich mit dem Amt in einer Diskussion über den Grund hierfür.

Soweit zur Nachfrage an Karl-Henning Rosen. Mein Eindruck nach der Lektüre dieser Passagen: Die Bundesrepublik fiel der DDR nicht auf den Gabentisch, weil die Institutionen und Parteien der Bundesrepublik sich als wehrhafte Gemeinschaft erwiesen, sondern: Es kann nur die positive Schuld der Westalliierten gewesen sein, dass das bessere Bonner Deutschland nicht vor dem diktatorischen Ostberliner Deutschland in die Knie ging. Klaus-Henning Rosen sei Dank. Die Lektüre seines Buches wirkt wie ein Schlüssel zu einer Kammer, in der noch viele Erklärungen gefunden werden können, für Ereignisse und Prozesse, deren Hintergründe bei weitem noch nicht offen vor uns liegen.

Die Union und die anderen Bundestagsparteien bis 1989 mögen nach dieser Rezension in ihrer Deckung bleiben. Nach der Friedlichen Revolution wurde ich beispielsweise mit einem mir unangenehmen Christdemokraten bekannt gemacht, er war angeblich tüchtig in der Vereinigung »Europa-Union« unterwegs, der wenig später als emsiger Stasi-Spitzel in Kohls engster Umgebung aufflog. Der Kurt Hirsch der CDU hieß Hans-Adolf Kanter. Es ist jetzt müßig, die Kurt Hirschs in der FDP und bei den Grünen aufzuzählen. Darum geht es in Klaus-Henning Rosens Grenzland nicht. Bei anderen zu kehren scheint nicht sein Ding.

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