von Ulrich Horb
Probleme und Mängel in der Integration von Migrantinnen und Migranten sind vor allem in den großen Städten unübersehbar. Immer wieder lösen Brandbriefe von Schulleitern oder spektakuläre Gewaltvorfälle auch heftige öffentliche Auseinandersetzungen aus und lenken den Blick kurzfristig auf die Situation in Schulen und Kiezen. Mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ hat Thilo Sarrazin jetzt ein Bedrohungsszenario entwickelt, das der Integration wenig hilft, das aber offenkundig der Gefühlslage eines nicht geringen Teils der Bevölkerung entspricht. Die Debatte zeigt aber auch, dass es in Deutschland weder eine gemeinsame Vorstellung darüber gibt, wie Integration erfolgen soll noch wann sie gelungen ist.
Als weithin akzeptiert gilt, dass Russlanddeutsche über Jahrzehnte ihre Sprache und Kultur unter schwersten Bedingungen bewahrt haben, dass sie ein kleines Stück Heimat in Form von Kunsthandwerk und Gebräuchen bewahrt haben, das zum Teil weit hinter der realen Entwicklung in Deutschland zurückgeblieben war. Normal ist es auch, dass sich deutsche Seniorinnen und Senioren in ihren Altersruhesitzen auf Mallorca oder im türkischen Alanya in deutschen Gruppen treffen und untereinander deutsch sprechen. Dabei spielen in der Regel neben dem Stolz auf die eigene Herkunft und Kultur auch Bequemlichkeit – Spracherwerb ist mühselig - und Gewohnheit eine Rolle.
Wie und wann Migranten in Deutschland integriert sind, ist offen. Zum Grundkonsens gehört, dass dazu die Beherrschung der deutschen Sprache gehört. Aber wie viel an traditioneller Kultur darf beibehalten werden? Welche Heiratsrituale vertragen sich mit dem Leben in Deutschland? Wie viel Religionsausübung ist möglich, wenn der Bau von Moscheen Proteste in der Nachbarschaft auslöst? Wie sichtbar darf Andersartigkeit werden?
In der Bundesrepublik Deutschland war Integration lange Jahre kein Ziel. Die deutsche Wirtschaft wollte ab Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts ihren kurzfristigen Bedarf an Arbeitskräften decken. Das im Oktober 1961 mit der Türkei geschlossene Anwerbeabkommen – zuvor hatte es ähnliche Abkommen bereits mit Italien, Spanien und Griechenland gegeben - sah eine Höchstaufenthaltsdauer von zwei Jahren ohne Möglichkeit der Verlängerung vor. Den nach Deutschland gekommenen Arbeitskräften wurden Plätze in Wohnheimen angeboten oder sie fanden Wohnungen in den sanierungsbedürftigen Altbauvierteln der Städte. Deutsche Sprachfähigkeit war erwünscht, soweit sie für die Verrichtung der überwiegend einfachen Tätigkeiten notwendig war. Es ging um eine vorübergehende Anpassung.
Vor allem über die Arbeit erfolgte fast unbeabsichtigt eine Integration. Erst in den siebziger Jahren wurden Probleme und Schwierigkeiten vor allem Jugendlicher offener angesprochen, unklare Rückkehrpläne der Eltern und schulische Schwierigkeiten ließen einen nicht geringen Teil von ihnen zwischen zwei Kulturen aufwachsen. In den neuentstandenen Brennpunkten der Sanierungsviertel von Großstädten arbeiteten überlastete Lehrer an Schulen, die 80 Prozent Kinder aus nichtdeutschen Familien zu unterrichten hatten und an denen die Kinder aus deutschen Familien über kaum mehr Sprachkompetenz verfügten. Dass Integration in den kommenden Generationen ein Selbstläufer werden würde, erwies sich als Irrtum. Und die Konzentration auf bestimmte Stadtviertel mit billigem Wohnraum enthob vor allem nachziehende Familienangehörige vom Druck, die deutsche Sprache lernen zu müssen. Als Helmut Kohl 1982 an die Regierung kam, setzte er sich für eine Ausländerpolitik ein, die sowohl Integration als auch Rückführung ermöglichen sollte und damit den Schwebezustand verlängerte. Erst die rot-grüne Bundesregierung hat in ihrer Amtszeit die Weichen neu gestellt. Kernstück war 1998 ein reformiertes Staatsbürgerschaftsrecht mit dem Ziel, Einbürgerungen von in Deutschland lebenden Ausländern zu erleichtern und damit die Integration von rund 7,4 Millionen Menschen voranzubringen.
Die Nützlichkeit für die bundesdeutsche Gesellschaft stand am Anfang der Zuwanderung. Knapp 50 Jahre später macht Thilo Sarrazin erneut eine Nützlichkeitsrechnung auf, die die Vergangenheit – und mithin den durch Zuwanderung erreichten wirtschaftlichen Gewinn - allerdings ausblendet: „Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt (…) hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.“ Vermengt wird diese Debatte von Sarrazin zudem mit Fragen der demografischen Entwicklung und mit Thesen, die an die frühe Eugenik erinnern.
Das Buch hat wenig mit Fragen der Integration zu tun. Oder andersherum: Die öffentliche Debatte darüber hat wenig mit dem Inhalt des Buches zu tun. Wenn Thilo Sarrazin im Zusammenhang mit seinem Parteiausschlussverfahren aus der SPD und einer Entlassung aus dem Bundesbank-Vorstand Rückhalt aus der Bevölkerung bekommt, dann vor allem, weil eine offene Diskussion über die empfundenen und realen Probleme gewünscht wird. Sarrazin wird mit der – auch drastischen - Beschreibung eines Problems identifiziert. Ein Erfolg der Verlagsstrategie, mit Vorabdrucken in Spiegel und Bild gut eine Woche vor der Buchpräsentation schon einmal eine Integrationsdiskussion anzuheizen, ohne dass eine tiefere Kenntnis der wirklichen Aussagen Sarrazins möglich war.
Vom Medienecho konnte sich Thilo Sarrazin zumindest in den ersten Tagen bestätigt fühlen. Ein großes Interview in der Zeit, eine Sondersendung im RBB. Talkshow-Auftritte bei Beckmann und Hart aber fair, Rücktritts- und Austrittsforderungen im Stundentakt. Die Kanzlerin nahm sich Zeit für eine Distanzierung. All das muss ihm beweisen: Er wird ernst genommen. Viel Feind, viel Ehr.
„Pro Deutschland“ hängte sich an seinen Erfolg an und bot ihm den Vorsitz der rechtsextremen Vereinigung an, die NPD wollte ihn immerhin noch zum Rückführungsbeauftragten machen. Haben sie ihn missverstanden? Ihn, den Sozialdemokraten, der nur den Finger in die Wunde legen will? Der gleich in der Einleitung seines Buches Lassalle bemüht: „Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist“? Und der doch auch ein Bildungssystem fordert, das Chancengleichheit ermöglicht, was ja irgendwie sozialdemokratisch klingt?
Tatsächlich bietet das 464-Seiten dicke Werk Sarrazins so etwas wie einen wissenschaftlichen Unterbau für schlichte Lösungsansätze an, ohne diesen Anspruch dann allerdings wirklich einlösen zu können. Mit Statistiken und Durchschnittswerten will Sarrazin „logische Wahrheiten“ untermauern. Auf seinen 464 Seiten ist er der letzte Universalgelehrte, er liefert historische Abrisse über Gesellschaftsentwicklungen, er ist Statistiker, aber auch Psychologe, Soziologe, ein bisschen Bildungsforscher und ganz viel Genforscher. Mit seinen Tabellen und Statistiken - im Buch sind viele verteilt und einige unter dem Titel „Demografie, Produktivität und Altenlast“ angehängt - umgibt sich Sarrazin mit dem unangreifbaren Mantel von Wissenschaft und Korrektheit („Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische Erhebungen, argumentiere aber direkt und schnörkellos“). Und zugleich kokettiert er mit der politischen Inkorrektheit: Eigentlich dürfe man all dies ja gar nicht aussprechen. Der Gutmenschen wegen, die das nicht mögen. Dabei spricht er nicht zum ersten Mal darüber. Und jedes Mal hatte er sein gewaltiges Presseecho.
Dennoch wird die Mär gepflegt, es gebe Tabuthemen in der Gesellschaft, in den Medien. „Hartz-IV-Generationen, Parallelgesellschaften, Zuzug aus Anatolien, arbeitslose Unterklasse. Das alles schreiben Sie in Ihrem Buch, lieber Thilo Sarrazin, was wir uns nicht zu denken wagen“, jubelt zum Beispiel Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner in eben jener Zeitung, die die Vorabdruckrechte von Sarrazins Buch wohl deshalb kaufen musste, weil ihre Kolumnisten nicht zu denken wagen.
Was ist jetzt eigentlich das, was nicht einmal die Bild-Zeitung, sondern nur ein Sarrazin auszusprechen wagt? Über die Schwierigkeiten in der Integration jedenfalls reden viele seit langem. Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky in zahlreichen Talkshows, Ausländerbeauftragte, Stadtteilmütter. Klaus Wowereit und Kenan Kolat leiten eine Zukunftswerkstatt der Bundes-SPD zu diesem Thema - nicht ohne Grund. Die Berliner SPD, der Sarrazin zur Zeit der Bucherstellung angehört, lud im Frühjahr 2010 zur „Ideenkonferenz“ Integration – ohne dass Sarrazin teilnahm.
Im Juli 2001 legte die Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ unter Vorsitz von Rita Süßmuth ihren Bericht vor. Im Kapitel „Miteinander leben“ hieß es: „Als politische Aufgabe zielt Integration darauf ab, Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen. Dazu sind Anstrengungen beider Seiten erforderlich: Während die Aufnahmegesellschaft Zuwanderern mit dauerhafter Aufenthaltsperspektive einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem ermöglichen muss, sind die Zuwanderer ihrerseits gefordert, Deutsch zu lernen. Zudem haben sie selbstverständlich – wie jeder andere Bürger – die Pflicht, die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu befolgen.“ Und etwas weiter wird bilanziert: „Nach Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Millionen Ausländer und Aussiedler eingewandert. Ihre Integration verlief in vielen Fällen sehr erfolgreich. Zahlreiche Organisationen und Institutionen, wie die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände, die Sportvereine und die Kirchen, haben wertvolle Integrationsarbeit geleistet. Gleichwohl zeichnen sich Probleme, Konflikte und politische Defizite ab, vor denen wir die Augen nicht verschließen dürfen.“
Das mag zu brav formuliert sein. Der politisch inkorrekte Sarrazin dagegen blendet positive Entwicklungen nahezu vollständig aus. Und für die Missstände liefert er der Öffentlichkeit endlich die Schuldigen: die Muslime, die bildungsfern sind. Deutschland kann sich zurücklehnen.
Dieser zweite Teil des Buches, der die eigentliche Kernthese Sarrazins enthält, ist es, der alle sinnvollen Anregungen und Zustandsbeschreibungen zunichte macht. In der Sarrazinschen Logik ist Unterschicht mehr oder weniger erblich. Wer über Intelligenz verfügt, steigt auf. „Je besser die Durchlässigkeit eines Bildungssystems ist, umso eher und umso nachhaltiger erschöpft sich das Potential an Höchst- und Hochbegabten aus den unteren Schichten.“(Sarrazin, S. 82) Will sagen: Wenn bereits alle Angehörigen der Unterschicht, die mit dem „Intelligenz-Gen“ ausgestattet sind, aufgestiegen sind, kann ja nichts mehr nachkommen. Da braucht man dann auch nicht mehr Geld für Bildung auszugeben. Sarrazins Schuldzuweisung trifft den Einzelnen: „In einer wirklich chancengleichen Gesellschaft ist jemand nur noch aus Gründen ,unten’, die in seiner Person liegen.“ (Sarrazin, S.174). Vor allem den türkischen und arabischen Migranten attestiert er: „Man muss also gar kein Sozialwissenschaftler sein, um zu erkennen, was falsch läuft mit den muslimischen Migranten in Deutschland. Die wenigen, die den Ausstieg und Aufstieg schaffen, leiden unter dem niedrigen Prestige ihrer Landsleute. Viele von ihnen werden gehen, wenn sich Chancen in den Herkunftsländern bieten. Bleiben und weiter überdurchschnittlich viele Kinder in die Welt setzen werden jene, die eine negative Auslese bilden.“ (Sarrazin, S. 325)
Und auch die Hartz-IV-Empfänger, die sich auskömmlich und vitaminreich ernähren könnten, wenn sie das Geld nicht in Alkohol, Tabak und Unterhaltungselektronik stecken würden: selber schuld. „Durch unsere Art, die materielle Armut zu lindern, fördern wir millionenfach Passivität, Indolenz sowie die Armut im Geiste und rauben den Menschen Stolz und Selbstbewusstsein.“ (Sarrazin, S. 128)
Und der Autor geht zum Angriff auf die von ihm identifizierten Gutmenschen über: „Die Erkenntnis, dass Intelligenz zum Teil erblich ist, verträgt sich nur schwer mit Gleichheitsvorstellungen. nach denen die Ursachen von Ungleichheit unter den Menschen möglichst weitgehend in den sozialen und politischen Verhältnissen zu suchen sind.“ (Sarrazin, S.97) Eine Argumentation, die am Kern vorbeigeht: Linker Politik geht nicht um Gleichmacherei von Menschen, sondern darum, für gleiche Chancen zu sorgen, damit sie ihre Unterschiedlichkeit leben können. Es geht um ein Menschenbild, das von Respekt geprägt ist und Menschen nicht in Tabellenkästchen steckt, um ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft zu errechnen. Sarrazin nimmt die Schichtenunterschiede als naturgegeben hin. Mit Gebärprämien für intelligente Frauen, dem Entzug von Sozialleistungen für nachgezogene Migranten oder der Verschärfung von Zuzugsregelungen versucht er innerhalb seines Systems von Unterschicht und Oberschicht die Zahl der jeweils Zugehörigen zu steuern.
Vererbung geht allerdings nicht in dieser Schlichtheit vonstatten. Viele Anlagen spielen dabei eine Rolle, die in einer anregenden Umgebung wieder anders zum Tragen kommen als in einem monotonen Umfeld. Die von Sarrazin bemühten Intelligenztest s liefern Ausschnitte, prüfen standardisierte Fähigkeiten ab und sind daher auch nur bedingt aussagefähig - von emotionaler und sozialer Intelligenz ganz zu schweigen.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft, das sich in vielen Teilen des Landes angesichts der tatsächlichen Probleme in der Integrationspolitik erst noch entwickeln müsste, die Erkenntnis, dass jede und jeder auch gebraucht wird, wenn der gesellschaftliche Wohlstand erhalten, aber auch Herausforderungen wie der Klimawandel bewältigt werden sollen, das wird durch die jetzt aufgebrochene Diskussion eher verhindert.
Tatsächlich muss die Integrationsdebatte ernster genommen werden als Thilo Sarrazins Buch. Sie muss nicht neu erfunden, aber von ritualisierten Beteuerungen befreit werden. Aus der Vielzahl von einzelnen Integrationsvorgängen lassen sich je nach politischem Standort und Argumentationsbedarf international erfolgreiche Regisseure türkischer Herkunft, erfolgreiche Reiseveranstalter oder Drogenhändler mit libanesischem Familienhintergrund herausfiltern. Der türkische Obst- und Gemüsehändler kann, auch wenn er seine Familie geschäftlich ausbeutet, einen Beitrag zur Stabilisierung eines Kiezes leisten. Die Gang arbeitsloser Jugendlicher kann Anwohner nachhaltig in Angst und Schrecken versetzen. Zur differenzierten Wirklichkeit gehört auch, dass Kurden, Armenier und Aleviten andere Interessen haben als türkische Migranten, dass mitgebrachte politische, familiäre oder religiöse Konflikte auch in Deutschland ausgetragen werden, dass Kriminelle die Strafunmündigkeit von Kindern für ihre Geschäfte ausnutzen und dass es an den Schulen gleichzeitig millionenfach Freundschaften zwischen Jugendlichen aus Familien unterschiedlichster Herkunft gibt.
Die Einzelbeispiele bieten sich also nicht zur generalisierenden Debatte an, sondern nur zur Prüfung, ob es für den Einzelfall passgenaue Lösungen gibt. Deshalb hat das verallgemeinernde Multikulti-Gerede der Integration wohl genauso geschadet wie die konservative Wirklichkeitsverweigerung, Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen. Das eine hat Deutsche ausgegrenzt, die sich mit ihrer Wahrnehmung nicht ernst genommen fühlten, das andere Migrantinnen und Migranten.
Ein wirklicher Neuanfang scheint nötig, bei dem eine soziale Integration - unabhängig von ethnischer Herkunft - im Mittelpunkt steht, die Teilhabe an Arbeit, Bildung und Kultur bietet, die Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet, Engagement fördert und Anerkennung verschafft. Bildung bleibt dabei ein Schlüssel, aber die Messlatte dafür ist das Bemühen und das Ausschöpfen der eigenen Fähigkeiten. Anerkennung darf sich nicht auf wenige Bildungsabschlüsse oder Einkommensgruppen beschränken, sondern muss auch Vielfalt in einer Gesellschaft würdigen.