Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialdemokratie
von Stephan Hilsberg
Die SDP hat viel mit Berlin zu tun. Hier tagte ihr Vorstand, hier liefen die Fäden zusammen, von hier aus agierte sie. Auch die Gründung der SPD insgesamt hat viel mit Berlin zu tun. Denn einer ihrer beiden Gründungsväter, Ferdinand Lassalle lebte in Berlin. Und es war in der damaligen Hauptstadt des Königreichs Preußen, in der Lassalle zu dem Schluss kam, dass es einer neuen politischen Kraft bedarf, um die in seinen Augen steckengebliebene Demokratisierung und Parlamentarisierung Preußens der 50-ger Jahre des vorletzten Jahrhunderts, der entscheidenden politischen Größe der zersplitterten deutschen Lande, voranzutreiben.
Eine notwendige Gründung
In einem bemerkenswerten, noch heute lesenswerten Vortrag analysiert Lassalle, der ja Hegelianer war (und Hegels Name ist bekanntlich auch eng mit Berlin verbunden), das Versagen der liberalen Partei, die ihre geringen, aber vorhandenen parlamentarischen Veto-Möglichkeiten gegenüber der preußischen Krone nicht benutzte, um ihr weitere parlamentarische Rechte abzutrotzen. Der Hebel wäre das parlamentarische Haushaltsrecht gewesen. Und dazu hätte das Parlament schlicht und einfach Kriegskredite für einen der Kriege Bismarcks verweigern müssen, um sie als Hebel für die Erstreitung weiterer parlamentarische Rechte einzusetzen. Doch in der damaligen überschwänglichen patriotischen Stimmung der öffentlichen Meinung fehlte der bürgerlichen Mehrheitspartei die Kraft dazu. Die bürgerlichen Kräfte dachten damals stärker monarchistisch, als dass sie sich ihrer eigenen demokratischen Werte bewusst waren.
In seltener Hellsichtigkeit machte sich Lassalle auf die Suche nach einer neuen politischen Kraft, die sich auf Grund der sozialen Lage nicht vor den Karren der Monarchie würde spannen lassen. Und er fand einen Partner in August Bebel, der von einer anderen Ecke her kommend, ebenfalls die Bedeutung der Erstreitung politischer Rechte entdeckt hatte. Er, der bisher auf Bildung gesetzt hatte – Macht gleich Bildung lautete ja der damalige Wahlspruch der Arbeiterbildungsvereine -, hatte erkannt, dass in der verkasteten Gesellschaft in Deutschland Bildung alleine keinesfalls reichte, um die Arbeiter zu gleichberechtigten Bürgern zu machen. In den Köpfen beider wurde die aus der Taufe zu hebende neue sozialdemokratische Partei ersonnen, eine klassische Kopfgeburt. Und, nur so viel sei zu diesem umstrittenen Begriff angemerkt, anders geht es auch gar nicht, wenn man etwas tragfähiges Neues schaffen will.
Lassalle war eine schillernde Gestalt, nicht nur Philosoph und Politiker, sondern auch Frauenheld, was ihn mit seinen antiquierten Moralvorstellungen letztlich das Leben kostete, denn er verlor es bekanntlich in einem Duell wegen einer Frau. Schade für die Geschichte der Sozialdemokratie. Es wäre interessant geworden, die Kontroversen zwischen ihm und Marx, der ja von London aus die Geschicke der stärker werdenden SPD mitbestimmte, zu beobachten. Immerhin, erfolglos war die Gründung von Bebel und Lassalle nicht. Die Monarchie bekam es ordentlich mit der Angst um ihre Macht zu tun. Denn anders ist das Verbot dieser Partei durch Bismarck mit seinem Sozialistengesetz nicht zu verstehen.
Es war das erste von drei Verboten, das die Sozialdemokratie in ihrer Geschichte auszustehen hatte. Rückblickend betrachtet war es von allen dreien vielleicht noch das harmloseste. Denn die Partei durfte zwar öffentlich nicht wirken, Zeitungen durften nicht erscheinen, Kundgebungen nicht abgehalten werden. Aber sie verlor ihre parlamentarischen Mandate nicht. Und Bebel war offenbar ausgezeichnet in der Lage, die parlamentarische Bühne für die Anerkennung seiner damals noch jungen Kraft zu nutzen. Es hatte sich ausgezahlt, dass die SPD sich vor der ersten Reichstagswahl 1871 dazu durchgerungen hatte, an diesen Wahlen teilzunehmen, anfangs mit nur 5 oder 7 Abgeordneten, alle im schwarzen Anzug und mit der auswendig gelernten parlamentarischen Geschäftsordnung im Kopf. Und so war es möglich, dass die SPD auch innerhalb der Zeit ihres ersten Verbotes permanent weiterwuchs, so dass dieses Verbot, schließlich auch von Preußen als kontraproduktiv erkannt, 10 Jahre später wieder aufgehoben werden musste.
Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit
In der letzten Wahl vor Beginn des ersten Weltkrieges war die SPD stärkste Partei in Reichstag geworden, und hätte normalerweise den Kanzler stellen müssen, was ihr Wilhelm der Zweite, der die Sozis wegen ihres Internationalismus für vaterlandslose Gesellen hielt, bekanntlich verweigerte.
Und nach dem Krieg war die SPD die eigentliche Stütze der Weimarer Republik, die man heute etwas abschätzig Zwischenkriegszeit nennt, und politisch als gescheitert betrachtet. Doch wer das Wort Scheitern im Zusammenhang mit dieser ersten wirklichen deutschen Demokratie nennt, der muss genau hinsehen, wer und was hier eigentlich gescheitert ist.
Gescheitert sind die rechten bürgerlichen Kräfte in dieser Republik, die sich mit der Abwesenheit des Kaisers nicht haben abfinden können, und die sich mit der Vorstellung, mit Friedrich Ebert das erste Mal einen echten Arbeiter als Reichspräsidenten an der Spitze ihres Staates erleben zu müssen, nicht anfreunden konnten. Gescheitert ist das alte nationalistische Denken in Europa, das in Deutschland nicht die moderne Demokratie sah, zu der es sich entwickelt hatte, sondern lediglich den Verweser der besiegten deutschen Nation, die in den Augen von Frankreich und Großbritannien für diesen ersten Weltkrieg bezahlen sollte. Gescheitert ist, angesichts demokratischer Kinderkrankheiten, die Flucht der Reichsregierung und des Reichspräsidenten vor den Mühen der demokratischen Kompromisssuche in eine unheilvolle Politik quasi diktatorischer Dekrete. Und schließlich ist das Bündnis aus Großkapital, rechten politischen Kräften und Hindenburg gescheitert, die alle geglaubt haben, Hitler umarmen und zähmen zu können. Am Ende stand die Vernichtung nicht nur der halben Welt, sondern der deutschen Nation, die Hitler ja angeblich über allem thronen lassen wollte.
Es war absolut selbstverständlich, dass Hitler dabei zuerst die Kommunisten und die Sozialdemokraten loswerden wollte, in dem er sie von Anfang an terrorisierte und ermordete. Die Kommunisten aus ideologischen Gründen, sie zahlten den schlimmsten Preis für diese Feindschaft, und die Sozialdemokraten, weil sie immer eine Gefahr für die Stabilität von Hitlers Diktatur sein würden. Dies war das zweite Verbot, das die deutsche Sozialdemokratie zu erleiden hatte, und es war das schlimmste in ihrer Geschichte.
Neuaufbau nach dem 2. Weltkrieg
Schumacher, der die Partei nach dem zweiten Weltkrieg von Hannover aus wieder aufbaute, setzte bewusst auf eine Neugründung und nicht auf die Wiederbelebung der alten verbotenen und ja im Exil fortbestehenden alten Partei. Denn für ihn hatte auch die Sozialdemokratie am Ende der Weimarer Republik versagt, ähnlich dachte übrigens auch Willy Brandt. Spitzenpolitiker, die in der Weimarer Republik beim Kampf gegen die Nazis in den Augen Schumachers versagt hatten, bekamen in der neuen Partei keinen Einfluss mehr.
In der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ hingegen, wurde Grotewohl Chef des Zentralausschusses der SPD. Doch die Macht in der SBZ hatten die Kommunisten um Ulbricht von Stalins Gnaden. Und auch ihnen galt die SPD als entscheidendes Hindernis beim Aufbau eines kommunistischen Staates. Doch sie verboten sie nicht einfach, sondern gingen dialektisch vor. Getreu dem Motto von Ulbricht, es müsse demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben, verleibten sie sich die ostdeutsche Sozialdemokratie durch einen äußerlichen Vereinigungsprozeß einfach ein. Zwar durchschauten viele Sozialdemokraten das Manöver, aber der Terror der sowjetischen Besatzungsmacht und der subtile ideologische Druck der diktatorischen Machthaber verhinderten außerhalb Berlins nennenswerten Widerstand. Immerhin bewirkten die Berliner, dass dieser Einverleibungsprozess heute als Zwangsvereinigung in den Geschichtsbüchern steht.
In der DDR hörte das sozialdemokratische Herz das drittemal auf zu schlagen. Nicht wenige Sozialdemokraten, die ihrem politischen Bekenntnis die Treue hielten und sich mit demVerbot ihrer Partei nicht abfinden wollten, bezahlten dafür mit ihrem Leben oder landeten in Bautzen, verurteilt zu Strafen bis zu sieben Jahren. Und obwohl sich die SED trotz Zwangsvereinigung im ideologischen Sinn als legitimer Nachfolger auch der SPD verstand, galt ihr jede Form von Sozialdemokratismus in den eigenen Reihen als höchst verdächtig. Ihre vermeintlichen Urheber wurden nicht selten bis in die 80-ger Jahre hinein hart bestraft.
Der demokratische Weg
Der Hass auf die Sozialdemokraten war bei den Kommunisten wie bei den Nazis tief verwurzelt. Er galt einer Partei, die sich weithin als Partei der Arbeiter verstand und den einfachen Menschen eine Perspektive für Demokratie, Gleichberechtigung und sozial gerechte materielle Teilhabe am Volkseinkommen aufzeigte, ohne dabei Rechtsstaat und Parlament außer Kraft zu setzen. Im Gegenteil, für die SPD war nur ein demokratischer Weg zu ihren politischen Zielen wirklich gangbar und nachhaltig. Im Gegensatz zu Nazis und Kommunisten wollte die SPD demokratische Mitbewerber nicht unterdrücken. Sie wollte sie in Wahlen besiegen. Aber ihre politische Existenzberechtigung bestritt sie nicht. Und deshalb war eine attraktive SPD für die Kommunisten nicht nur als Wettbewerber sondern vor allem in ideologischer Hinsicht das Haupthindernis auf ihrem Weg zur Diktatur des Proletariats. Und deshalb schlossen sich die Existenz einer SPD und eine kommunistische Diktatur gegenseitig aus.
Das Verbot der SPD in der DDR wirkte so lange und so tief in die Menschen hinein, dass die psychologischen Anpassungsmechanismen innerhalb einer Diktatur selbst den Gedanken an eine Wiederbelebung der SPD ausschlossen. Was vorhanden war, war das Wissen um den kommunistischen Hass auf die SPD. Und was außerdem vorhanden war, war eine tiefsitzende Sympathie für die SPD der Bundesrepublik in breiten Schichten der Bevölkerung, verbunden mit Verlustgefühlen.
Das muss man wissen, wenn man verstehen will, in welcher Gefühlslage ich mich befand, als ich Ende August 89 den auf dem Schreibtisch meines Vaters befindlichen Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR las. Hier war jemand sehr mutig gewesen. Die Vorstellung, eine sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen, musste die SED auf das äußerste reizen. Aus Protokollen geht hervor, dass Mielke dies damals als Generalangriff bezeichnete.
Ich war erst erschrocken, dann fasziniert. Es ist mir nur selten passiert, dass ich bei der Lektüre eines politischen Papieres eine derartige innere Übereinstimmung empfunden habe. Ich hätte jedes der hier proklamierten Ziele unterzeichnen können: Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat, parlamentarische Demokratie, Wettbewerb der politischen Kräfte in freien Wahlen, soziale Marktwirtschaft mit ökologische Ausrichtung, Herstellung der allgemeinen Menschenrechte, ja sogar von der Wiederherstellung der alten Länder war hier die Rede. Bei der Formulierung dieses Papieres war jemand am Werk gewesen, der sich deutlich von den Vorstellungen der übrigen Opposition in der DDR abhob. Es gab hier keine unklaren Begriffe, keine verschwommenen Vorstellungen von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Es gab keine neuen Utopien, oder das Weiterleben alter. Das ganze blieb nicht stecken in irgendwelchen Vorformen von politischem Handeln. Hier wurde klare Kante gezeigt. Der Zugriff der SED auf Staat und Gesellschaft muss beseitigt werden, hieß die Devise. Die sozialdemokratische Initiative zielte auf das System, nicht auf innere Veränderungen mit etwaigen kleinen Schritten in ihm.
Die Autoren gingen aufs Ganze. Und über meine eigenen Vorstellungen hinaus, als sie schrieben, dass die Gesellschaft der DDR in die Krise geraten war, und dass sie quasi revitalisiert werden müsse. Krise ist ja ein Begriff, der u.a. in der Medizin verwendet wird. Hier meint er jenen spannungsreichen Zeitpunkt der Krankheit eines Patienten, in welchem sich zeigt, ob die Krankheit gewinnt, oder der Wille zum Leben sich durchsetzten kann. Kein schlechtes Bild für die DDR. Es ging ja bei einer Erneuerung des Landes nicht nur um äußere Merkmale, um die Infrastruktur, die zerstörten Innenstädte, um Straßen und Brücken oder um die Modernisierung der Betriebe. Es ging noch mehr um die Gesellschaft selbst, um ihre Potentiale, um Kreativität, Mut, Courage, Selbstbewusstsein und Emanzipation der Menschen, ohne die eine moderne Gesellschaft einfach nicht existieren kann. Die deformatorische Wirkung der SED-Diktatur fand ja nicht nur in der Fluchtbewegung, sondern noch mehr in den inneren und äußeren Anpassungsmechanismen der Bürger in der DDR ihren Ausdruck.
Der sozialdemokratischen Idee eine Heimat gegeben
So gesehen zog der Gründungsaufruf für eine sozialdemokratische Partei in der DDR einen Schlussstrich unter die gesamte 40-jährige Geschichte der DDR und zielte auf einen Neubeginn unter westlichen Vorzeichen. Und um das zu erreichen, griffen die Autoren auf die brachliegenden sozialdemokratischen Traditionen im Lande zurück, um sie wiederzubeleben. Sie gaben der sozialdemokratischen Idee auch in der DDR wieder eine Heimat.
Die Verhältnisse, die sie anstrebten, entsprachen der einer westeuropäischen Demokratie; insbesondere durch die Wiederherstellung der alten Länder und die angestrebte soziale Marktwirtschaft knüpfte der Aufruf aber noch mehr an den Wunsch nach einer Demokratie westdeutschen Vorbilds an, ohne dies explizit zu benennen. Von hier aus war es dann nicht mehr weit zur deutschen Einheit, denn dass die DDR ohne die Macht der SED und deren totalitären Charakter keine Existenzberechtigung mehr haben würde, war den meisten klar.
Von den vier Namen, die unter dem Gründungsaufruf standen, waren drei Pfarrer und ein Stasi-Spitzel. Die drei Pfarrer waren Martin Gutzeit, Markus Meckel und Arndt Noack. Martin Gutzeit war der Inspirator der ganzen Angelegenheit. Von ihm stammte auch, bereits im Jahre 1988 ausgereift, die Idee zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei. Markus Meckel und Gutzeit waren eng befreundet, seit sie sich im Sprachenkonvikt in der Berliner Borsigstraße als Theologiestudenten kennengelernt hatten. Ihre Freundschaft war seit den 70-ger Jahren hochgradig politisch und produktiv. Jetzt waren sie dabei, eine sozialdemokratische Partei aus der Taufe zu heben. Der dritte Pfarrer im Bunde, Arndt Noack, gehörte zum Freundeskreis, war zwar auch bereits sehr frühzeitig in die sozialdemokratischen Pläne eingeweiht worden. Doch daraus ergab sich seine eigentliche Bedeutung nicht. Sie erklärt sich in einer Anekdote, die vielleicht nur schön erfunden ist. Arndt Noack hatte nämlich, so die Erzählung, am Abend vor der Öffentlichmachung des sozialdemokratischen Gründungsaufrufs in einer Kneipe im Schiffbauerdamm den beiden eigentlichen Gründern, denen plötzlich schwummrig wurde, den eigentlichen Anstoß gegeben, dies auch tatsächlich zu tun. Es sind diese historischen Momente, ohne die es keine Erstürmung auf die Bastille gegeben hätte, wo Menschen plötzlich wichtig werden, die sich sonst lieber im Hintergrund halten.
Die SDP, eine Pfarrerpartei?
Man hat der SDP in der DDR recht früh vorgeworfen, eine Pfarrerpartei zu sein. Ich weiß gar nicht, ob das wirklich ein Vorwurf ist, oder ob wir nicht vielmehr stolz darauf sein können. Denn die evangelische Kirche war der einzige von den Kommunisten nicht gleichgeschaltete Ort in der DDR-Gesellschaft, in dem frei diskutiert werden konnte. Und sie verfügte über eine eigene öffentliche Meinung. Nicht wenige junge Leute studierten in der DDR gerade auch deshalb Theologie, um in den Genuss dieser Freiheit zu kommen.
Diese Freiheit fußte auf Werten, die der SED ein Gräuel waren und wegen derer sie die Kirche so erbittert bekämpfte. Einer der Sätze, die mir einst mein Vater, auch ein Pfarrer, sagte, lautete, dass niemand das Recht hätte, mir vorzuschreiben, was ich zu denken und zu tun hätte, sondern dass ich das ganz alleine entscheiden dürfte, allerdings auch müsste. Dieser Geist von Freiheit war in der Kirche zuhause. Und damit konnte eine Diktatur wie die der DDR sich nicht arrangieren, allerdings hätte auch die Kirche sich mit so einer Diktatur nicht arrangieren können, doch das steht auf einem anderen Blatt.
Und Ibrahim Böhme? Diese schillernde Figur aus der Berliner Oppositionsszene war von der Stasi in den 80-ger Jahren gezielt auf Gutzeit und Meckel angesetzt worden. Böhme machte Gedichte. Ich kannte ihn durch meine Gemeinde, hatte Klavier zu einer seiner Lesungen gespielt. Er übte eine besondere Faszination auf mich aus. Verfügte über interne politische Informationen, die mir verschlossen waren. Er lief immer im Anzug rum, und es hieß von ihm, dass er fließend vietnamesisch und russisch spräche, seinen Lebensunterhalt mit Hilfsküchenarbeiten verdienend. Ehrlich gesagt, hat er mich sehr beeindruckt. Ich entwickelte Vertrauen zu ihm. Und Vertrauen ist wichtig. Politik braucht Vertrauen, nach wie vor. Das war früher so, ist heute so, und es wird auch in Zukunft so sein. An Böhme kann man aber auch sehen, was es bedeutet Vertrauen zu jemanden zu haben, der das nicht verdient.
Es war vor allem Böhmes Name auf dem Gründungsaufruf gewesen, der mich bewog, Kontakt zu den Gründern zu suchen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich ihn durchschaute, allerdings ohne zu wissen, dass er bei der „Firma“ war.
Den Rahmen der Opposition gesprengt
Die Idee zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR wurde zwar innerhalb des oppositionellen Milieus entwickelt, sprengte aber gleichzeitig dessen Rahmen. In der Opposition selbst fand diese Idee nicht so viel Sympathie. Sie war ihr zu konventionell. Die Opposition war auf der Suche nach einen großen Wurf, welcher nicht nur das Problem der DDR lösen, sondern auch den westdeutschen Parteienstaat überflüssig machen sollte. Erst durch diese Überhöhung fanden viele Oppositionelle in den harten Entbehrungen ihres Lebens in der DDR und ihres Dissidentendaseins ihren Sinn. In ihren Augen mag die sozialdemokratische Initiative zu konventionell gewesen sein. Tatsächlich war sie viel radikaler als sie, und sie war die erste dieser Art.
Sozialistischen Utopien und posttotalitären Vorstellungen, die ja eben auch in der Opposition der DDR zu Hause waren, wurde ein Riegel vorgeschoben. Die Sozialdemokraten lehnten sie ab. Sie wollten nicht mehr für alle da sein. Sie wollten ganz bewusst Partei sein, einen Teil in der Gesellschaft repräsentieren, einen Teil im Spektrum der politischen Kräfte. Die anderen wurden eingeladen, sich innerhalb dieses Spektrums zu verorten.
Eine Richtung für die friedliche Revolution
Faktisch gaben die sozialdemokratischen Vorstellungen die Richtung vor, in die sich die im Sommer 89 beginnende friedliche Revolution entwickeln würde.
Diese Revolution wäre auch schon früher möglich gewesen. Bereits im Januar 1988 hatte sich angedeutet, dass die SED die Gesellschaft nicht mehr im Griff hatte. Damals hatte sich eine Protestbewegung an der Inhaftierung einiger Oppositioneller entzündet. Die waren wegen ihrer frechen und für die SED peinlichen Beteiligung an der alljährlichen Rosa-Luxemburg-Demonstration festgenommen worden. Doch dem Protest fehlte eine entsprechend organisierte politische Kraft, um der SED wirklich gefährlich zu werden. Er fiel wirkungslos in sich zusammen, nachdem die Inhaftierten sämtlich in den Westen entlassen wurden.
Gutzeit konstatierte damals, dass die lockeren, rein informellen Strukturen der DDR-Opposition keine wirkliche Herausforderung für die Macht der SED sind. Nötig waren verbindlichere Formen für die politische Auseinandersetzung mit der SED, bei der es nun tatsächlich um die Macht ging. Das gab den Ausschlag für die Gründung einer Partei.
Für eine sozialdemokratische Partei sprachen mehrere Gründe. Zum einen ideologische; und zwar nicht, weil sich die Gründer selbst an der Schaffung oder Wiederbelebung einer Art sozialdemokratischer Ideologie beteiligen wollten, sondern weil eine neue, selbständige sozialdemokratische Partei der Gründungsideologie der SED, die sich ja als legitimer Nachfolger der SPD (1946 - Zwangsvereinigung) verstand, einen im Grunde tödlichen Stoß versetzen musste.
Zum zweiten Freiheit; sie fehlte in der DDR. Nach ihr lechzten viele Menschen geradezu. Die Idee der Freiheit suchte und brauchte damals einen politischen Träger.
Zum dritten soziale Gerechtigkeit; mit diesem Grundwert der Sozialdemokratie identifizierten sich auch in der Gesellschaft in der DDR ganze Massen.
Nicht zuletzt genoss die SPD der Bundesrepublik auch in der DDR große Sympathie. Willy Brandt und Helmut Schmidt wurden auch hier verehrt.
Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht nachvollziehbar gewesen, die Partei von Anfang an SPD zu nennen. Und doch sprachen triftige Gründe für einen eigenen Namen. Es handelte sich um eine echte Neugründung. Das Feld der politischen Auseinandersetzung war die DDR. Erst ihre Demokratisierung und Umwandlung in einen Rechtsstaat könnte neue Perspektiven eröffnen. Wenn auch sozialdemokratische Grundwerte noch vorhanden gewesen sein mögen, so ließ sich an alte sozialdemokratische Organisationsformen nicht unmittelbar anknüpfen. Es gab sie einfach nicht. Die Gründer verkörperten eine neue Generation. Eine spezielle Frage war natürlich die SPD im Osten Berlins, die rechtlich noch existierte und die von Westberlin aus hätte jederzeit reaktiviert werden können. Doch wäre es nicht klug gewesen, sich hiervon abhängig zu machen. So beschloss die Vorbereitungsgruppe der neuen Partei den Namen SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR) zu geben.
Wenn die Staatssicherheit dies auch konstatierte, tatsächlich wusste die West-SPD nichts von der beabsichtigten Neugründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR. Es gab von Seiten Gutzeits und Meckels vorsichtige Versuche, sie zu informieren, doch habe ich nicht den Eindruck, dass deren Botschaft den Adressaten auch erreichte. Informationsübermittlung unter den damaligen Bedingungen war eine heikle Angelegenheit. Man konnte nicht wissen, ob eine Information ankam, bzw. den richtigen erreichte. Hinzu kamen politische Bedenken.
Aufschlussreich hierzu ist eine kleine Anekdote, die mein Vater gerne erzählte. Er war der Organisator des Menschenrechtsseminars am 26.August 1989 aus Anlass des 200. Jahrestages der Großen Französischen Revolution gewesen, auf welchem der Gründungsaufruf öffentlich gemacht wurde; und welches außerdem noch in seiner Gemeinde, der Golgathakirche in der Berliner Borsigstraße, wo er Pfarrer war, stattfand. Doch auch er wurde von dieser Initiative überrascht. Und um sich politisch zu entlasten, nahm er einige Tage später den Gründungsaufruf mit ins Konsistorium der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg mit, und übergab ihn dessen Leiter, Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, welcher dieses Papier mit zwei Bemerkungen quittierte: „Schad ihnen (der SED – SH) gar nichts; ein Schuss vor den Bug“ und „Am meisten wird sich der Eppelmann ärgern. Dem hab ich’s doch gerade ausgeredet.“.
Auf dem Umweg über meinen Vater kam auch ich zu diesem Papier. Und von nun an bemühte ich mich um Kontakt zu den Gründern. Hier war mein Vater, mit dem ich damals im Rahmen unserer Friedensgebete sonst sehr eng und vertraulich zusammengearbeitet habe, nicht übermäßig hilfreich. Immerhin vermittelte er mir den Namen seines Diakons, Reiner Rühle, der inzwischen Mitglied der Vorbereitungsgruppe für die Gründung der sozialdemokratischen Partei geworden war. Und der nahm meinen Kontaktwunsch zwar auf, vertröstete mich aber auf einige Tage oder Wochen.
Ich fragte manchmal nach, bis mir Anfang Oktober Rainer Rühle den 7.Oktober nannte. Da träfe man sich wieder einmal. Dort könne ich hinzukommen.
Der 7.Oktober 89 war der 40. Jahrestag der DDR-Gründung. Wir hatten uns sehr früh, ich glaube um halb sechs, an der Busstation vom O-Bus Linie 40 am Oranienburger Tor verabredet. Das war zwar sehr früh für mich, freilich gut so. Denn eine Stunde später klingelte die Staatssicherheit an unserer Wohnungstür und fragte meine Frau nach mir, die aber nicht sagte, wo ich hingefahren war. Daraufhin warteten diese Leute den ganzen Tag in ihrem Auto vor unserer Haustür. Ich kann nur vermuten, was sie dazu veranlasst hat. Doch der frühe Vogel fängt den Wurm. Andere hatte die Staatssicherheit an diesem Tag erfolgreich abgefangen.
Im Bus erläuterte Rühle, inzwischen war noch Manfred Bogisch dazu gestoßen, dass wir nach Schwanebeck fahren würden. Einige Zeit später sinnierte Rühle, Schwanebeck und Schwante seien doch das gleiche. Das wiederum stimmte nicht. Denn natürlich gab es einen Ort namens Schwante. Ich war noch nie dagewesen. Von Berlin-Mitte aus liegt er hinter West-Berlin. Dort kam man als Ostberliner nicht so häufig hin.
Gründung in Schwante
Gegen zehn waren wir da, von Oranienburg eine Taxe nehmend, weil von da aus keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren. Und wir trafen Pfarrer Joachim Kähler noch ganz allein in seinem Schwantener Pfarrhaus im Gemeindesaal an. Kähler, wegen großer Zahnschmerzen ständig mit einem Eisbeutel an der Backe, war gerade dabei, für die Versammlung Bockwürste vorzubereiten. Es war eine Atmosphäre wie kurz vor einem Gemeindetreffen. Von Kähler erfuhr ich dann, dass es sich hier um den Gründungsparteitag der Sozialdemokraten handelte. Da rutschte mein Herz das erste Mal in die Hosen.
Die Leute trudelten allmählich ein, sie kamen aus allen Teilen der Republik, Mecklenburg, Thüringen, Berlin, Sachsen, Magdeburg, Potsdam. Die allermeisten hatte ich noch nie gesehen. Am meisten erstaunte mich das Ehepaar Müller aus Dresden, die ihr Kind mitgenommen hatten. Das fand ich etwas leichtsinnig. Beeindruckend war die erste Begegnung mit Gutzeit, der, in den bereits gefüllten Saal reinkommend, ein grimmiges Gesicht machte, die Leute genau musterte, und plötzlich den Eindruck machte, als sei er zufrieden. Man wählte einen Versammlungsleiter, machte seine Scherze, und diskutierte über die Tagesordnung. Die war, üblich bei Parteitagen, ziemlich lang und hätte bis in die späten Abendstunden gedauert. Plötzlich hieß es, dass eine Versammlung von Stasileuten in einem Nachbarort beobachtet würde, und dass die Gefahr bestünde, ausgehoben zu werden. Da wurde beschlossen, die Tagesordnung zu verkürzen, um wenigstens die Gründung über die Bühne gehen zu lassen. Rest später.
Verabschiedet wurden die Grundsätze, die unstreitig waren. Und danach erfolgte die Unterzeichnung der Gründungsurkunde, ein historisches Dokument. Auf diesem Dokument sind alle Namen der Gründungsmitglieder, das waren damals 43 Leute, verzeichnet.
Eine andere Frage war die Veröffentlichung dieser Namen. Da rutschte mir mein Herz ein zweites Mal in die Hose.
Es war uns bewusst, dass dies manchen zu heikel war. Deshalb schufen wir die sogenannten „Kontaktadressen“. Hier bekannten sich die einzelnen zur SDP mit Namen, Adresse und Telefonnummer. Dazu wurde zwar keiner gezwungen, war aber logischerweise die Voraussetzung für die Übernahme von Parteifunktionen. Diese Liste der Kontaktadressen lag immer öffentlich aus. Sie spielte für den weiteren Organisationsaufbau unter den Bedingungen der Konspiration eine große Rolle. Die Kontaktadressen waren die Anlaufstellen für Sympathisanten und Aufnahmewünsche. Vor Ort kannte man sich und wusste die Ernstgemeinten von den Täuschern zu unterscheiden. Und so wurde von den Kontaktadressen aus die Gründung der Ortsvereine (Basisgruppen) organisiert und die Gründung der übergeordneten Organisationseinheiten vorbereitet. Wir hatten zu aller Zeit immer eine aktuelle Liste der Kontaktadressen. Die wurde auch - ständig aktualisiert - allen Verlautbarungen beigefügt.
Die Einheit im Blick gehabt
In Schwante hielt inzwischen Meckel seine berühmte Grundsatzrede. Ich kann nicht sagen, dass ich ihr sehr aufmerksam gefolgt bin. Als er über die Zweistaatlichkeit Deutschlands redete, die im Rahmen einer europäischen Friedensordnung veränderbar sei, war mir etwas mulmig. Mein Eindruck war, dass sie nicht so lange auf sich warten lassen würde. Aber darüber redete ich nicht. Es kam hier auch darauf nicht an. Die Gründung als solche war wichtiger. Danach mal weitersehen.
Und es ist wohlfeil, was leider immer wieder getan wurde, den Sozialdemokraten zu unterstellen, sie hätten die Einheit nicht im Blick gehabt. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Hier ist sie immerhin thematisiert worden. Doch lag es nicht alleine in der Hand der Deutschen, sie zu erreichen. Wir hatten die GSSD im Land, das waren 300.000 sowjetische Soldaten. Was würden die West-Alliierten sagen? Gegen eine Demokratisierung der DDR würden sie nichts einwenden können. Die Deutsche Einheit aber war tabubelastet. Ich glaube kaum, dass es möglich gewesen wäre, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, wenn sie diese Frage in aller Konsequenz von Anfang an thematisiert hätte.
Und dann gibt es ein wichtiges Prinzip in der Politik, nämlich, dass man sich nicht von seinen Gefühlen alleine leiten lassen darf. Sie mögen Auskunft geben um deine inneren Sehnsüchte, in der Politik aber brauchst Du Strategien und Konzepte, um deine Ziele zu erreichen. Und deshalb hat Politik mindestens so viel mit Vernunft zu tun wie mit Gefühlen.
In der Pause, bei Kartoffelsalat und Bockwurst, traf man sich zum ersten Gruppenbild, ein Schwarz-weiß Foto, und typisches Oppositionellenbild aus den achtziger Jahren. Viele Männer hatten einen Bart und lange Haare, meine gingen bis zur Hüfte, oder trugen wie Steffen Reiche Stulpenstiefel. Ich bin übrigens auf diesem Foto nicht zu sehen, weil ich beauftragt wurde, gemeinsam mit Reiche einen Brief an die Ostdeutschen zu formulieren, der dann von der Versammlung so nicht angenommen wurde, was schade war, weil das ein schönes Zeichen gewesen wäre, diesen Brief mit der Gründung zu verabschieden. Aber in einer Demokratie kann man sich nicht alles aussuchen.
Nach der Pause ging es zu den Wahlen. Ich hatte so bei mir gedacht, dass es schön wäre, im Vorstand der künftigen Partei mitarbeiten zu können. Auf die Diskussionen hier freute ich mich. Da könnte ich mitreden, diskutieren und vielleicht etwas lernen. Doch dann ging es um die Wahl des ersten Sprechers, wofür ich vorgeschlagen wurde. Und da rutschte mir das Herz endgültig in die Hose.
Wahl zum Vorstand
Einerseits fühlte ich mich ungeheuer geschmeichelt, andererseits rettungslos überfordert, doch war ich kaum noch in der Lage, ruhig darüber nachzudenken. Ich kannte hier persönlich kaum jemanden, auch wenn mir die Leute sympathisch waren und ich mich hier richtig wohl fühlte. Jahrelang hatte ich unter der Ausgrenzung innerhalb der DDR zu leiden gehabt, hier war ich plötzlich wichtig. Diese Art der Anerkennung gab den Ausschlag für meine Bereitschaft zu kandidieren.
Formal wurde noch Meckel vorgeschlagen, wenn ich mich richtig erinnere, der aber verzichtete. Außerdem wurde Ibrahim Böhme vorgeschlagen, der dies Angebot mit seinen berühmten Worten: „Gebraucht mich, um mich zu benutzen.“ Ablehnte und erklärte, er wolle lieber Geschäftsführer werden.
Meine Wahl erfolgte fast einstimmig. Später erläuterte mir Meckel, dass gerade der Umstand, dass ich eben kein Pfarrer sei, ausschlaggebend gewesen sei. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass einige mich von meinem Agieren innerhalb der Berliner Oppositionsszene kannten, das ich persönlich nicht so wahrgenommen hatte. Und dann stand natürlich mein Vater im Hintergrund, den von den Anwesenden viel mehr kannten, als umgekehrt ich von ihnen kannte.
Für mich erfolgte meine Wahl zum ersten Sprecher der SDP, also faktisch ihrem ersten Vorsitzenden, völlig überraschend. Und dahinter steckte auch kein Plan - weder von mir, noch von den Initiatoren. Dahinter steckte das demokratische Prinzip. Und unsere Wahlen waren die Nagelprobe dieses Prinzips. Demokratische Wahlen in unserer Partei waren die Voraussetzung für die Demokratisierung in unserem Land. Sie schienen nur ein Wagnis zu sein. Tatsächlich waren sie unsere Stärke. Freie, unabhängige und geheime Wahlen sind konstitutiv für eine Machtübergabe auf Zeit. In einer Demokratie kann es keine Amtserbhöfe geben. Oder um es mit den Worten von Martin Gutzeit auszudrücken: „In einer Demokratie muss man die Möglichkeit der eigenen Abwahl wollen!“ Schon in autoritären Verhältnissen gibt es eigentlich keine wirklich freien Wahlen mehr, das gilt erst recht für totalitäre, wie sie in der DDR herrschten. Die Menschen lechzten nach Freiheit, wir lebten sie.
Als ich am Nachmittag nach Hause fuhr, hatte ich zu tun, mich zu sortieren. Als einfacher Sympathisant war ich gekommen, als erster Sprecher fuhr ich wieder. Im S- Bahnhof Schönhauser Allee wechselte ich in die U-Bahn und sah von oben auf die demonstrierenden Massen um die Gethsemanekirche, und kurz auch, wie die Polizei brutal in sie hineinfuhr. Es geht los, dachte ich. Bis heute habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht zu ihnen gestoßen bin. Doch es war abzuwägen zwischen einem reinen Akt der Solidarität und der Notwendigkeit zu überlegen, was nun alles auf uns, auf mich zukommen würde. Die Menschen waren in Aufruhr. Jetzt gingen sie auf die Straße. Später hätten wir die SDP nicht gründen dürfen. Es würde darauf ankommen, den richtigen Ton zu finden, Orientierung zu geben, die weiteren politischen Schritte zu gehen, die nun tatsächlich zur Entmachtung der SED führen würden. Die Chance war vorhanden. Eine schier unübersehbare Aufgabe.
Noch am Abend besuchte ich meinen Freund und Klavierspielpartner Dr. Martin Miehe, der seine Abschiedsparty gab, weil er die Genehmigung zu seiner Ausreise erhalten hatte. Doch am nächsten Morgen schon ging es mit Ibrahim Böhme zur ersten Veranstaltung, einem Treffen von Frieden konkret in Potsdam, auf welchem die einzelnen Initiativen von ihren Entwicklungen berichteten. Hier herrschte freundliche Distanz, aber auch Respekt gegenüber unserer Gründung. Es wurde mir klar, dass aus diesem Kreis niemand neu zu uns stoßen würde. Wir würden unsere Mitglieder woanders finden müssen.
Die ersten Aufgaben waren organisatorisch. Die SDP-Parteiorganisation war jetzt aufzubauen. Basisgruppen (unsere Ortsvereine), Kreis- und Bezirksverband mussten sich konstituieren. Vorstandssitzungen waren vorzubereiten, Büros zu finden, Kontaktadressen mussten verteilt, Erklärungen vervielfältigt werden, ein Infoblatt war herauszugeben. Der Abschied von meiner Arbeit (ich war Programmierer in einem vorklinischen Institut der Berliner Charité) war vorzubereiten, mein Fernstudium zu unterbrechen; all diese Sachen kamen viel schneller auf mich zu als gedacht.
Aufbau der Organisation
Unsere anfänglichen Vorstandssitzungen hielten wir jeden Montag in der ESG (Evangelische Studentengemeinde in der Berliner Invalidenstr., in den Räumen der Elisabethgemeinde, schräg gegenüber der Berliner Ackerhalle) ab. Man traf sich abends um acht, um in der Regel bis früh um 3 zu tagen. Das hielt nicht jeder durch. Manche Sitzung war chaotisch.
Unser erstes Büro fanden wir in der Wohnung meiner Eltern, die in der Tieckstr. in Gemeindehaus der Golgathagemeinde wohnten. Dort gab es ein Zimmer, in dem mein Flügel stand, auf dem ich immer übte. Ein Raum 3 mal 5 Meter groß. Ein Freund von mir legte uns ein Telefon in dieses „Büro“. Dafür bohrte er ein Loch in die Wand zum benachbarten Amtszimmer meines Vaters, und zapfte dort sein Telefon an; da wird er nicht der einzige gewesen sein. Aber so hatten wir überhaupt erst mal ein Telefon. Rainer Rühle zog hier ein, der damals für alle praktischen Sachen zur Verfügung stand. In diesem Zimmer herrschte angesichts des Kommunikationsbedarfes Chaos. So et was bewältigt man nur in revolutionären Zeiten.
Es gab sehr schnell fast jeden Abend eine Veranstaltung, zuerst Podien, wo wir uns gemeinsam mit anderen Initiativen vorstellten, dann zunehmend eigene Veranstaltungen, die z.T. schon von der SDP organisiert waren, die sich schneeballsystemartig ausbreitete, weil die Menschen informiert werden wollten. Kontakt zur West-SPD und zur Sozialistischen Internationale baute sich sehr schnell auf. Ich kann das hier alles nur kursorisch andeuten, weil in dieser Zeit so viel, und auch so viel gleichzeitig passiert ist. Der erste Kontakt war über Thomas Krüger zur Westberliner SPD gelaufen. Bei mir schlugen andere auf. Ein Vertreter der Sozialistischen Internationale, ein schwedischer Minister, besuchte eine unserer Vorstandssitzungen, da war die Mauer noch zu, und lud uns nach Genf zur Ratstagung ein. Eine Delegation der sozialistischen Fraktion des Rechtsausschusses des Europaparlaments besuchte uns, vermittelt von Ehrhart Körting. Wir trafen uns öffentlich (!) in einem Café im Berliner Palast der Republik am Vorabend der Maueröffnung.
Die Überlegungen, wie es in der DDR weitergehen würde, führten zur Idee eines runden Tisches, ein Begriff, den wir unserem Nachbarland Polen entlehnten. Dies wurde bereits vor der großen Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz von uns ventiliert. Das geschah in meiner Wohnung in der Berliner Albrechtstraße im engen Rahmen des geschäftsführenden Ausschusses, zu dem die Sprecher, der Geschäftsführer und Schatzmeister gehörte. Der konnte ad hoc - wenn auch selten vollständig - tagen. Ich hatte dafür gesorgt, dass Martin Gutzeit, mit dem mich seit dieser Zeit eine enge Freundschaft verbindet, in diesen Kreis kooptiert wurde. Wir hatten so ein fast immer entscheidungsfähiges Leitungsgremium. Keine Entscheidung von uns wurde einsam oder von jemanden alleine getroffen.
Die Einladung zur Vorbereitung eines solchen Runden Tisches wurde in der Kontaktgruppe der Oppositionsgruppen verfasst, zu der faktisch alle damals sich gründenden Initiativen - Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbau, Grüne Liga, Arche Noah, die SDP usw. - gehörten. (Nur das Neue Forum, die damals mächtigste Gruppierung aus der ursprünglichen DDR-Opposition hielt sich hier raus, weil sie sich sowieso als eine Art Dach verstand, was es zu keiner Zeit tatsächlich war.) Ich hatte die Aufgabe diese Einladung an die CDU weiterzugeben, als ich mit meinem Fahrrad einen Unfall hatte. Bei einem in der zweiten Reihe stehenden Auto öffnete sich plötzlich die Fahrertür, der ich angesichts einer hinter mir fahrenden Straßenbahn nicht ausweichen konnte. So fand ich mich in der Charité, diesmal als Patient wieder, und mein Vater übernahm den Kontakt zu Lothar de Maiziere, der der nächste CDU-Ost-Parteivorsitzende werden würde.
Ein Mittel gegen die Zersetzung
Ich machte mit Gutzeit faktisch die gesamte Organisationsarbeit, die damals auf unserer Ebene anstand. Von unserem eigentlichen Geschäftsführer Ibrahim Böhme war nichts zu sehen oder zu hören. Er tauchte an den verschiedensten Orten auf, war aber nicht da, wenn man ihn brauchte, er erzeugte eine geheimnisvolle Aura um sich, fühlte sich bespitzelt, und redete in Andeutungen. Doch für politische Analyse stand er kaum zur Verfügung, geschweige denn, dass er sich wirklich einmal um organisatorische Dinge kümmerte. Noch hielt ich zu Böhme, als politischer Partner aber, den ich mir in ihm erhofft hatte, war er ein Ausfall. Ich ahnte damals nicht, dass er für die Stasi arbeitete, und Gutzeit, der das vermutete, schwieg eisern über seinen Verdacht.
Die Staatssicherheit war mit ihrer Zersetzungsstrategie in der Tat für die gesamte Oppositionsarbeit verheerend gewesen. Mit dem Äußern von Verdachtsmomenten gegen angenommene, vermutete Stasispitzeln kam man nicht weiter. Solche Vorwürfe konnten nur seltenst belegt werden, und auch nur dann, wenn die mal Fehler machten, oder sich gar outeten. Eine echte Aufklärung über die Tätigkeit des MfS war nur im Rahmen der Akten möglich, an die wir damals nicht herankamen. Also blieb gar nichts übrig, als das konspirative Wirken des MfS hinzunehmen. Dass sie aber in der SDP ihre Zersetzungswirkung nicht voll entfalten konnten, lag an unseren Strukturen, und das war auch die Lösung, die Gutzeit im Auge gehabt hatte, bereits als er die Gründung der Partei vorbereitet hatte. Denn wir hatten Programm und Wahlfunktionen.
Wer in der SDP Einfluss haben wollte, musste in ihr und für sie arbeiten, er musste die Interessen der Partei vertreten, also für die Institution arbeiten, die er bekämpfen wollte. Auch hier erwies sich die Kombination von demokratischen Wahlen und verbindlichen Parteistrukturen als erfolgreiche Gegenstrategie zu den Zersetzungsmethoden des MfS. Zugegebener Maßen war diese Strategie mit internen Reibungsverlusten verbunden. Die SDP hat sie überstanden. Die Enttarnung Böhmes erfolgte spät, aber nicht zu spät. Er konnte noch Parteivorsitzender und Spitzenkandidat für die Volkskammerwahl werden, auch wenn er da infolge permanenter Überforderung und seines Alkoholismus bereits nur noch ein Schatten seiner selbst war. Seine Rhetorik funktionierte bis zum Schluss. Und seine Medienoffensive, für die er große Unterstützer gefunden hatte, tat ihr übriges. Er hat uns gewaltig geschadet, niemals Reue gezeigt, und ist dafür später zu Recht aus der SPD ausgeschlossen worden.
Der Traum von der deutschen Einheit
Es ist schwer zu sagen, was für die Enttabuisierung des Traums von der Deutschen Einheit im November 1989 entscheidend war: Brandts Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“, das Voranschreiten der friedlichen Revolution, die Kapitulation der SED, das neu entdeckte Selbstbewusstsein der Demonstranten? Für uns war sie kein Selbstläufer. Dem Vorstand der SDP ging es von Anfang an um den Weg dorthin.
Wir waren die ersten der politischen Kräfte in der DDR, die sich zur Einheit der Nation bekannten. Doch wir wollten diese Einheit gestalten. Und dafür waren die Realitäten in den Blick zu nehmen: Die alliierten Rechte, sowjetische Truppen im Land, Misstrauen einiger unserer Nachbarn. Bei all diesen Bedenken mag die Freude über diese neue, gewaltige Perspektive zu kurz gekommen zu sein. Nicht für jeden von uns war sie tatsächlich neu. Doch wurde jetzt klar, wie gewaltig die Veränderungen sein würden, die auf uns zukamen. Da würde kein Stein auf dem anderen stehen bleiben. Jetzt Kurs zu halten, war die entscheidende Aufgabe, und die hieß: Demokratisierung der DDR. Dies war der Schlüssel für alles weitere.
Die Maueröffnung ermöglichte enge und freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren neu entstehenden Basisstrukturen vor Ort und den westdeutschen SPD-Gliederungen, die Neugierde aufeinander und das Interesse aneinander waren gewaltig. Auch diese Beziehungen wurzelten im Gefühl, zueinander zu gehören.
Das galt auch für die Spitze der Parteien. Am Abend des 11.November erschienen Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel und Dietrich Stobbe in Ostberlin, wo sich Gutzeit und Hilsberg mit ihnen trafen. Johannes Rau besuchte spontan eine unserer Vorstandssitzungen. Diese Begegnungen gehörten jetzt zur Tagesordnung.
Die SPD ist wieder da
Und so wie der Gedanke an die Deutsche Einheit immer mehr Fahrt aufnahm, wie die Deutschen in der DDR sich trauten wieder darüber nachzudenken, woher sie kamen und wohin sie wollen, je mehr sich unsere Parteimitglieder, Freunde, wie wir uns nannten, der gesamtdeutschen sozialdemokratischen Traditionen bewusst wurden, zu der sie gehören wollten, so erhielt unser Parteiname SDP plötzlich einen anachronistischen Charakter. Als es dann noch hieß, dass die SED beabsichtige, den Namen SPD (Sozialistische Partei Deutschlands) anzunehmen, war vollends klar, dass dies unser Name war, den wir uns von niemand streitig machen lassen würden.
Diese Umbenennung geschah auf der Delegiertenversammlung der SDP Mitte Januar 1990 in der Kongreßhalle am Berliner Alexanderplatz. Hier präsentierte sich unsere Partei das erste Mal geschlossen und entschlossen, durchorganisiert, und handlungsfähig der ostdeutschen Öffentlichkeit, ja der Weltöffentlichkeit. Wir waren die stärkste oppositionelle Kraft in der DDR geworden. Wir konnten den Ostdeutschen und unseren gestaltungswilligen Mitgliedern eine Perspektive bieten, von der sie noch ein halbes Jahr früher nicht zu träumen gewagt hatten. Wir hatten ein Programm, Leute und mit der West-SPD einen regierungserfahrenen Partner. Und es war klar, mit uns würde es keinen Weg zurück mehr geben. Die ersten freien Wahlen in der DDR waren in Sichtweite. Und die Deutsche Einheit ein von uns unterstütztes, gewolltes, realisierbar erscheinendes Ziel. Wir waren damals auf dem Zenit unseres Einflusses und avancierten für die anderen Parteien zum Hauptgegner in der politischen Auseinandersetzung.
Belastung der weiteren Demokratisierung
Und unsere Stärke mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sich mit der Ost-CDU eingelassen hat, was zu einer schweren Belastung der weiteren Demokratisierung in der DDR wurde. Es geht hier nicht darum, Helmut Kohl die Verdienste für die Deutsche Einheit abzusprechen. Doch ihm ging es bei der Ost-CDU um seine eigene Macht. Und deshalb wurde aus einer ehemaligen Blockpartei, die tief im totalitären System der SED-Diktatur wurzelte, plötzlich eine demokratische Kraft, die die Anhänger von Helmut Kohl, von denen es in der DDR viele gab, wählen mussten, wenn sie Kohl haben wollten.
Der ehemaligen SED, die jetzt SED/PDS hieß, hat das gefallen. Und auch die anderen Blockparteien hatten jetzt eine Chance. Nach außen hatten sie sich auf das entstehende demokratische Parteienspektrum eingelassen, und einen Platz darin für sich gesucht. Die SDP hatte ihnen das angeraten, aber es war ein Vorgang, der mit historischer Gerechtigkeit, gar mit Reue für die politische Verantwortung, die diese Parteien trugen, nur schwer in Einklang zu bringen war.
War es ein Zufall, dass am Abend nach unserer Delegiertenkonferenz die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße gestürmt wurde? Sturm ist ja der falsche Begriff dafür. Die Staatssicherheit hatte sich zurückgezogen, und ihre Zentrale eigenen Randalierern überlassen. Vorangegangen war eine heftige, von Martin Gutzeit vorangetriebene längere, zum Schluss erfolgreiche Auseinandersetzung am Runden Tisch über die Öffnung der MfS-Archive. Es war nicht nur den Demonstranten klar, dass ohne die Entmachtung des MfS der konspirative Arm der SED weiter frei agieren würde und sein Gift weiter in die Gesellschaft hinein spritzen könnte. Manche meinen, das sei auch heute noch der Fall. Gerade ihnen müsste klar sein, was es bedeutet hätte, die Archive nicht zu öffnen. Ohne Dokumente keine Aufklärung und keine Aufarbeitung. Doch diese Fragen waren uns von Anfang an wichtig, und keine Randgröße der Demokratisierung. Jetzt wo die friedliche Revolution siegte, wurde es möglich, die Frage der politischen Verantwortung für die SED-Diktatur und ihre Folgen zu stellen. Wer, wie wir, demokratische Traditionen und Werte für konstitutiv für eine moderne und offene Gesellschaft hielt, konnte nicht einfach über deren gewaltsame und brutale Unterdrückung in der Zeit der Diktatur hinwegsehen. Die SPD-Ost, wie wir jetzt hießen, war schließlich keine Blockpartei, die der SED geholfen hatte, die Menschen zu unterdrücken.
Freie Wahlen
Sicher, das Wahlergebnis der ersten freien Wahlen in der DDR am 18.März 1990 war schwer verdaulich, aber es relativiert die Bedeutung dieses Tages nicht, der zu den glücklichsten gehört, die ich in der DDR erleben durfte. Glücklich, weil wir frei waren, weil die SED entmachtet war, weil die Menschen glücklich waren, und weil dieser entsetzliche Alpdruck der Diktatur endgültig verschwunden war.
Mit diesen Wahlen begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte Deutschlands, für den die SDP, jetzt Ost-SPD, die Weichen gestellt hatte. (Wer daran zweifelt, nehme unsere Konzepte, schaue auf das Datum, frage sich, wer damals ähnliches verkündet hatte und vergleiche es mit den neu geschaffenen Realitäten.)
Die Demokratisierung der DDR war der Schlüssel für die Entmachtung der SED, für die Überwindung der Teilung Deutschlands, und die Überwindung der Teilung Europas. Die SDP bot vielen Menschen in der DDR, die sich nicht kompromittieren wollten und auch nicht kompromittiert hatten, eine Perspektive zur politischen Mit-Gestaltung an vorderster Stelle. Und letztlich hat die Gründung der SDP auch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die SPD ihren 150. Geburtstag an ihrem Geburtsort in Leipzig feiern kann. Ich finde, darauf können wir stolz sein.
Stephan Hilsberg, Gründungsmitglied der SDP in der DDR, gehörte von März bis Oktober 1990 der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR an und war vom 3. Oktober 1990 bis zum Ende der 16. Legislaturperiode im Jahr 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages.