von Siegfried Heimann
Am 25. September 2017 ist Helga Grebing gestorben. In den Nachrufen wird immer wieder – und zu Recht – ihre Bedeutung als Wissenschaftlerin und als einflussreiche Sozialdemokratin gewürdigt. Sie war seit Februar 1972 „ordentliche Professorin für die Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ in Göttingen – die „erste Ordinaria der Philosophischen Fakultät“ überhaupt. Von 1988 bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 1995 leitete sie als Direktorin das „Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung" in Bochum. Die Zahl ihrer Bücher, Aufsätze und Rezensionen sprengt jede Literaturliste. Sie war und ist die wichtigste Historikerin der Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung. Als Mitglied der Grundwertekommission und der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD stritt sie dafür, dass die Partei ihre Geschichte nicht vergaß. Weniger bekannt und weniger gewürdigt ist die Tatsache, dass Helga Grebing zeit ihres Lebens mit ihrer Arbeit auch ihre eigene Biographie zum Thema machte.
Die in Berlin-Pankow geborene Helga Grebing ist erst fünf Jahre alt, als sie ihren Vater, den Maurer Franz Grebing, durch einen Verkehrsunfall verliert. Die Mutter hat es nicht leicht, die stets wissbegierige, aber auch widerborstige Tochter in Zeuthen-Miersdorf bei Berlin aufzuziehen. „Die Schule war ihr Leben", schrieb sie später in ihren Erinnerungen. Sie „wuchs langsam, blieb klein und schmächtig, das Mundwerk allerdings wuchs schneller“. Mit zehn Jahren wurde sie Mitglied des BDM, der nazistischen Mädchenorganisation. Sie war fasziniert von der abwechslungsreichen Freizeitbeschäftigung, aber auch von der – wie sie beschämt gesteht – „(Affen-) Liebe zum Führer“. Die Distanzierung von der Nazi-Diktatur begann schon Monate vor dem Kriegsende, aber die Suche nach einem neuen Leitbild sollte lange dauern. Sie wusste schon als junges Mädchen, dass sie lernen und studieren wollte. Der erfolgreiche Abschluss der „Vorstudienanstalt“ der Berliner Universität bescheinigte ihr die Hochschulreife und sie begann zum Wintersemester 1947/48 als 17jährige ihr Studium der Geschichte und Germanistik an der Berliner Universität (später Humboldt-Universität).
Am 22. Januar 1948 tritt sie in Berlin-Pankow in die SPD ein. Sie erwog Für und Wider ihres Beitritts: Die SPD war für sie eine „sozialistische Partei … die menschl[iche] Freiheit mit dem Sozialismus zu verbinden“ sucht. Das unterscheide sie von der KPD. Sie sah jedoch bereits 1948 die SPD als zu „kompromißbereit mit dem Kapitalismus". Und dennoch: Der Partei blieb sie – trotz mancher Zweifel – ihr Leben lang treu. Bereits 1949 wechselte sie an die gerade gegründete Freie Universität und mit 22 Jahren hatte sie bereits ihre Dissertation über das Thema „Zentrum und katholische Arbeiterbewegung 1918-1933" geschrieben. Im Dezember 1952 wurde sie zum Dr. phil promoviert. In einem der Gutachten hieß es, dass die „Verfasserin von ihrem unumwunden eingestandenem sozialistischem Standpunkt aus mit ungewöhnlichem Verständnis und ungewöhnlicher Toleranz an die Betrachtung der Dinge herangegangen ist …".
Programmatik und Politik der SPD beschäftigten sie als Wissenschaftlerin und als Parteimitglied. Sie sah mit Wohlgefallen – bis zuletzt übrigens - , dass die SPD immer wieder von einer neuen Aufbruchsstimmung erfasst wurde. Sie wusste aber aus der Kenntnis der leidvollen Geschichte der SPD, dass eine Stimmung nicht reicht. Ideen waren und sind gefragt und Helga Grebing war überzeugt, dass die Idee der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt sozialdemokratischer Programmatik und politischer Praxis gehört. Dafür musste freilich das Rad nicht ständig neu erfunden werden. Ihre „Geschichte der sozialen Ideen“ belegte sehr beeindruckend, wie stolz die Sozialdemokratie auch in dieser Hinsicht auf ihre lange Geschichte sein kann. Ihr Fazit war, dass die Idee des demokratischen Sozialismus „als alternatives Prinzip zum Kapitalismus und zugleich als regulative Idee des emanzipatorischen Fortschritts“ weiterhin aktuell bleibt.
Seit Ende der fünfziger Jahre war Helga Grebings „Denken und Handeln“ bestimmt von der engen Freundschaft zu Fritz Sternberg (1895- 1963) und seiner Frau Lucinde Sternberg-Worringer. Der „marxistisch inspirierte“ freiheitliche Sozialist Sternberg lehrte sie, ihre Idee vom Sozialismus rational und gegenwartsbezogen zu begründen. Den Ideen Fritz Sternbergs galt daher auch ihr letztes großes Buchprojekt. Es war dem „Wissenschaftler, Vordenker, Sozialisten“ Sternberg gewidmet, dessen „Streiten für eine Welt jenseits des Kapitalismus“ – so der Titel des vor wenigen Wochen erschienenen Buches- für Grebing hochaktuell war. Sie konnte noch kurz vor ihrem Tode das erste Vorausexemplar in den müde gewordenen Händen halten und kommentierte das mit der ihr eigenen Ironie: „Ein gewichtiges Buch". Das Buch soll am 30. November 2017 vorgestellt werden. Es wäre schön, wenn die Buchvorstellung im Willy-Brandt-Haus zu einer Erinnerungsfeier für eine große streitbare Sozialistin, für Helga Grebing, wird.