von Ulrich Schödlbauer
wer redet, ist nicht tot
Gottfried Benn
»Wissen Sie –« »Nein!« So beginnt in den Tagen des Wahns jeder ehrliche Disput unter Couragierten: Die einen haben etwas zu sagen und die anderen wissen es zu verhindern. Haben sie nichts zu sagen? Wenn es nur das wäre! Die Gesprächsverweigerer finden, alles sei gesagt. Sie können sich bloß entweder nicht richtig daran erinnern oder wiederholen gebetsmühlenartig immer dieselben Brocken, die sie aus der Alltagssuppe, genannt Publizistik, gefischt haben, nicht bedenkend, was alles noch in ihren trüben Tiefen lagern könnte. Man könnte also meinen, so wird das nichts mit dem Disput. Da Disput aber sein muss, schon um der Formate willen, die von den Öffentlich-Rechtlichen ausgefüllt werden müssen, besetzt eine über dem Pandämonium schwebende Regie die Stühle der Andersdenkenden (Fachleute, die nicht zu Wort kommen sollen, weil ihre Ansichten ›irgendwie‹ anders klingen als die obligatorischen Gebetsmühlenbrocken derer, die ohnehin Bescheid wissen, weil ihnen irgendwann der Bescheid zugegangen ist und jetzt im Innenohr piept) mit Stellvertretern, die auch Bescheid wissen, aber darüber hinaus ein weites Herz besitzen, in dem auch ein paar Bedenken Platz haben, die heraus müssen, sobald die Situation es erfordert. »Ich finde, Corona verlangt uns allen Opfer ab.« »Wollen Sie andeuten, es ginge auch ohne?« »Nein, das denke ich nicht. Aber…« So schwadroniert es sich endlos, bis irgendein Terrorschütze oder eine US-Wahl kurzfristig einen Themenwechsel erzwingt. Dann geht es weiter.
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Man kann Bücher von vorne nach hinten, von hinten nach vorn lesen, man kann sie durchblättern und dabei seine Beobachtungen machen, man kann ihnen entnehmen, was dasteht (oder auch nicht), und an anderer Stelle einsetzen, es gehört zum Medium Buch, dass es dergleichen erlaubt: Wie gehörig ist es da, eine historische Darstellung so zu lesen, als finde ihre Handlung heute, unter aller Augen statt? Gehörig oder nicht, es passiert alle Tage und es ist, alles in allem, nicht das Schlechteste. Nicht das Schlechteste … Und wenn die Welt voll Teufel wär heißt eine jüngst erschienene Luther-Biographie von Klaus-Rüdiger Mai und unwillkürlich fragt sich der Leser: Und wenn dem so wäre? Was dann? Ja, was dann? Woran sollte man sie erkennen? An ihren Schwänzen? An ihren Teufeleien? Holla! Wer so fragt, der macht sich in bestimmten Kreisen bereits verdächtig, es klingt so anzüglich, so … zeitbezüglich, obwohl die Rede sichtbar aus jedem zeitgenössischen Bezug herausfällt: »Immer deutlicher erkannte Luther, dass in der Ablassfrage eine überaus schlechte Praxis auf eine dürftige Theorie traf.« Die Ablassfrage, die gute alte Ablassfrage: um sie geht es, in einer gottverlassenen Zeit wie der unseren, nun wirklich nicht. Nur das Zusammengehen einer schlechten Praxis mit einer dürftigen Theorie kommt einem irgendwie bekannt vor. Ein Schelm, wer sich mehr dabei denkt. »Eine theoretische Klärung sollte nach seiner Vorstellung zu einer guten Praxis führen.« Luther meinte also… »Da es heikel war, eine große öffentliche Diskussion über den Ablass vom Zaun zu brechen – denn der Papst hatte verfügt, dass alle, die den Verkauf von Ablässen behinderten oder kritisierten, als Häretiker gelten sollten –, entschied sich Martin Luther dafür, eine Disputation unter Gelehrten im Schutz der Universität anzuregen.« Heute verkauft keiner Ablässe. Heute verkauft man Masken und Tests, immer Masken und Tests, je leistungsfähiger die Testindustrie, desto leistungsfähiger die Maskenindustrie et vice versa, und die Verfügungen gehen nicht vom Papst aus, sondern vom Staat, jedenfalls von Regierungen, die sich ihrer Sache so sicher sind, dass sie Maskenleugner mit empfindlichen Geldbußen belegen – hoppla! Sagte ich Geld? Sagte ich etwas von Geld? Auch die endlosen Disputationen unter Gelehrten kommen einem da plötzlich vertraut vor. Man weiß schon im voraus: Dabei kommt nichts heraus.
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Häretiker? Draußen, auf den Straßen und Plätzen der Republik, versammeln sich derweil Menschen wie du und ich, sie schwenken Plakate, auf denen steht: »Wir wollen unser Leben zurück!« – »Maske runter gegen Verblödung« – »Freiheit« – »Friede, Freiheit, Demokratie!«
Warum tun die das? Wer hat sie bezahlt, ausstaffiert und dort hinausgeschickt? Verschwörungstheoretiker! Welche Verschwörung führt sie zusammen? Q-Anon? Ganz sicher Q-Anon. Wer das ist? Übel, übel. Nein, keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt. Reichsbürger! Ahhhhhhhhhh. Trumpburger, Verfassungsfeinde, Systemfeinde – mit einem Wort: »Gesocks!« Ein biederer Lokalpolitiker der Mitte versteigt sich zu der Behauptung, in einer zigtausend Köpfe umfassenden Demonstration auf dem zentralen Platz der seinerzeitigen Heldenstadt hauptsächlich »Hooligans, Rechtsextreme und Querdenker« erkannt zu haben (in dieser Reihenfolge) – und die Polizei steht gelassen dabei, ihre Führung merkt nichts, die Leute auf dem Platz offenbar auch nicht, selbst die bösen Finger aus Connewitz merken nichts davon und prügeln sich vorsichtshalber im vertrauten Milieu. Das nennt man wahre In-tu-ition. Wo sie ihres Amtes waltet, ist, neben den üblichen Medienvertretern, auch der örtliche Pfarrer nicht weit, und Einsicht … nun ja, ist auch eine Sicht. Nein, sie ist nicht jedermanns Sicht, sonst existierte nicht der Tatbestand der Verstocktheit. Am verstocktesten sind bekanntlich die, denen man gerade den Verdienst gekappt hat, das liegt in der Natur der Sache. Sie sollen ja nicht für sich, sie sollen für andere bluten, die es gut finden, andere für sich bluten zu lassen, teils, weil sie vorbelastet, teils weil sie … ›vorbelastet‹? Kam uns dieses Wort nicht bekannt vor? Ein Land, ein Erdteil, ein Erdball als Geisel in der Hand von Vorbelasteten? Nein, so ist das nicht gemeint. Das hier hat einen ganz anderen Sinn. Die Vorbelasteten können nichts dafür. Warum werden sie dann so genannt? Aber es gibt auch die anderen, die durcharbeiten dürfen, darunter einige, die richtig Dampf machen können, denn nie waren ihre Produkte so wertvoll wie heute… Die haben natürlich ein Interesse daran, dass die Verstockten, ich meine jetzt gegen die Verstockten … hart durchgegriffen wird, vielleicht wären morgen sonst sie die Verstockten oder die Gelackmeierten. Das allerdings sollte um jeden Preis –
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Lutz Götze, DaF-Professor im Ruhestand, Sozialdemokrat, Mitglied des PEN, liebt keine Widerworte, schon gar nicht, wenn sie gegen die Parteilinie gehen. Die Welt ist voller Widerworte. Das ist gut so, denn nur so kann es politischen Kampf geben. Wo Kampf ist, da ist Leben und wo Leben ist, da … droht Ansteckung, und wo Ansteckung droht, da droht das Böse, das weiß jedes Kind. Eine Partei verzehrt sich im Kampf gegen das Böse – da hätten wir also bereits die Welt voll Teufel und wie der Zufall so spielt, sind es der Bäcker, der Metzger, die Ärztin, der Anwalt und die Gemüsehändlerin von nebenan. Gegen sie hat sich der Gelehrte einen Trick ausgedacht, der sich sehen lassen könnte, gäbe er nicht eine ganze Zunft von Gelehrten dem Gespött preis: Er zieht eine Linie von Dostojewskis Ego-Mörder Raskolnikow zu den Kreuz- und Querdenkern, die heute Europas – und nicht nur Europas – Straßen bevölkern:
»Absurdes Theater? Keineswegs! Die Moderne ist voll von diesen ›Auserwählten‹: Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot, Mugabe, heute Lukaschenko, Putin, Orbán und manch andere Diktatoren.
Doch bleiben wir im Lande: Die Corona-Pandemie hat die Zahl jener Naiven und Irregeleiteten, vor allem jedoch der Rechtsextremisten, Identitären, Terroristen, Reichsbürger und sonstiger Demokratiefeinde, sprunghaft ansteigen lassen.«
Das ist kühn. Mehr als kühn: es wirft durcheinander, was ersichtlich nicht zusammengehört. Und es wirft Fragen auf, die über den Tellerrand eines zusammengestoppelten Verständnisses von Opposition hinausgehen, das eher in der Tradition des Bismarckschen Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie von 1878 siedelt als in der bundesdeutschen, in der sowohl eine opponierende Sozialdemokratie als auch eine fundamentaloppositionelle Umweltpartei sich den Weg in die Regierungsverantwortung unter lautstarker Mitwirkung der Straße zu erkämpfen wusste – von der Friedlichen Revolution 1989 und ihren speziellen Implikationen einmal abgesehen. Darüber hinaus wirft es etwas weg: weniger den gesunden Menschenverstand, den Sinn für Maß und Ziel, als den Anspruch, als PEN-Mitglied immer und überall die Freiheit des Wortes obenan zu stellen und der Diffamierung von Opposition, wo immer sie für die verfassungsmäßigen Rechte der Menschen eintritt, entschieden zu widersprechen.
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Sie glauben nicht, dass Raskolnikow ›uns‹ in der gegenwärtigen Corona-Weltlage etwas zu sagen hätte? Dann denken Sie einmal nach. Es könnte sein, dass Sie sich eher in der Riege der Dostojewski-Leugner wiederfinden, als ihnen lieb ist. Und das liegt nicht an Ihrem Unglauben. Nein, es liegt – dreimal dürfen Sie raten, aber dann nicht weiter – an Ihrer literarischen Unwissenheit. Sie leugnen? Sie sind ein Leugner! Doch der Autor kann Sie verstehen: »Die Vielzahl der eng mit der Haupthandlung verknüpften Nebenstränge des Romans verwirrt den Leser; ein Namensverzeichnis der agierenden Personen schafft zumindest teilweise Klärung.« Es wäre besser, die Literatur, wenigstens ihr realistischer Teil, bestünde nur aus Hauptsträngen, dann wüsste man gleich, wen man, ›in effigie‹ natürlich, aufhängen und wen man laufen lassen soll. Zum Glück gibt es Namenslisten, Kontaktlisten, wie sie auch gelegentlich heißen. Damit behelfen sich selbst die Profis, auch wenn sie nur teilweise zur Klärung beitragen. Dabei ist die Haupthandlung des laufenden Romans relativ leicht erkennbar: Die Regierung erlässt Verordnungen, die von einer Reihe von Medizinern, darunter renommierte Epidemiologen und nicht wenige Virologen, als nicht angemessen und von einer ebenso stattlichen Anzahl von Juristen als rechtsstaatlich bedenklich eingestuft werden. Die Sache geht ihren demokratischen Gang, auf den Straßen wächst die Protestbewegung, die regierungsnahen Medien schreien »Haltet den Dieb!« und die kultivierten Götzendiener der Republik sorgen dafür, dass der notwendigen Auseinandersetzung das letzte Fünkchen Verstand ausgetrieben wird. Welchen sachlichen Grund sollten die sinnigerweise ›Coronaleugner‹ genannten Maßnahmengegner haben, sich mit einem Kranz von Rechtsextremisten, Identitären, Terroristen, Reichsbürgern und sonstigen Demokratiefeinden zu umgeben? Das macht keinen Sinn – soll es vermutlich auch nicht. Was macht es dann? Es macht Angst … es schüchtert ein, es verschließt Augen und Ohren der Normalbürger, es enthält eine Warnung an alle…
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Seltsame Dinge geschehen auf deutschen Straßen. Mecklenburg-Vorpommern führt, fünf Jahre nach den legendären Ereignissen von 2015, Grenzkontrollen gegenüber seinen westlichen und südlichen Anrainerstaaten ein und schiebt unliebsame Eindringlinge nach Brandenburg ab, Gerichte heben, fast schon seriell, Pandemie-Erlasse auf, die, ebenso seriell, von den Regierungen durch neue ersetzt werden, ›Reichsbürger‹, eine bizarre Randgruppe der Gesellschaft, scheinen eine besondere Corona-Phobie entwickelt zu haben, die sie unaufhaltsam dazu drängt, noch die letzte Demonstration im Lande zu diskreditieren, die Berufung auf Recht und Gesetz erscheint als der geradeste Weg, mit den Ordnungshütern der Republik in Konflikt zu geraten, Hooligans… – apropos Hooligans: es gibt, wie bekannt, solche der Tat und solche des Wortes, Wortschwerenöter, mit schwerem Schlaggerät behangen, angesichts dessen Normalbürgern Hören und Sehen vergeht … Nicht schlagen! Bitte nicht schlagen! »Distanziert euch!« lautet das Spiel. Darin versteckt sich der alte Assoziationsmechanismus, der dafür sorgt, dass immer etwas hängen bleibt. Welchen Grund hätte jemand sonst, sich zu distanzieren? Distanziert euch fleißig, bis ihr rot, grün und blau werdet, in der Wolle gefärbt mit allem, wovon ihr euch distanziert. Außerdem ist es nie genug. Ein Emblem in der Menge, die fatale Fahne, von namenlosen Provokateuren geschwenkt, ein paar Kapuzenmänner, niemand weiß, woher und wohin, ein paar prügelnde Unbekannte am Rande … mehr ist nicht vonnöten. Mehr nicht. Und die finden sich immer.
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»Komm aus der Angstzone!« locken die Querdenker, sie setzen Meditation und Gesang unter freiem Himmel als Lockmittel ein, als Wege zur inneren Befreiung, der die äußere, so das dahinterstehende psychologische Kalkül, folgen sollte, ganz ohne Hass, ganz ohne Gewalt, ganz ohne Abgrenzung, auch wenn es ganz ohne Abgrenzung nicht geht, wie sie längst erfahren und in ihre Auftritte eingebaut haben, um zu erleben, was ihnen jede Erfahrung zuraunt: dass die Abgrenzerei, einmal vom politischen Gegner gefordert, grenzenlos wird, dass sie jedes Maß überschreitet und zum Selbstzweck mutiert, einzig dazu bestimmt, just die Ängstlichkeit gegenüber den spontan hinzuströmenden Mitmenschen zu erzeugen und, wo bereits vorhanden, zu steigern, die zu zerstreuen sie angetreten sind. Denn Ängstlichkeit, wo immer sie ins Spiel kommt, kennt keine Grenzen und keine scharf umgrenzten Sachverhalte, über die sich im Ernst reden ließe. Sie bringt das Wabern ins Spiel, in dem Urteilsabstinenz, Misstrauen, Distanzierungswahn und das obligate Verstummen, die politische Tugend der Eingeschüchterten, sich zu einem leicht beherrschbaren Mix addieren. Deutschland ist Angst-Zone geworden, mit einem starken Akzent auf Zone. Doch die Angst prävaliert – im typisch deutschen Mix aus Bedenkenträgerei und Hassofferten, zwei Formen der unfreiwilligen Misanthropie, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen. Misanthropie, ganz recht, Menschenhass ist die verschwiegene Tugend eines Gemeinwesens, in dem die ›Anständigen‹ nichts dabei finden, missliebigen Mitmenschen das Gesicht zu rauben. Lockdown und Maskenzwang, um nur diese beiden zu nennen, betreffen jeden Menschen, gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechts, gleich welcher politischen Überzeugung, und sei sie dem Anderen noch so wenig genehm. Das mag dem einen oder anderen Sesselhermeneuten dekadent vorkommen, aber eingebildete oder wirkliche Dekadenz ist kein Straftatbestand und sollte es auch nicht werden, solange Menschen und nicht Mumien das Geschehen bestimmen.
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Der Berliner Senat, liest man auf seinen Seiten, warnt vor den Gefahren der Maske, die er seinen Bürgern zur Pflicht macht. Damit erklimmt staatliche Fürsorge neue Höhen. Hoffen wir, dass die Bewohner der Weltstadt das Geschenk zu würdigen wissen. Es kommt eben, wie die Verfasser richtig anmerken, alles auf die Wahl der richtigen Maske an. Andernfalls drohen Dauerschäden.
Quellen
Klaus-Rüdiger Mai, Und wenn die Welt voll Teufel wär. Martin Luther in Worms, Leipzig 2020, 361 S. (S.89)
Lutz Götze, Fjodor Dostojewskis immense Aktualität, Globkult 2.11.2020
https://www.globkult.de/kultur/l-iteratur/1971-fjodor-dostojewskis-immense-aktualitaet
Informationen zu Alltagsmasken (auch: Textilmasken, Mund-Nasen-Bedeckung oder Community-Masken)
https://www.berlin.de/sen/gesundheit/themen/gesundheitsschutz-und-umwelt/infektionsschutz/artikel.919906.php