von Michael Brie

Private Elektroautos oder unentgeltlicher Öffentlicher Personennahverkehr

Krisen sind Chancen für Weichenstellungen, die weit in die Zukunft reichen. Eine der zentralen Fragen ist die der städtischen Mobilität in einer Welt, in der die große Mehrheit der Weltbevölkerung bald in Millionenstädten und in metropolitanen Ballungsräumen leben wird. Zwei grundsätzliche Alternativen sind möglich: Zum einen kann das US-amerikanische System von Mobilität, in dessen Zentrum das private, Benzin getriebene Auto steht, durch eine Umstellung auf den Elektroantrieb ökologisch modernisiert und global ausgeweitet werden. Zum anderen kann das System des öffentlichen Personennahverkehrs ökologisiert und flexibilisiert werden.

Die Bedingungen zur Entscheidung zwischen diesen Alternativen sind aufgrund der historischen Voraussetzungen pfadabhängig und sehr unterschiedlich. Während in vielen Metropolen der USA der öffentliche Personennahverkehr weitgehend zerstört wurde, sind europäische Metropolen durch Mischsysteme gekennzeichnet. In vielen Metropolen des Südens geht die autobasierte Mobilität der aufsteigenden Mittelschichten mit der Ausgrenzung größerer Teile der städtischen Armut von urbaner Mobilität einher. Langfristige Experimente mit einem entgeltfreien Öffentlichen Personennahverkehr könnten eine globale Vorbildwirkung entfalten.

Vorwärts in die Vergangenheit

Am Sonntag, dem 30. April 1939, einem sehr heißen Tag, es war zugleich der 150. Jahrestag der Amtseinsetzung von George Washington zum ersten Präsidenten der USA, öffnete in New York die New York Weltausstellung in Anwesenheit von über 200.000 Menschen ihre Pforten. Es sprachen unter anderem Roosevelt und Einstein. 1939 und 1940 besuchten 44 Millionen Menschen diese Ausstellung. Die Große Krise, die seit 1929 die USA und Europa an den Rand des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs gebracht hatte, war noch nicht wirklich überwunden. Der New Deal einerseits und die Aufrüstung sowie Kriegsvorbereitungen andererseits hatten strukturelle Veränderungen eingeleitet, deren Folgen noch nicht absehbar waren. Die Sowjetunion war genauso vertreten wie die kurz danach von Deutschland überfallenen Staaten der Tschechoslowakei, Polen oder Belgien. Das um sein Überleben gegen die japanischen Aggressoren kämpfende China konnte nicht präsent sein. Deutschland nahm an der Weltausstellung nicht teil und verunglimpfte sie im Völkischen Beobachter als »Ausstellung dreckiger Talmud-Juden« (Borchers 2009). Der Zweite Weltkrieg und Auschwitz warfen ihre Schatten voraus. Während schon die deutschen Panzer nach Warschau rollten und polnische Städte im Bombenhagel zerstört wurden, Paris eingenommen wurde und eine Luftschlacht um Großbritannien tobte, betraten die Besucher der Weltausstellung »Die Welt von Morgen« (»The World of Tomorrow«).

Diese Weltausstellung war vor allem durch große private Konzerne der USA initiiert worden und deren Darstellung als Visionäre und Wegbereiter des Fortschritts stand im Mittelpunkt. Wie es in der offiziellen Selbstdarstellung der durch eine private Messegesellschaft organisierten Weltausstellung hieß: »Die Blicke der Messe sind auf die Zukunft gerichtet – nicht, um in das Unbekannte zu starren oder die Ereignisse von Morgen vorherzusagen und die kommenden Dinge zu beeinflussen, sondern um einen neuen und klareren Blick für das Heute in Vorbereitung auf das Morgen zu bekommen; ein Blick auf die dominierenden Kräfte und Ideen wie auch die Maschinen. Zu den Besuchern sagt die Messe: ›Hier sind die Stoffe, Ideen und Kräfte, die in unserer Welt am Werk sind. Das sind die Werkzeuge, mit denen die Welt von Morgen gestaltet werden muss. Sie sind alle interessant und es wurden viele Anstrengungen unternommen, um sie Ihnen in einer interessanten Weise vorzuführen. Die Vertrautheit mit dem Heute ist die beste Vorbereitung auf die Zukunft.‹« (1939 New York World's Fair, in: wikipedia)

Zwei Orte erwiesen sich vor allem als Publikumsmagneten der Weltausstellung – das Trylon and Perisphere und Futurama. So viel sie im Einzelnen gemeinsam haben, kann man sie doch als gegensätzliche Zukünftsentwürfe bezeichnen. Trylon and Perisphere bildeten das offizielle und architektonische Zentrum der Weltausstellung. Sie sollten die große Vision der nächsten einhundert Jahre verkörpern, hinweisen auf eine neue globale Zivilisation – auf Democracity des Jahres 2039. Das über 212 Meter aufragende Trylon und die kugelförmige Perisphere (über 65 Meter im Durchmesser) waren durch die Architekten Wallace Harrison und J. Andre Fouilhoux entworfen worden, während die innere Gestaltung der Kugel, die Perisphere, durch Henry Dreyfuss, übernommen worden war. Sein Entwurf von Democracity nahm Anleihen bei Le Corbusiers Entwurf einer Strahlenden Stadt (Ville Radieuse). Die Besucher glitten auf der damals längsten Rolltreppe der Welt auf zwanzig Meter Höhe in das Innere der Kugel, die Perisphere, und betrachteten dann von oben herab, auf sich drehenden Balkonen stehend, die Welt der Zukunft, während einer der berühmtesten Radiosprecher jener Zeit, Hans von Kaltenborn, den Kommentar sprach. Er beschrieb eine Zivilisation, die in Einheit mit der Natur, in Frieden der Menschen und Völker miteinander lebt, Wohnen und Arbeiten, demokratische Entscheidung und Erholung, Industrie und Landwirtschaft organisch in wechselseitiger Abhängigkeit vereint, Slums und Kriminalität überwindet, Sonne und gute Luft für jedermann und jederfrau bietet und sich von erneuerbarer Energie, der Wasserkraft, speist. Es sei »eine schöne neue Welt, gebaut durch vereinigte Hände und Herzen«, in der die Arbeitenden von »Büro, Farm und Fabrik« kommen und ein Lied von William Grant Still »Die steigende Flut« anstimmen: »Hand in Hand, Seit‘ an Seit‘…« (1939 New York World's Fair, in: wikipedia; Democracity Recreation, in: youtube). Im Mittelpunkt dieser neuen Lebensform steht der Ort gemeinsamer Entscheidung für ein gemeinsames Leben in Freiheit.

Während Trylon und Perisphere eine aus offener Diskussion entstandene Zukunftsvision verkörperte, war Futurama dagegen direkt ein Konzernentwurf der kommenden Gesellschaft. Es war der Pavillon von General Motors. Der Pavillon hatte eine Fläche von über 3300 Quadratmetern mit einer halben Million (!) Häusern, eine Million Bäume und 50.000 Miniaturfahrzeugen (Trylon und Perisphere, in: Expo 2000; 1939 New York World's Fair, in: wikipedia). Das Konzept wurde vom Industriedesigner Norman Bel Geddes entworfen. Der Zeithorizont, den General Motors in den Blick nahm, waren nicht einhundert, sondern nur zwanzig Jahre. Ihre Zukunft war »Die Wunder-Welt von 1960«, wie es in der Werbung hieß, »die größere und bessere Welt von Morgen …«, ein »Tribut an die Amerikanische Weise des Lebens, in der individuelle Anstrengung, die Gedankenfreiheit und der Wille zum Handeln eine neue Generation von Menschen heranwachsen lassen, die immer neue Felder für noch größere Errungenschaften erschließen wollen«. In 552 beweglichen Sitzen hinwegfliegend über die USA des Jahres 1960, geprägt durch weitreichende Autobahnen als den Adern des Landes, hineinschwebend in eine Stadt, in der Wohngebiete, Dienstleistungs- und Verwaltungsbereiche und Industrie getrennt sind (»alle wurden sie getrennt für größere Effizienz und Zweckmäßigkeit«), in der das Stadtzentrum durch Wolkenkratzer mit 400 Metern Höhe geprägt ist, auf denen Hubschrauber landen können. Es ist eine Welt, gebaut »im Geiste des individuellen Unternehmens auf dem Großen Amerikanischen Weg [Great American Way]« (Futurama original, in: wired magazine). Und als die Besucher »landeten«, fanden sie sich genau auf jener Straßenkreuzung wieder, die sie vorfanden, wenn sie Futurama verließen – jetzt in Lebensgröße.

Wie Bel Geddes schrieb: »Futurama ist eine riesiges Modell das fast jede Landschaft Amerikas repräsentiert und illustriert, wie ein System von Autobahnen über das ganze Land gelegt werden kann – über die Gebirge, die Flüsse und Seen, durch große Städte und vorbei an den kleinen – niemals vom direkten Kurs abweichend und immer den vier Prinzipien des Autobahnbaus verpflichtet: Sicherheit, Komfort, Geschwindigkeit und Effizienz.« Es war sein fester Glauben: »Die freie Bewegung von Menschen und Gütern in unserer Nation ist eine Bedingung für modernes Leben und Wohlstand« (zit. n. Futurama (New York World's Fair), in: wikipedia).

Democracity und Futurama bildeten innerhalb des Orbits des US-amerikanischen Selbstverständnisses die beiden gegensätzlichen Pole – freie Gemeinschaftlichkeit vs. individuelles Unternehmertum, die demokratischen Institutionen oder die Konzernzentralen im Mittelpunkt, organische Verbindung von Arbeit und Leben, Politik und Wirtschaft oder ihre völlige Separierung wurden visionär zur Sprache gebracht. Und auch die Mobilität wurde in beiden Visionen unterschiedlich konzipiert – in der Verkopplung von öffentlichem Nah- und Fernverkehr und Fußläufigkeit einerseits und der Zentrierung auf das Privatauto und den Fernlastverkehr andererseits. Vielleicht ist heute der Zeitpunkt, die Vision von Democracity gegenüber der in die Krise geratenen Welt von Futurama wieder neu zu entdecken – mit Blick auf das Jahr 2039!

Back to the Future – Zurück in die Zukunft

Die Erdölkrise der frühen 1970er Jahre war im Kontext der kulturellen Veränderungen dieser Zeit auch der Auslöser einer neuen Debatte zur Mobilität. Steigende Preise und absehbare Knappheit des Erdöls einerseits und der Sinn privater Mobilität andererseits erzeugten eine breite Alternativdiskussion, die bis heute nicht abgerissen ist. Es gab einzelne, kurzzeitige Experimente auf lokaler Ebene, bis sich der Zeitgeist und die reale Wirtschafts- und Sozialpolitik des sich formierenden Neoliberalismus dagegen wandte. Anfang der 1960er Jahre hatte der Öffentliche Personennahverkehr in der Bundesrepublik noch die gleiche quantitative Bedeutung wie der motorisierte Individualverkehr, dreißig Jahre später war sein Anteil auf unter 20 Prozent gesunken.

Eine neue Welle der Diskussion kam in den 1990er Jahren auf und in Brandenburger Städten wie Lübben und Templin begannen 1997 bzw. 1998 neue Versuche der Einführung eines öffentlichen Busverkehrs zum Nulltarif. Das größte Projekt dieser Art läuft gegenwärtig in der belgischen Stadt Hasselt, in der 70.000 Menschen wohnen, 40.000 lernen und studieren, und die durch viele sog. »Einpendler« geprägt ist, Menschen, die am Tage für Arbeit, Studium und Einkauf in die Stadt fahren. 1995 kam es im Zusammenhang mit einem Wechsel des Bürgermeisters (der linke Sozialdemokrat Steve Stevaert war 1994 gewählt worden) zur Entscheidung, anstelle einer neuen, dann dritten Ringstraße dazu überzugehen, den öffentlichen Busverkehr zum Nulltarif anzubieten. Es wurde ein Mobilitätsabkommen mit der Region Flandern und dem Verkehrsunternehmen »De Lijn« abgeschlossen. 1997 gab es in Hasselt acht Stadtbusse, die gerade einmal tausend Fahrgäste am Tag hatten. 2007 waren es 46 Stadtbusse und die Zahl der Fahrgäste hatte sich verzehnfacht. Der innere Ring wurde begrünt und umgebaut. Die Innenstadt wurde attraktiver und die Mobilität stieg. Es gab und gibt eine Reihe weiterer Experimente in Europa wie in den USA.

Gleichzeitig nehmen Formen von Car-Sharing, Car-Leasing oder Car-Renting in Europa immer mehr zu. Das Auto hat insbesondere in der jüngeren Generation seinen zentralen Stellenwert als Symbol individueller (männlicher) Freiheit verloren und ist zu einem interessanten Gebrauchsgut neben anderen geworden. Mittlerweile gibt es auch Experimente mit einer völlig CO2-freien Mobilität und dies genau in Abu Dhabi in Kuwait, einem Land, dessen Reichtum sich ausschließlich dem Erdöl verdankt. Öffentlicher Nahverkehr auf der Basis erneuerbarer Energien und der Bau einer Fußgänger freundlichen Stadt unter den Bedingungen einer Wüste und Temperaturen bis 50º C (!) gehören dazu. Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entstehen die Bedingungen für Systeme der Mobilität, die zugleich öffentlich sind und im höchsten Maße individualisiert, den gleichen Zugang für alle mit Freiheit für jede und jeden verbinden. Im März 2012 wurde in einer Volksabstimmung in Tallinn beschlossen, ab 2013 einen unentgeltlichen ÖPNV einzuführen - mit Erfolg.

Es gibt aber die Möglichkeit einer anderen Weichenstellung: In den Poren der Autogesellschaft sind längst die Elemente neuer Produktions- und Lebensweise entstanden. Weder ist die klassische Arbeitsteilung von männlichem Familien»ernährer« und Hausfrau/Mutter noch vorherrschend, und auch Fließband und Großbüros von Großkonzernen sind nicht mehr uneingeschränkt dominant. Individualisierung, Flexibilisierung, Subjektivierung der Arbeit, Teamwork und Netzwerkorganisationen, flache Hierarchien und Enterprise 2.0 sind nicht nur ideologische Schlagworte, sondern beschreiben neue Realitäten. In den eigenen vier Wänden verdrängt das Internet mit Chatrooms und Rollenspielen das bloß passive fremdbestimmte Fernsehen. Dort sind die Einzelnen viel freier unterwegs als auf den Straßen der Städte. Der Reichtum menschlichen Geistes, des Spiels, der direkten Kommunikation über den Erdball hinweg mag pervertierte Formen angenommen haben, aber er kann auch emanzipatorisch erschlossen werden.

Die ökonomischen, technischen, kulturellen Voraussetzungen einer neuen Revolution des städtischen Verkehrs sind weitgehend gegeben. Aber es handelt sich wie beim Übergang zu den Autostädten, wie sie der Pavillon von General Motors auf der Futurama New Yorker Weltausstellung versinnbildlichte, hin zu Städten des weitgehend öffentlichen Personennahverkehrs um eine umfassende Transformation. Vested interests, Billionen, investiert in Autobahnen und Straßen, kulturelle Stereotype stehen einer solchen Transformation entgegen. Um sie zu durchbrechen, müssen attraktive Vorbilder, konkrete Utopien, geschaffen werden, die eine neue Dynamik auslösen. Eine solche Utopie ist der Öffentliche Personennahverkehr zum Nulltarif. Es gründen sich seit Jahren immer neue Initiativen, die diese Option diskutieren. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die die technischen und auch finanziellen Folgen prüfen.

Was spricht für den Öffentliche Personennahverkehr zum Nulltarif als bundesweitem und europäischem Projekt gerade jetzt in der Krise? Welchen Grund sollte es geben, diesen Einstieg in den Ausstieg aus dem individuellen Autoverkehr zu beginnen? (Dellheim o.J.)

1. Die erste Frage ist, können wir uns einen Nahverkehr zum Nulltarif überhaupt leisten? Nun liegen die volkswirtschaftlichen Kosten des Öffentlichen Personennahverkehrs bei höchstens 50 bis 70 Prozent der Kosten für den motorisierten Individualverkehr (Diesendorf 2002). Bezieht man alle Folgekosten ein, so liegen die Aufwendungen im Vergleich noch deutlich niedriger. Die Gesellschaft würde enorm sparen. Ein gleich hohes Bruttosozialprodukt wäre plötzlich deutlich mehr wert. Wachsender Reichtum der Gesellschaft und ihrer Bürgerinnen und Bürger bei Nullwachstum! Aber die Kosten wären anders verteilt. Sie müssten durch die öffentliche Hand aufgebracht werden. Dies bedeutet eine Umverteilung von privat hin zu öffentlich, damit auch privat gespart werden kann. Die These des »Mehr Netto vom Brutto« erweist sich hier als Demagogie. Denn ein Weniger vom Brutto des Einzelnen wäre real ein Mehr für viele Einzelne, wenn es nur wirklich in die richtigen Ausgaben, in den Aufbau des Öffentlichen Personennahverkehrs, ginge. In Großbritannien geben Autobesitzer rund ein Drittel (!) ihres Nettolohns monatlich für Kosten aus, die mit dem Auto verbunden sind (Osborne 2006). Der Blick auf die bloßen Benzinkosten, den viele anstellen, führt völlig in die Irre. Ein Kleinwagen kostet seinen Nutzer zum Beispiel in Deutschland circa 320 Euro im Monat, ihre Besitzer gehen aber im Durchschnitt von nur 190 Euro aus (Focus 2006).

Wäre die Gesellschaft ein Unternehmen, so würde sie sagen, dass das Kapital, das in den Verkehrsmitteln steckt, möglichst intensiv ausgenutzt werden müsse. Private Autos haben eine genau entgegengesetzte Eigenschaft: Sie stehen vor allem rum, im Wege und auf dem Wege. Sie nehmen gigantische Fläche an Fahrbahnen und Stellplätzen weg. Ihre Produktivität liegt gegenüber dem Öffentlichen Personennahverkehr uneinholbar zurück. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn sie sich bewegen, ist in Städten um ein Vielfaches unter dem von Bahnen. Um diese Kostennachteile privater Autos auszugleichen, werden sie massiv subventioniert. Die Kosten, die privat in Rechnung gestellt werden, liegen nach unterschiedlichen Angaben bei nur 70 bis 50 Prozent der realen gesellschaftlichen Kosten.

2. Die CO2-Emmissionen in den hochentwickelten Ländern gehen zu rund einem Viertel auf den Verkehr zurück. Die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln würde den CO2-Ausstoß um den Faktor 5 oder sogar 10 senken können. Um eine extreme Klimakatastrophe zu verhindern, sind Reduktionen in dieser Größenordnung in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten notwendig. Im Verkehr würde dies auf der Basis vorhandener Technologien allein durch die Umstellung auf öffentliche Verkehrssysteme möglich sein. Es gibt dazu keine vergleichbare technologische Alternative. Auch das sog. Elektroauto müsste auf Strom zurückgreifen, der in absehbarer Zeit in vielen Ländern nicht durch erneuerbare Energiequellen erzeugt werden kann. Die Treibstoffe aus landwirtschaftlichen Produkten (»Agrofuel«) haben sich als eine Hauptursache weiterer Umweltzerstörung, des Ruins der ländlichen Produktion insbesondere von Klein- und Mittelbauern und des wachsenden Hungers erwiesen.

3. Von Garrett Hardin gibt es einen berühmten Artikel: Die Tragödie der Gemeinwesen (1968). Dort schildert er, wie Weideland, wenn es im Gemeindebesitz ist, Gefahr läuft, überweidet und zerstört zu werden. Was er nicht beachtet, ist, dass gute Gemeinden genau dies über viele Jahrhunderte nicht zugelassen haben, ganz anders als die auto- und kapitalfixierten westlichen Gesellschaften, die ihren »Schafen« freien Lauf ließen. Sie haben zugelassen, dass die Autos den Globus zerstören, die Städte verstopfen, sie mit Abgasen vergiften, die Ressourcen erschöpfen, das Land zerteilen durch immer größere Straßen. Weltweit gab es im Jahre 2007 über 800 Millionen Autos, davon 250 Millionen in den USA. Jährlich werden etwa 70 Millionen neue Autos produziert (Automotive industry, in: wikipedia). Die Zahl von Toten je zurückgelegtem Kilometer ist beim Auto sechs- bis achtmal so hoch wie bei Bus oder Eisenbahn. Autos sind nicht nur eine Waffe gegen die Natur, sie richten auch ein Gemetzel unter motorisierten und nicht motorisierten Bürgerinnen und Bürgern an. Wir haben uns für das buchstäblich mörderischste Verkehrssystem entschieden.

4. Ein Hauptgrund, der für Autos zu sprechen scheint, ist die erhöhte individuelle Mobilität, die Möglichkeit, direkt von Haus zu Haus zu kommen. Dem stehen zum einen die oft langen Fahrzeiten gegenüber. Zum anderen könnte die grundsätzliche Verlagerung des Personenverkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel mit dem hochsubventionierten oder gleichfalls entgeltfreien Ausbau eines Taxisystems für kurze Strecken kombiniert werden. Auch die Möglichkeit von Carsharing für »die letzten zwei Kilometer« ist in Erwägung zu ziehen, wobei eine Nutzung in der Höhe von 50 km (oder in dünn besiedelten Gebiete auch mehr) im Monat kostenfrei wäre. Die Lieferung von Einkäufen würde nicht im privaten Auto, sondern durch Massenlieferanten erfolgen. Länder wie die Schweiz zeigen, dass ein gutes dichtes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln die Nutzung des privaten Automobils deutlich senkt. Umgekehrt ist die Ausdünnung des öffentlichen Angebots, seine Verschlechterung oder das schlichte Fehlen entsprechender Angebote eine wesentliche Ursache des steigenden motorisierten Individualverkehrs.

5. Die Verdrängung des Autos aus den öffentlichen Räumen unserer Städte würde deren Rückgewinnung als Räume der Begegnung, des öffentlichen Lebens auf der Straße, der gefahrlosen Begegnung mit Fremden ermöglichen. Die Belastung durch Lärm, Schmutz (Feinstaub) und Abgase würde drastisch sinken. Viele große Straßen könnten weitgehend begrünt werden. Man stelle sich für einen Moment die Zentren von Rom und Paris autofrei vor! Die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung über die Stadt würden steigen. Mit deutlich gestärkten kommunalen Verkehrsbetrieben könnten Unternehmen starker bürgernaher Mitbestimmung entwickelt werden. Anstelle der Zwänge privater Mobilität untergeordnet zu werden, würden die Städte ganz anders demokratisch gestaltbar. Die Städte des »Habens« sind die des Autoverkehrs und der Konsumtempel, oft auf der zubetonierten Wiese, die Städte des »Seins« sind Orte öffentlichen Nahverkehrs und der Kultur.

6. Ein Öffentlicher Nahverkehr, der zum Nulltarif angeboten wird, ist ein typisches Mitte-Unten-Bündnis (Brie 2007: 259-318). Er ist solidarisch mit den Schwächeren, jenen, die sich kein Auto leisten können, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind, von dessen Mängeln besonders betroffen sind, denen teilweise aber auch das Geld für eine Monatskarte fehlt. Und er ist ein Angebot für die Mittelschichten, ihre hohe Mobilität nicht als privaten Luxus der Wenigen, sondern als »Luxus des Öffentlichen« (Davis 2006: 816) praktizieren, der allen zugänglich ist und keinen ausschließt.

7. Ein ausgebauter öffentlicher Nahverkehr zum Nulltarif wäre eines jener Projekte, die wirkliche globale Kooperation ermöglichen. Der private Autoverkehr ist nicht global zu verallgemeinern, auch wenn genau daran gerade gearbeitet wird. In den reichen Ländern des Nordens ist die gleichzeitige Aufrechterhaltung eines privaten und öffentlichen Verkehrssystems heute noch zu finanzieren, aber wohl kaum noch morgen. Im Süden ist dies schon heute ausgeschlossen. Hier ist die Mobilität sozial extrem eingeschränkt. Der Umstieg auf den ÖPNV zum Nulltarif im Norden wäre eine wirksame Entwicklungshilfe: Er senkt die Nachfrage nach Ressourcen, verringert die Klimagefährdung, von der vor allem der Süden bedroht ist, bietet ein Modell an, dass anders als der motorisierte Individualverkehr tatsächlich global verallgemeinert werden kann, könnte mit einem entgeltfreien Technologietransfer von Nord nach Süd verbunden werden. Ein Teil der volkswirtschaftlich eingesparten Kosten könnte in die Förderung entsprechender Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern investiert werden.

In der jetzigen Krise sind öffentliche Konjunkturprogramme notwendig, um eine dauerhafte Rezession zu verhindern. Die Frage ist nur, ob es Programme wie die der »Umweltprämie« sein sollen, die Industrien und Technologien fördern, die völlig überholt sind und einem vergangenen Zeitalter angehören, oder die des langfristigen sozialökologischen Umbaus. Der Planet ist zu klein geworden, um auf seine Kosten noch weiter Ressourcen zu verschwenden. Die Not ist zu groß, um durch wachsende Staatsverschuldung überlebte Strukturen zu erhalten. Die Chancen eines Wandels liegen zu sehr auf der Hand, als dass ein phantasieloses zerstörerisches ›Weiter-So‹ geduldet werden sollte. Es ist Zeit, aus der Krise eine Chance zu machen, genau das zu tun, was wir eigentlich schon immer wollten – aufbrechen in eine gute, eine solidarische und deshalb auch autofreie Gesellschaft. Anstelle der autodominierten Städte des Habens können Städte des Seins (Fromm 1976) entstehen. Die Menschen werden nur bleiben, wenn sie nicht AUTO bleiben und den Planeten nicht als Autobahn vernutzen. Dies aber ist nur erreichbar, wenn wir, Naturwesen, die wir sind, endlich lernen, schonend und behutsam mit der Welt umzugehen und uns den Reichtum des Öffentlichen erschließen. Dann vielleicht würden solidarische Menschen das Maß der Dinge bestimmen und die Erde würde zur Heimat.

Dies ist eine leicht modifizierte Fassung des Beitrags, der für das Jahrestreffen der American Sociological Association on »Concrete Utopias. Emancipatory Projects, Institutional Designs, Possible Futures« vorbereitet wurde (Denver, August 2012) und auf englisch abgedruckt ist.
Michael Brie und Mario Candeias: Just Mobility. Postfossil Conversion and Free Public Transport, Reihe Analysen der RLS 2012, in: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analyse_Just_Mobility.pdf [29.4.2013]

Verwendete deutsche Übersetzungen der im Original englischsprachigen Zitate wurden vom Autor angefertigt.

Foto: Perisphere in der New York Weltausstellung 1939 (wikimedia commons; Foto v. Leo Husick)

Literatur:

Automotive industry, Artikel in: wikipedia.org [letzter Zugriff am 28.4.2013]

Detlef Borchers: Vor 70 Jahren: Die Welt von morgen war auch einmal besser, in: c't - magazin für computer technik, v. 30.4.2009. [letzter Zugriff am 29.4.2013]

Michael Brie: Segeln gegen den Wind. Bedingungen eines politischen Richtungswechsels in Deutschland, in: Michael Brie, Cornelia Hildebrandt, Meinhard Meuche-Mäker: Die LINKE. Wohin verändert sie die Republik? Berlin 2007, S. 259-318.

Mike Davis: Planet of Slums, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2006, S. 805-816.

Judith Dellheim: Unentgeltlicher ÖPNV – eine Strategie pro sozialökologischen Umbau, o.J., in: http://hvvumsonst.blogsport.de/images/Dellheim.1011204.pdf [letzter Zugriff am 29.4.2013]

Democracity Recreation, rekonstruiertes Video in: youtube. [letzter Zugriff am 28.4.2013]

Deutsche unterschätzen Auto-Kosten, Artikel in: Focus Online, v. 19.11.2006. [letzter Zugriff am 28.4.2013]

Die Weltausstellung 1939 & 1940 in New York, Trylon und Perisphere, in: ehemaliger Expo2000 Internetauftritt. [letzter Zugriff am 28.4.2013]

Mark Diesendorf: The effect of land costs on the economics of urban transport systems, in: K.C.P. Wang u.a. (Hg.): Traffic and Transportation Studies, Proceedings of Third International Conference on Traffic and Transportation Studies (ICTTS 2002), Guilin 2002, S. 1422-1429.

Futurama (New York World's Fair), Artikel in: wikipedia.org [letzter Zugriff am 29.4.2013]

Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 2010, 37. Aufl. [Erstauflage 1976 der englischsprachigen Originalausgabe To Have or to Be?].

Futurama original, Werbefilm in: wired magazine, v. 27.11.2007. [letzter Zugriff am 28.4.2013]

Garrett Hardin: The Tragey of the Commons, in: Science, Vol. 162, No. 3859 (1968), S. 1243-1248.

Hilary Osborne: Cost of running a car ›exceeds £5,000‹, in: The Guardian, v. 20.10.2006. [letzter Zugriff am 29.4.2013]

1939 New York World's Fair, Artikel in: wikipedia.org [letzter Zugriff am 29.4.2013]

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