von Wolf Biermann
Beichten will ich Ihnen hier, warum ich frommes Kind – einst konfirmiert in der Kirche des Kommunismus - die Demokratie in meiner Jugend verkannte und verachtete. Berichten will ich Ihnen, wie ich dann als junger Mann in der DDR das viel zitierte Bonmot von Winston Churchill über das Dilemma der Demokratie immerhin schon halb verstand. Erst in den lehrreichen Jahren nach meiner Ausbürgerung 1976, erst im Westen, eigentlich erst seitdem der tapfere Renegat Manés Sperber mir dann in Paris den faulen kommunistischen Zahn gezogen hatte, begriff ich den Glanz, aber auch das Elend der Demokratie schon etwas besser. »Demokratie ist eine schreckliche, eine miserable Staatsform, aber von allen, die es in der Welt gibt, die allerbeste.«
Dieses vielleicht berühmteste Wort des Winston Churchill über die Demokratie lautet, wie es überliefert ist aus einer Rede vor dem House of Commons am 11. November 1947, korrekt als komplettes Zitat: »Many forms of government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of Government except all those other forms that have been tried from time to time.« Auf Deutsch heißt dieses haltbare Wort aus Churchills Rede vor dem Unterhaus in London:
»Viele Regierungsformen sind ausprobiert worden und werden noch ausprobiert in diesem Jammertal. Niemand tut so, als wäre die Demokratie perfekt oder der Weisheit letzter Schluss. Ja, es ist sogar gesagt worden, dass die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen ist, mit Ausnahme all der anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.«
Sie werden wissen: Ich wurde mitten in der Nazizeit in einem kommunistischen Nest der Stadt Hamburg ausgebrütet. Und also lernte ich von meiner Mutter, daß Demokratie, wie man mit Wiener Schmäh sagen würde, ein Schmarren ist. Wenn nämlich das griechische Wort Demokratie wortwörtlich ins Deutsche übersetzt ›Volksherrschaft‹ heißt, na dann bedeutet das in der Kommunistensprache im Klartext: Die Herrschaft des Volkes über seine Unterdrücker und Ausbeuter. Demokratie ist also Diktatur. Die wahre Demokratie ist die Diktatur des Proletariats. Shakespeare liefert den Beweis: Es gibt in jeder starken Tragödie immer auch was zum Lachen: Als der junge Marx 1843 Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung war, hing an seiner Bürotür ein nur halb scherzhaft gemeinter Spruch von ihm selbst, den mancher Bürokrat heute noch gern und leider ohne Augenzwinkern in Gebrauch nehmen würde: »Ab hier ist Schluß mit der Demokratie!«
Marx war ein genialer Denker, groß auch im Irrtum und dabei kleinkariert als Privatmensch. Immerhin wissen wir es von ihm selbst: Marx war gewiß kein Marxist. Aber die nachgeborenen Marxisten - und rabiater noch die Murxisten - wir alle hatten damals immer eine süffisante Haltung zur Demokratie. Wir verachteten sie als eine ideologische Propagandalüge der Bourgeoisie zur Verschleierung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Als Chruschtschow 1956 seine Geheimrede in Moskau über die Verbrechen der Stalin-Ära hielt, war das eine Art stalinistischer Staatsstreich gegen die Stalinisten in der Parteiführung der Sowjetunion. Nun begann im ganzen Ostblock die sogenannte Liberalisierung, also ein halbherziger Aufbruch in die Demokratie. Auch für mich und andere linke Rebellen wandelte sich das Wort Demokratie nun in ein positives und auch brauchbares Schlagwort, denn wir konnten damit unsere monopol-bürokratischen Parteifunktionäre in der DDR attackieren.
Wir durchschauten immer deutlicher, daß die Doktrin von der Diktatur des Proletariats im Grunde nichts anderes war, als die konterrevolutionäre Rechtfertigung einer Diktatur der Parteibonzen gegen das Proletariat, also gegen das partei-eigene Volk.
Und als im Frühjahr 1968 der neugewählte 1. Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Alexander Dubček, mit seinen mutigen Genossen im Prager Parteiapparat den Prager Frühling wagte, war das eine Art Palastrevolution, ein demokratischer Putsch. Nun wollten auch wir, die staatlich anerkannten Staatsfeinde in der DDR – denken Sie an meinen engsten Freund, den alten Kommunisten Robert Havemann - Demokratie und Kommunismus miteinander verkuppeln. Eine welthistorische Liebesheirat wurde gestiftet: »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Was aus dieser Ehe unmittelbar nach der Hochzeit wurde, wissen Sie.
Damals begegnete mir das berühmte Churchill-Wort über die Demokratie erstmal in der vulgär verkürzten Form. Und ich dachte: Was´n gewiefter Witzeerzähler: Erstmal lockt Churchill den Zuhörer in die Sottise, daß Demokratie schrecklich sei, damit dann die positive Pointe richtig knallt. Also nahm ich den ersten Teil des Churchill-Zitats nur als raffiniert rhetorische Floskel. Und den zweiten Teil der Aussage: Die Demokratie sei gemessen an allen anderen Formen des Zusammenlebens die allerbeste, nahm ich als ein Lob der Demokratie ohne Wenn und Aber.
Erst viel später las ich ein Buch, das mir in der DDR leider nicht in die Finger geraten war: Die geniale Monographie über den genialen Churchill, geschrieben vom genialen Sebastian Haffner, der mir ein Licht aufsteckte. Nun erst begriff ich, daß der erste Teil des berühmten Zitats von Churchill gar nicht witzig gemeint war, sondern todernst: Sir Winston Churchill verachtete die Demokratie von Herzen, er fand sie zum Kotzen. Das behauptet Haffner über einen Helden der Weltgeschichte, der immerhin wie kein Anderer die Demokratie tapfer verteidigt hatte. Sir Winston entstammte einer alten englischen Adelsfamilie. Sein Hochmut gegen die Demokratie war also vererbt. Aber es war eben ein nobler, ein britischer Hochmut gegen das Volk – und der muß in England traditionell demokratisch sein.
Churchill hatte als Feldherr 1945 seine Schuldigkeit getan, der Krieg gegen Hitler-Deutschland war gewonnen. Aber der gefeierte Sieger gegen die Diktatur wurde vom englischen Volk im Handumdrehn demokratisch gefeuert. Sogar noch während seiner heiklen Verhandlungen mit Stalin und den Alliierten in Potsdam über die Nachkriegsordnung wurde Churchill bei den Wahlen in London schnöde abgewählt. Was für ein dumpfer Undank! Und schlimmer: Was für ein dumpfer Fehler! Oh, Sancta Simplicitas der Wähler! Diese Blindheiten tun weh! Aber die unvollkommene Demokratie ist immer noch besser als die vollendete Diktatur. Die geheimen freien Wahlen sind und bleiben der Glanz des demokratischen Staates. Es ist und bleibt der Ruhm und die Ehre der Demokratie, daß ein Volk sich korrigieren kann, daß es seine Führer frei abwählen darf, daß es sie also loswerden kann, ohne sie totschlagen zu müssen.
Sir Winston Churchill hat diese höllische Achterbahn auf dem demokratischen Jahrmarkt am eigenen Leibe schmerzlich erfahren: Er lebte nach seiner Abwahl sechs Jahre im Zenit seines Weltruhmes im Abseits. Und noch verrückter: 1951, bei der nächsten Wahl, siegte er dann doch wieder, wenn auch nur knapp, über Labour und kam so abermals an die Regierung. Wie engelsgeduldig muß ein Demokrat in dieser Vorhölle sein, wie bescheiden in allem Ehrgeiz! Allein dieser Fall zeigt uns die Mühsal, das Elend der Demokratie: Volkes Stimme ist eben nicht Gottes Stimme. Sowohl die Wähler wie auch die Gewählten können leicht aneinander und gegeneinander die Geduld verlieren. Der griechische Philosoph Plato kannte das Problem offenbar schon in seiner antiken Sklavenhalterdemokratie. Er klagte:
»Wohlan, mein Freund, wie steht es mit der Diktatur? Ist es nicht so, dass sich die Demokratie selbst auflöst durch eine gewisse Unersättlichkeit in der Freiheit? Wenn Väter sich daran gewöhnen, ihre Kinder einfach gewähren und laufen zu lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten, ein Wort zu reden; oder wenn Söhne schon sein wollen wie der Vater, also ihre Eltern weder scheuen noch sich etwas sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbstständig zu erscheinen! Und auch die Lehrer zittern vor ihren Schülern ... Überhaupt sind wir schon so weit, dass sich die Jüngeren den Älteren gleich stellen, ja gegen sie auftreten in Wort und Tat, die Alten aber setzen sich unter die Jungen und suchen sich ihnen gefällig zu machen, indem sie ihre Albernheiten und Ungehörigkeiten übersehen oder gar daran teilnehmen, damit sie ja nicht den Anschein erwecken, als seien sie Spielverderber oder auf Autorität versessen. Auf diese Weise werden die Seele und die Widerstandskraft aller Jungen allmählich mürbe. Sie werden aufsässig und können es schließlich nicht mehr ertragen, wenn man ein klein wenig Unterordnung von ihnen verlangt. Am Ende verachten sie auch die Gesetze, weil sie niemand und nichts mehr als Herr über sich anerkennen wollen. Und das ist der schöne, jugendfrohe Anfang der Tyrannei!«
Platon (427 bis 347 v. Chr.)
Fast zweieinhalb Jahrtausende alt - und klingt wie heute geschrieben! Es klingt, als wär´s ein Lied von mir, will sagen, als wäre es ein kluger Seufzer von Dir.
Demokratien haben einen fundamentalen Vorteil: sie sind günstig für den Frieden. Sie befördern offenbar den fruchtbaren Streit innerhalb der Völker - und sie verhindern den fruchtlosen Krieg zwischen den Völkern. Es wüteten in der ganzen Weltgeschichte große und kleine Verdrängungskriege, auch Religionskriege und Wirtschaftskriege um Macht und Ressourcen. Aber noch niemals hat es in der Neuzeit einen Krieg gegeben zwischen zwei Demokratien! Als ich diese Behauptung zum ersten mal hörte, widersprach ich automatisch wie Luft holen. Aber dann holte ich tief Luft und dachte tiefer nach ... und fand kein einziges Gegenbeispiel, nicht mal in der Antike. Liegt da womöglich der Schlüssel versteckt für einen Frieden im Nahen Osten?
Die Ägypter müssen es schaffen, ihren endlich freigekämpften Staat zu demokratisieren. Das beste humane Heilmittel dafür ist – anders kann ich es mir gar nicht denken - die moralische Substanz des Islam. Das Prinzip des Friedens findet sich im Koran so gut, wie im Judentum und im Christentum.
Die neuesten Nachrichten aus Kairo zeigen es aber brutal: Die Kriege werden in dieser Region weiterbrennen und glühen und glimmen und schmoren und explodieren. Wenn ein fanatischer Mob sich aus der Tyrannei eines Mubarak befreit, um gleich mal die Botschaft Israels, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, zu brandschatzen, dann graut mir vor dieser antidemokratischen Demokratisierung. Da gilt dann auch für die nächsten Ewigkeiten die fatale Grundwahrheit der Historiker: Es gibt tief eingefressene Konflikte, für die kann es keine Lösung geben, die haben eben nur eine Geschichte.
Immanuel Kant hat in seiner Altersschrift Zum ewigen Frieden uns darüber aufgeklärt, daß der Frieden kein natürlicher Zustand des Menschengeschlechts ist. Nur durch vernünftige Gesetze und gerechte Verträge kann ein Friede gestiftet werden. Kant schrieb gegen die Tyrannei der Despoten seiner Zeit an, und er forderte gegen deren Willkürherrschaft die Gerechtigkeit und das Recht und Gesetze. Aber kein Menschenrecht und kein Völkerrecht, kein Gesetz kann ohne Machtmittel durchgesetzt und verteidigt werden. Recht ist eben eine Frucht am Baume der Kultur und ist nicht ein Zufallsgeschenk der Wildnis. Und zu dieser Kultur gehört notwendig auch Gewalt, die eine Not wenden kann.
Es ist eine Phrase für unmündige Bürger, wenn behauptet wird, daß Gewalt immer nur Gewalt gebiert. Das demokratische Europa verdankt sich der Gewalt gegen die Hitler-Diktatur mit ihrer Allmachtsmelodie: » ... und morgen die ganze Welt!«
Unser lebenskluger Finanzfachmann Horst Köhler war nach meiner Meinung als Bundespräsident für die Deutschen ein Glücksfall. Und sein Rücktritt nach einem niederträchtigen Tritt vom totalitären Grünen Trittin war gar kein Glück für Deutschland. Köhler hatte recht, als er in einem Nebensatz einem Reporter die peinliche Binsenwahrheit ins Mikrophon plapperte, daß eine Demokratie sich mit Waffengewalt schützen muß. Zur Verteidigung gehört eben auch die militärische Verteidigung legitimer wirtschaftlicher Interessen, etwa der Schutz internationaler Handelswege gegen professionell gerüstete Piraten am Horn von Afrika, die auch für Deutschland, das in hohem Maße vom Welthandel lebt, ja überlebenswichtig sind. Die Demokratie muß fähig und bereit sein, einen Verteidigungskrieg zu führen.
Dabei wissen wir alle: jeder gerechte Krieg ist automatisch auch ein Unrecht, allein schon deshalb, weil immer auch Unschuldige getroffen werden. Kugeln sind weder demokratisch noch diktatorisch, sie sind tödlich. Und die Tränen der Mütter auf beiden Seiten sind salzig, auch die Tränen der Mütter von paradiessüchtigen islamistischen Selbstmordmördern im Terrorkrieg. Wir Deutschen können heute über dieses Dilemma übrigens nur in Ruhe nachdenken und öffentlich streiten, weil Millionen Soldaten der Anti-Hitler-Koalition kämpften und starben und siegten.
Die europäische Union ist ein demokratisches Lebenselixier grade auch für die Deutschen. Deshalb finde ich es richtig, dass Angela Merkel dem Heimatland der Demokratie Griechenland immer noch großzügig und stur die europäische Stange hält – aber zugleich, wie eine sparsame und kluge Hausmutter, das große Portemonnaie festhält, solange nicht sicher ist, daß unsere deutschen Steuermilliarden eine Hilfe zur griechischen Selbsthilfe sein werden. Die Eurokrise ist eine Staatsschuldenkrise. Nicht nur die griechischen, auch die deutschen Politiker leben auf Pump, damit sie ihr Wahlvolk bestechen können mit sozialen Wohltaten. Das Elend der Demokratie liegt darin, daß alle Politiker, die etwas Gutes nicht nur für sich und ihre Partei, sondern auch für ihren Staat oder sogar für die Menschheit befördern wollen, Mehrheiten nur gewinnen können, wenn sie immer auch vom stumpfsinnigsten Pack gewählt werden. Und das muß man sich durch Wahlgeschenke verpflichten. Klingt das nicht wie eine Neuauflage des lateinischen do ut des im römischen Patronat? - »Ich gebe damit Du gibst.« Diktatoren haben dieses Demokratie-Problem nicht, da regeln der Knüppel, der Maulkorb, der Stacheldraht, die Panzer das Spiel der Kräfte.
Die dreigliedrige Gewaltenteilung in Legislative, Rechtsprechung und Regierung war ein historischer Fortschritt auf dem Weg in die demokratische Freiheit, ein Weg, den allerdings die meisten Staaten in der UNO, die bei Abstimmungen in New York die Mehrheit bilden, noch vor sich haben.
In unserer Epoche kam nun als vierte Säule des Gemeinwesens die wachsende Macht der Massenmedien hinzu. Die Presse – und noch stärker das Fernsehn. Und eine Art fünftes Bein: die digitale Naturgewalt des Internet. Sogar im totalitären China erobert die Twitter-und Facebook-Generation sich immer mehr Freiheiten, kleine virtuelle Schritte auf dem Weg in die reale Freiheit.
Auch die Medien machen das Wetter.
Die Wahltermine hängen in der Demokratie wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der politischen Macher. Der Einfluß der Medien ist wahlentscheidend.
Die Politprofis im Parlament können ja bei jedem praktischen Schritt, bei jedem öffentlichen Wort erstmal überlegen: Ist dieser Schritt richtig so? Aber zehnmal müssen auch die Großmütigsten kleinmütig spekulieren: bringt es Wählerstimmen oder kostet es Prozente bei der nächsten Wahl. Die Verführung, den Dumpfbacken nach dem Munde zu reden, ist riesig. Es geht um Ansehen, Karriere und Gestaltungs-Macht. Und so passiert es allzu leicht, daß die Stimmenfänger – Augen zu! und durch!! - in die Schuldenfalle tappen: Sie verteilen das, was sie nicht haben, aus der Staatskasse natürlich auf Pump.
Nicht nur die Italiener, Griechen und Spanier und Portugiesen und US-Amerikaner leben über ihre Verhältnisse, sondern auch wir überordentlichen Deutschen. In dieser Hinsicht sind eben nicht die parasitären Spekulanten schuld an der Schuldenkrise, sondern die populistischen Politiker, die immer mehr Schulden machen, um gewählt zu werden.
Die Mächtigen in der Demokratie müssen und sollen auf Volkes Stimme hören – und trotzdem ihrem Wissen und Gewissen folgen. Und - und – und!
Wäre ich schlauer, würde ich Ihnen das Folgende lieber verschweigen: Ich bin mir gar nicht sicher, ob etwa der panische, will sagen: der seit dem Unfall in Fukushima ja-panische Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie nicht ein folgenschwerer und grotesker Fehler ist. Ist die Menschheit am Anfang der Atomkraft-Epoche oder am Ende? Auch die klügsten Wähler in Deutschland sind nicht grade gut ausgerüstet für eine hinreichende Urteilskraft in dieser komplexen Schicksalsfrage. Die Roten und die Schwarzen und sogar die Braunen werden immer grüner. Und die Grünen surfen fröhlich auf der apokalyptischen Angstwelle.
Auf meine naturwissenschaftliche Bildung wurde einige Mühe verwandt. Ich habe Mathematik studiert und sogar mit »Sehr gut« an der Humboldt-Universität in Berlin absolviert. Mein Freund Robert Havemann, der bedeutende Professor für Physikalische Chemie hat mir in den 12 Jahren, als wir in Ostberlin beide total verboten waren und deshalb schön viel Zeit hatten, den Energieerhaltungssatz der Thermodynamik beigebracht und die brownsche Molekularbewegung, auch den Unterschied von Kernspaltung und Kernfusion. Ich könnte Ihnen ganz gut die Wirkungsweise eines Absorber-Kühlschranks und eines Kompressor-Kühlschranks erklären – Aber dennoch bin ich ein Laie!!
Wie sollen lebenserfahrene und mündige Bürger, die sich nie im Leben mit Physik beschäftigt haben, über Chancen und Gefahren der Atomkraftnutzung entscheiden. Ich kann es nicht.
Lassen wir das lieber, es macht nur böses Blut. Besonders wütend streitet man, wenn man zu wenig Ahnung hat.
Lassen Sie mich lieber über Dinge reden, die ich etwas tiefer verstehe, lassen Sie mich am Schluß an das Wort von Plato anknüpfen, wenn der sagt, daß die verwöhnten Kinder der Demokratie in der Gefahr sind, die Demokratie gering zu achten und der Freiheit am Ende sogar überdrüssig werden und also reif sind für den Absturz in die Tyrannei.
In dieser Gefahr sind wir, die gebrannten Kinder des Kommunismus, die wir aus den finsteren Zeiten der zwei Diktaturen uns herauskämpften, wohl kaum. Im Gegenteil. Solche wie ich haben einen anderen Knall. Wir Diktaturgeschädigten sehen - umgekehrt - die endlich errungene Demokratie manchmal all zu romantisch naiv im verklärten, in allzu mildem Lichte.
Wie finster aber auch die schönste Demokratie sein kann, wie gefährlich auch die Freiheit, das will ich eigentlich gar nicht wahr haben, und das irritiert und ärgert mich.
Freiheit ist so ein Zauberwort. Dabei sollte ich doch aus der Erfahrung wissen: Freiheiten sind nicht das Gleiche wie Freiheit. Im Plural: Freiheiten werden von Machthabern gewährt oder eben nicht gewährt. Aber im Singular Freiheit, also DIE FREIHEIT - tja, die gibt es eben nur für den einzelnen Menschen und auch nur für die Völker, die den Mut haben, sich die Freiheit zu nehmen.
Die Fernsehapparate liefern tagtäglich und wohlfeil das Elend aus aller Welt in alle Welt. Wir reiben uns die Augen und sehen: Auch die beste aller möglichen Welten, also die Demokratie, ist ein groteskes Chaos. Auch die Wege der Freiheit sind steinig, sind dunkel und gefährlich.
Warum ich in diesem schönen Saal des Wiener Parlaments mitten in der funktionierenden Demokratie Österreichs so düster rede? Weil die Franzosen ein schönes Sprichwort haben, das auch für die Frau gilt: »Ein gewarnter Mann ist doppelt stark.«
(Ende der aufgeschriebenen Rede)
Meine Gitarre habe ich heute nicht mitgebracht, es paßte mir nicht zu solch einer Rede am Rednerpult im Parlament. Aber ich möchte Ihnen zum Schluß doch - mit bloßen Händen – ein Lied vorsingen, das ich damals in Ostberlin schrieb, nach dem Einmarsch der fünf Warschauer-Pakt-Armeen in die Tschechoslowakei.
Es paßt zum uralten Thema Diktatur und Demokratie.
Wir Oppositionellen in der DDR hatten damals natürlich die Hoffnung, daß dem Prager Frühling auch ein Berliner Frühling folgt. Nun aber waren wir tief niedergeschlagen. Wir erlebten die Wahrheit eines Satzes, den Brecht mal schrieb in seinen Anmerkungen zum Stück Leben des Galilei: »Den übertriebenen Hoffnungen folgt leicht die übertriebene Hoffnungslosigkeit« - Und gegen diese Demoralisierung mußten wir in den finsteren Zeiten nach dem 21. August 1968 ankämpfen. Also sang ich mir und meinen Freunden zur Ermutigung dieses Lied.
Lied von den bleibenden Werten
1
Die großen Lügner, und was - na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben – was - was - was - was
- dass wir ihnen geglaubt haben
Die großen Heuchler, und was - na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
- dass wir sie endlich durchschaut haben
2
Die großen Führer, und was - na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben – was - was - was - was
- dass sie einfach gestürzt wurden
Und ihre Ewigen großen Zeiten – na was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
- dass sie erheblich gekürzt wurden
3
Sie stopfen der Wahrheit das Maul mit Brot
Und was wird bleiben vom Brot?
Bleiben wird davon - na, was? -
- dass es gegessen wurde
Und dies zersungene Lied - na, was
Wird bleiben vom Lied?
Ewig bleiben wird vom Lied
- dass es vergessen wurde
Die Rede hielt Wolfgang Biermann am 15.9.2011 im Wiener Parlament.