von Gerd Held

 

Die Volkswagen-AG ist nicht in eine unhaltbare Position geraten, weil sie zu sehr einem unternehmerischen »Egoismus« gefolgt ist, sondern weil unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele dominant geworden sind. 
(VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft, Teil II)

Wenn man genau hinsieht, was VW in die Krise gestürzt hat und was das Unternehmen weiterhin in einer unhaltbaren Situation hält, dann sind es nicht Fehlentscheidungen, die aus der inneren unternehmerischen Logik erwachsen sind. Die also auf ein »zu viel« an unternehmerischem Denken zurückzuführen sind. Nein, es sind äußere, unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele, die ins Unternehmen eindringen konnten. Der Autobauer wurde dadurch überlastet und in seinem Handeln überdehnt. Das Modewort »Herausforderungen« spiegelt das wider – und verharmlost es zugleich, denn »Herausforderung« ist mit der Vorstellung verbunden, dass es um etwas im Prinzip Erfüllbares geht. Es ist dann nur eine subjektive Frage, ob man die Herausforderung »annimmt« oder nicht. In dem bereits zitierten Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume (FAZ, 23.12.2024) wird er gefragt: »Nächstes Jahr drohen in Europa Strafzahlungen, weil die Autobranche strengere CO2-Regeln nicht einhalten kann. Wie teuer wird es für Volkswagen?« Blume antwortet: »Die Ziele sind tatsächlich extrem anspruchsvoll.« Das ist genau jene »leichte Sprache«, die den Eindruck erweckt, hier würde ein Anspruch an das Unternehmen gestellt, der zwar groß, aber doch irgendwie erfüllbar sei. In Wirklichkeit werden die Strafzahlungen, wenn sie nicht noch abgeschafft werden, ruinös für große Autounternehmen, die sowieso schon in großen Ertragsschwierigkeiten stecken. Es geht bei VW jetzt nicht um subjektive Bereitschaft und Moral, sondern um die objektiven Bedingungen der Wertschöpfung. Man kann 100mal den Klimawandel beschwören, aber wenn die Maßnahmen, die ihn (angeblich) eines Tages aufhalten sollen, jetzt die Produktivität der Unternehmen zerstören und sie nichts und niemand mehr bezahlen können, wird die »Klimarettung« zu einer absurden Veranstaltung. Es ist daher ein richtiger Impuls, dass inzwischen eine Mehrheit im Lande die Krise der Wirtschaft mit größerer Sorge betrachtet als die Veränderungen beim Klima.

Man muss also insgesamt die Verschiebungen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bei VW durch neue Ansprüche, die von außen an das Unternehmen herangetragen und in das Unternehmen hineingetragen wurden, neu betrachten und neu bewerten.

Zwei unhaltbare Positionen der Grundaufstellung von VW

Eine große Verschiebung, die sich jetzt als unhaltbar erweist und ganz wesentlich zur VW-Krise geführt hat, ist eine technologische Verschiebung. Sie erfolgte im Namen der Klimarettung: Die CO2-Emmissionen der Verbrenner-Motoren galten als Verursacher der Klimakrise. Über die Einstufung der CO2-Emissionen und aller ihrer angeblichen Folgen als externe Kosten, die es unbedingt zu internalisieren gelte, sollte eine fundamental andere Technologie, die Elektro-Motoren, als kostengünstiger erscheinen. Gegenüber den gigantischen Kosten der Klimakrise sollten sich die zusätzlichen Kosten der E-Mobilität ökonomisch rechnen. Die fundamentale technologische Verschiebung sollte als »Gewinn« verbucht werden können. Doch es ist etwas anderes geschehen. Der Wechsel von der Verbrenner-Technologie zur Elektro-Technologie hat sich in der Fahrzeug-Herstellung und in der Versorgungs-Infrastruktur als so teuer und unsicher erwiesen, dass der Fahrzeug-Absatz zusammengebrochen ist. Der Wechsel, der als Internalisierung externer Kosten begründet wurde (und nach wie vor so begründet wird), hat sich als Schritt ins Leere erwiesen. Als Massenverkehrsmittel für ein breites Publikum hat sich das E-Automobil als untauglich und unerreichbar erwiesen. Eine überzogene Internalisierung externer Kosten ist hier exemplarisch gescheitert: Sie führt hier nicht zu einer Erweiterung einer Volkswirtschaft, sondern zu einer Unerreichbarkeit von Gütern, die bisher erreichbar waren. Sie führt zur Verkleinerung von volkswirtschaftlicher Aktivität. Der Massenmarkt für Automobile schrumpft zu einem Sondermarkt für gehobene Schichten. Die Internalisierung ökologischer Kosten wurde einerseits durch politische Setzungen (zum Beispiel CO2-Preisaufschläge auf die fossilen Kraftstoffe) durchzusetzen versucht. Diese Internalisierung wurde andererseits aber auch von zahlreichen Automobil-Unternehmen als strategisches Ziel beschlossen.

Diese Internalisierung ist jetzt in der Krise, und das Unternehmen VW steht – als Großserienhersteller des Massenverkehrsmittels Automobil – mitten in dieser Krise.

Diese Internalisierung ökologischer Kosten kann man in einer größeren historischen Perspektive betrachten. Sie ist nicht die erste Großkrise durch eine überzogene Internalisierung, mit der sich die Moderne auseinandersetzen musste. Im 19. Jahrhundert war die Moderne mit der »sozialen Frage« konfrontiert. Sie musste tatsächlich elende Zustände der Industriearbeiterschaft überwinden und diese Internalisierung gelang auch, soweit sie im Rahmen einer wachsenden Produktivität geschah. Das richtige Maß war durchaus nicht konfliktfrei zu finden, sondern war mit erheblich sozialen Auseinandersetzungen verbunden. Aber es musste verhindert werden, dass die soziale Frage sich zu einem grenzenlosen Konflikt steigerte. Diese Radikalisierungsgefahr war im 19. Jahrhundert real: Eine starke Strömung wollte die unternehmerische Vernunft (den Kapitalismus) als »Ursache« für eine unaufhaltsame Verelendung der Mehrheit der Gesellschaft abschaffen. Aber die Moderne überstand diese Drucksituation. Sie marschierte nicht in eine wirtschaftliche Selbstzerstörung im Namen der »sozialen Kosten«. Jetzt aber sehen sich die Länder, die die Radikalisierung der sozialen Frage vermieden haben und sich über längere Zeit erfolgreich entwickelt haben, mit einer neuen Radikalisierung konfrontiert. Sie erfolgt von der Seite der Umweltbedingungen, im Namen der »ökologischen Frage«. Und wieder geht es darum, die Gefahr einer grenzenlosen Internalisierung – einer Internalisierung um jeden Preis – abzuwenden. Die Internalisierung muss im Rahmen der produktiven Möglichkeiten gehalten werden. Vor allem auch im Rahmen der realen technologischen Möglichkeiten. Und wiederum geht es darum, die Beschwörung terminaler Krisen zurückzuweisen: Diesmal muss die unternehmerische Vernunft gegen die finstere Mär von der Überhitzung des Planeten verteidigt werden.

*

Ein anderer Teil der Krise betrifft das Verhältnis zwischen Inlands- und Auslandsstandorten von VW. VW ist traditionell ein Hersteller mit großen Inlandsstandorten, der aber in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Anteil der Fertigung und der Zulieferer ins nähere und fernere Ausland verlagert hat. Das ging so weit, dass am Ende der Hauptteil der Überschüsse von VW in China erwirtschaftet wurde. Diese Auslagerung ist Folge des Versuchs, die Aufstellung von VW auf dynamischere Märkte auszurichten. Man versuchte also, die Globalisierung in eine erweiterte Aufstellung des Konzerns »einzubauen«. Diese Internalisierung ging eine Zeit lang gut, aber inzwischen ist diese Ausdehnung des Unternehmens fragwürdig geworden. Es geht dabei nicht nur darum, dass bei der Ausdehnung einzelne Fehler gemacht wurden, sondern darum, dass solche Weltkonzerne des Automobilbaus aus tieferen, guten Gründen überholt sind. Der Umkreis der Weltregionen und Länder, die eigene Großunternehmen der Automobilherstellung aufbauen konnten und die in fast allen Fahrzeugklassen inzwischen konkurrenzfähig sind, ist gewachsen. Der alte Vorsprung, der VW zu einem führenden Weltlieferanten machte, ist dahin, und es kann auch nicht erwartet werden, dass das Unternehmen einen solchen Vorsprung wieder erringen kann. Hier hat ein Umschlagen in der Problemstellung stattgefunden: Nicht ein zu enger Binnenmarkt ist in der Krise und die Globalisierung von Autounternehmen ist der Ausweg. Vielmehr ist jetzt ist dieser Ausweg in der Krise – wegen der Pluralisierung der Unternehmenswelt in der Automobilherstellung.

Diese Ausdehnung des Unternehmens Volkswagen im Namen der »Globalisierung«, die sich nun großenteils als Überdehnung herausstellt, lässt sich – wie der Internalisierung ökologischer Kosten – in einem größeren historischen Zusammenhang verstehen. Es ist hier ein geheimer Glaube am Werk, der im Grunde ein sehr naiver Glaube ist: Man glaubt an ein höheres Gesetz, das zu immer größeren Einheiten von Wirtschaft und Staat führt. Dass alles immer mehr »weltweit« wird, soll ein Zeichen von »Fortschritt« und »Gang der Geschichte« sein. Bei näherem Hinsehen werden als Beleg aber nur die Ströme von Verkehr und Kommunikation angeführt. Das sind raumüberwindende Bewegungen. Es geht um Aktivitäten, Erfahrungen, Berufe in der Zirkulationssphäre. Im Laufe der neuzeitlichen Geschichte gab es in der Tat eine Zeit, in der der Kapitalismus sich vornehmlich in der Zirkulationssphäre bewegte – die Epoche des Handelskapitals und die Eröffnung weltweiter Verkehrswege und Nachrichtensysteme. Aber das Industriezeitalter eröffnete eine ganz anderes, viel weiteres Feld der Moderne: die Produktionssphäre. Hier war die Logik nicht Raumüberwindung, sondern Entdeckung und Nutzung bisher verschlossener Ressourcen – die Länder wurden tiefer durchgearbeitet und die Standorte der Unternehmen beschränkten sich nicht auf wenige Städte oder Rohstoff-Fundorte. Der Kapitalismus entfaltete sich, indem er sich räumlich fixierte und verdichtete – es begann die Ära der Territorialstaaten und der Nationalökonomie. Darin war schon eine Pluralisierung der Staatenwelt und der Unternehmenswelt angelegt, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert immer weitere Kreise zog. Gewiss gab es immer auch Vorsprünge und Hegemonien, aber der Haupttrend war ihre Relativierung. Die Globalisierung von VW (und vielen anderen Unternehmen aus klassischen Industrieländern), die auf die Erzielung von Vorsprungs-Erträgen setzte, ist im Grunde eine alte Strategie, die auf die Dauer nicht haltbar sein kann. Diese Unhaltbarkeit ist jetzt akut geworden. Sie ist das zweite fundamentale Problem, das sich mit der VW-Krise stellt und die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft.

VW stößt jetzt nicht nur auf neue Konkurrenten, sondern auch auf einen ganzen historischen Trend: Der Pluralisierungs-Trend in der Staatenwelt und Unternehmenswelt erfährt in diesem 21. Jahrhundert einen neuen Schub. Die Eckwerte des Weltmarkts für Automobile werden nicht mehr von den Unternehmen der klassischen Industrienationen gesetzt, sondern immer mehr von neuen Automobilnationen. Diese Nationen, die sich das Recht erkämpft haben, ihren Weg selbst zu bestimmen, müssen ihre Bedingungen und Prioritäten zur Geltung bringen und tun das auch.

*

So wird an zwei fundamentalen Positionen – bei der technologischen Aufstellung und bei der Standort-Aufstellung – klar, wie weit sich das Großunternehmen VW auf unsicheres Terrain begeben hat. Und wie es dort nun in einer Entwicklungssackgasse steckt. Wie aber konnte es dazu kommen? Was war das Einfallstor für diese Überdehnung des Unternehmens?

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (I): 
Eine freundliche Natur und eine luftige Globalität

Die Ausgangslage von VW war eigentlich gut: Das Unternehmen hatte sich in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik einen guten Ruf und große Marktanteile erarbeitet. Solide technische Weiterentwicklungen waren gelungen, und das Hauptgewicht der Fertigung lag in Deutschland. Auch der Zusammenhalt des Unternehmens war gut. Die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensführung und Belegschaft funktionierte, weil hier beide Seiten – bei aller Unterschiedlichkeit – starke Bindungen an das Unternehmen hatten, die auf Leistungen und Gegenleistungen beruhten. Wie konnte es zu Verschiebungen kommen, die das Unternehmen auf unsicheres Gelände führten? »Falsche Entscheidungen« wären eine zu einfache Erklärung. Auch politisch-ideologische Verirrungen können nicht erklären, warum ein solides Großunternehmen den bisherigen Pfad verlässt. Es muss eine Entwertung dieses Pfads stattgefunden haben. Und mit ihm eine Zerstörung der unternehmerischen Vernunft.

*

Es muss einerseits einen Großtrend in der Gesellschaft gegeben haben, der die bisherige Grundlage dieser Vernunft entwertet hat. Jede Entwertung setzt andere Sachverhalte und Maßstäbe voraus, die als »größer« und »besser« gelten können. Das kann man tatsächlich an den beiden Verschiebungen, die bei VW im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte stattfanden zeigen: Hier ist einerseits eine »Ökologisierung« der Ökonomie am Werk, die den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab in die Ökonomie einzuführen. Und es ist andererseits eine »Globalisierung« der Ökonomie am Werk, die auch den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab – den planetaren Maßstab – in die Ökonomie einzuführen. Merkwürdigerweise führen diese Maßstäbe aber nicht zu der Konsequenz, dass nun härter gearbeitet und gewirtschaftet werden muss, sondern dass sich damit das Tor zu einer leichteren Welt öffnet.

Im Fall der Ökologisierung ist ja immer von einer freundlichen, freigiebigen Rousseau-Natur die Rede, die mit ihren Geschenken nur darauf wartet, dass wir endlich »naturnäher« produzieren. Das Beispiel der Energien, die scheinbar fix und fertig aus Wind und Sonne abgeleitet werden können und die euphemistisch »erneuerbare« Energie genannt werden, zeigt diese betonte Leichtigkeit sehr deutlich. Es ist eine täuschende Leichtigkeit, denn sie blendet aus, dass solche »erneuerbaren« Energien vor allem sehr unregelmäßig anfallende, volatile Energien sind, die mal zu wenig und mal zu viel liefern, um ein Stromnetz, dass flächendeckend und kontinuierlich ein hohes Niveau sicherstellen muss, zu speisen.

Im Fall der Globalisierung ist immer von der relativ leichten Tätigkeit des Austauschs und der Kommunikation die Rede (und von der Digitalisierung, die alles mühsame Arbeiten am Gegenstand durch Tastendruck zu erledigen verspricht). Und die auch verspricht, dass man einen Großteil der globalisierten »Neuen Arbeit« nicht in den Zwängen einer großen Fabrik, eines großen Büros, eines großen Krankenhauses oder einer großen Bildungsstätte verrichten muss, sondern im »Home Office«. Das ist das süße Geheimnis der »größeren Maßstäbe«, die nun in die unternehmerische Vernunft eingeführt werden sollen: Sie sollen angeblich mit einer neuen Leichtigkeit einhergehen. Mit Arbeitszeitverkürzung, abwechslungsreicher Arbeit, höherer Bildung für alle und Sonderurlaub für lebenslanges Lernen.

*

Was hier ausgeblendet wird, wird sofort klar, wenn wir uns die klassische Definition von ökonomischem Wert noch einmal vor Augen führen: Es ist die Knappheit von Gütern, die ihnen erst einen Preis verleiht. Und es gibt die Möglichkeit, diese Knappheit unternehmerische Vernunft und die Arbeit einer Belegschaft zu mildern (nicht: abzuschaffen). Das wiederum verleiht dem Tun von Unternehmern und Belegschaften ihren Wert. Dazu muss sie sich aber auf die Knappheit und Widerständigkeit eines Gegenstandes einlassen – also auf die Realität einer knappen und widrigen Natur.

Wie nett ist das Naturbild, und wie wohlfeil die Pflicht, von der Herbert Grönemeyer uns singt (Herbert Grönemeyer, Stück vom Himmel):

»Die Erde ist unsere Pflicht. Sie ist freundlich, freundlich. Wir eher nicht.«

Diese »freundliche Erde« ist ein kitschiges Wunschbild, das von den Widrigkeiten, Knappheiten, Ungewissheiten der realen Natur nichts wissen will. Doch jetzt, nach einem starken Ausbau der »freundlichen« erneuerbaren Energien werden die unfreundlichen Realitäten sichtbar – zum Beispiel in den Dunkelflauten, wenn weder der Wind bläst noch die Sonne scheint. Da behält doch das »Gesetz der Knappheit« Recht, das in jedem guten Volkswirtschafts-Lehrbuch ganz vorne steht. Bei Paul A. Samuelson lesen wir in seiner »Volkswirtschaftslehre Band 1« (S.35), was ein Ignorieren des Knappheits-Gesetzes bedeuten würde:

»…es gäbe keine wirtschaftlichen Güter, das heißt keine Güter, die relativ knapp sind, und man bräuchte sich kaum mit Fragen der Wirtschaft oder des ›Wirtschaftens‹ zu beschäftigen.«

Eine »Ökologisierung der Ökonomie«, die auf die Annahme gebaut ist, dass die Natur per se eine gute Natur ist, läuft auf eine Abschaffung jeglicher Ökonomie hinaus. Genauso sieht das Einfallstor aus, durch das die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft in die Wirtschaft eindringt. Ein ähnliches Einfallstor ließe sich bei einer näheren Betrachtung der »Globalisierung der Ökonomie« zeigen.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (II):
Fortschreitendes »Upgraden« des Automobil-Angebots

Die Verbindung von ausufernden Maßstäben und einer täuschenden Leichtigkeit spiegelt sich auch in der Entwicklung der Modellpalette von VW wieder. Das Automobil wurde immer stärker mit Dingen aufgeladen, die mit der Fahrleistung, mit der Fahrsicherheit, mit der Funktionalität der Ausstattung und der Qualität der Verarbeitung wenig oder gar nichts zu tun hatten. Aber die Fahrzeuge sollten nun »Geschichten erzählen« und der Selbstdarstellung der Fahrenden dienen – und zugleich das Umweltbewusstsein der Fahrenden bedienen. Dieser Weg führte bis zur »Alternativlosigkeit« des E-Automobils mit immer mehr Automatisierungs- und Unterhaltungsfunktionen. Aber diese Entwicklung setzte schon vorher ein, mit dem ständigen »Upgrading« der Modelle. Ein Golf am Ende der 1980er Jahre wies schon große Unterschiede zu dem Golf auf, der 1974 zum ersten Mal auf den Markt kam. Er war auch erheblich teurer. Er wurde immer mehr zu einem gehobenen Mittelklasse-Wagen, während der Golf vorher noch eher der Klasse des VW »Käfer« zuzurechnen war. Er war damals, wie vor ihm der Käfer, noch das Auto des Facharbeiters.

*

So lassen sich vielleicht vier Phasen der Fahrzeug-Entwicklung bei VW unterscheiden:

  1. Die Dominanz des »Käfers« und der Etablierung des »Golf«, der einen bedeutenden technologischen Fortschritt darstellte, aber noch auf einem Niveau angesiedelt war, das den Präferenzen und dem Geldbeutel qualifizierter Arbeiter entsprach (bis Ende der 1980er Jahre).

  2. Das »Upgrading« der verschiedenen Fahrzeuge der VW-Flotte beginnt. Die Antriebe sind noch Verbrennermotoren, aber die Fahrzeuge werden größer, aufwendiger und werden mehr auf »Stil« getrimmt. Zugleich ist es eine Phase verstärkter Ausgliederung von Produktions- und Zuliefer-Standorten (bis Ende der 2000er Jahre).

  3. In der dritten Phase wird China zum zweiten Standbein des Gesamtunternehmens. Und der strategische Umstieg auf das Elektro-Auto wird beschlossen und schrittweise umgesetzt. Damit ist eine Kosten- und Preissteigerung für die gesamte Fahrzeug-Flotte verbunden, die sich in der ersten Upgrading-Phase schon ankündigte. Der Golf erscheint nun definitiv ein Fahrzeug für den gehobenen Mittelstand. Diese Phase könnte man bis in die jüngere Vergangenheit ansetzen.

  4. Nun aber hat eine vierte Phase begonnen: Sie ist gekennzeichnet von einem Markteinbruch bei den E-Automobilen und einem Markteinbruch im China-Geschäft. Aber die Einsicht, dass hier wirklich eine Phase am Ende ist, und eine Klarheit über die dann tragfähige Neuaufstellung ist noch nicht da. VW ist gegenwärtig an einem toten Punkt angekommen.

Es ist wichtig festzuhalten, dass der Weg in die jetzige Krise nicht in der ersten Phase begann, sondern erst in der zweiten Phase. In der dritten Phase wurde der Trend zum »Upgrading« mit dem einseitigen Umstieg auf die E-Automobile dann wirklich exklusiv. In dieser Entwicklung ist auch ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel enthalten. Es herrscht nicht mehr die Sachlogik der automobilen Leistung, die der Orientierung des Facharbeiters entspricht, sondern die Distinktions-Logik des sozialen Aufstiegs und des »feineren Geschmacks«, der sich von der Massenware der »gewöhnlichen Leute« abzuheben versucht.

*

Um das zu verdeutlichen, kann ein Blick in ein kleines Buch, das im Jahr 2000 publiziert wurde und einen beträchtlichen Erfolg hatte, hilfreich sein. Der Autor ist Florian Illies, und der Titel lautete: »Generation Golf«. Der Titel ist vielversprechend. Wird mit dem VW Golf nicht eine Errungenschaft aus der Ära zelebriert, als Deutschland noch ein vorbildliches Industrieland war? Doch Illies (Jahrgang 1971) hat eine merkwürdige Sicht auf den Golf, der da zum Symbol einer ganzen Generation erklärt wird. Er schreibt (Seite 54):

»Als der Golf 1974 erstmals vom Band lief, sollte er vor allem an die Erfolge des Käfers anknüpfen. Die Philosophie klang recht lapidar: Motor vorn, Klappe hinten, dazwischen fünf Sitzplätze. Das erste Modell hatte 50 PS und fuhr 140 Stundenkilometer Spitze. Zwei Jahre später gab es den Golf dann auch als GTI…Erst drei Jahre später wurde das erste Golfmodell zum Kultauto: und zwar in Form des Cabrios, das ab 1979 produziert wurde und offenbar, von einigen roten und weißen Ausrutschern abgesehen, ausschließlich in den Farben Dunkelblau und Schwarz. Der dunkelblaue Golf als Cabrio ist das Gründungsautomobil der Generation Golf.«

Diese Darstellung passt nicht recht zu den Tatsachen. Denn der Golf, der 1974 auf den Markt kam (Florian Illies war damals drei Jahre alt) war keineswegs ein »lapidarer« Nachfolger des VW-»Käfers«. Ihn nach diesem großen Erfolgsmodell auf den Markt zu bringen, und das mit sehr großen technischen Änderungen, bedurfte einigen Mutes (und mehrere zu kurz geratener, erfolgloser Anläufe). Der »Motor vorne« war mit einem Antrieb vorne und einem stark verbesserten Fahrverhalten verbunden. Dazu kamen eine verbesserte Sitzposition und verbesserte Sitze. Der Motor war wassergekühlt, seine Leistung ließ sich steigern und wurde bald gesteigert. Schon kurz nach dem 50 PS-Modell brachte VW den »Golf S« mit 70 PS und 170 km/h Spitze heraus, der wirklich eine ganz neue Agilität auf die Straße brachte. Der Autor dieser Zeilen kann das beurteilen: Ich habe 1979 einen Golf S als Jahreswagen von einem VW-Werkangehörigen gekauft, und war wirklich begeistert, ohne dass ich den Wagen als »Kultauto« empfand. Es genügte einfach der Vergleich mit den Leistungen meiner vorherigen Fahrzeuge – einem Fiat 600, einem Renault R 4 und einem VW-Käfer. Hingegen ist der Golf, den Florian Illies zum Inbegriff einer ganzen Generation stilisiert, ein Golf Cabrio von 1990. Das mag ein Auto für starke Auftritte gewesen sein, aber unter dem Gesichtspunkt der Fahrzeug-Leistung war er eigentlich nichts Neues gegenüber den Golfs der ersten Generation. Das Golf-Cabrio gehörte schon in die Phase des »Upgrading«. Nebenbei bemerkt hatte das Cabrio des alten VW-Käfers eine sehr viel passendere sportliche Eleganz als das Golf-Cabrio, das eher wie ein Kasten daherkam.

Die Lektüre von Illies’ Buch »Generation Golf« ist insofern interessant, als hier ein Wechsel des Bewertungsmaßstabs ins Spiel kommt, der der Konzeption und Konstruktion von Automobilen nicht unbedingt guttut. Das Auto wird hier zu einem Zeichen, zu einer Sprache. Wir sollen das Auto nicht fahren und ihm in seiner Materialität als Fahrzeug etwas abgewinnen, sondern wir sollen mit seinem Gebrauch eine Geschichte von uns selbst erzählen, von unserer Generation. Es ist interessant, woher Illies diese Sichtweise entlehnt. Auf S.56 ist von einer Werbeagentur die Rede, die den Begriff »Generation Golf« offenbar erfunden hat:

»Das als erste erkannt zu haben, ist der große Verdienst der Düsselsdorfer Werbeagentur DDB, die Mitte der neunziger Jahre ihre Werbekampagne folgendermaßen auf den Punkt brachte: ›Der Grundgedanke war, die Verwenderschaft des Golf als ›Generation Golf‹ zu codieren‹.«

Aus heutiger Sicht mutet diese Hochstilisierung eines VW-Fahrzeugs merkwürdig schief und aus der Zeit gefallen an. Die Suche nach einem »Kultauto« erscheint uns in einer Zeit, in der das Auto als Massenverkehrsmittel unbrauchbar und unerschwinglich zu werden droht, als blinde Eitelkeit. Ein großer Autobauer wie VW müsste vom Teufel geritten sein, wenn er das Schicksal des Unternehmens solchen »Codierern« überlässt. Es geht jetzt um eine Rückkehr zum harten Kern des Autofahrens.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (III)
Statt Sozialpartnerschaft eine allwissende »neue Mitte«

Ende Dezember 2024 gab es in der »Süddeutschen Zeitung« und im »Spiegel« im Zusammenhang mit dem VW-Kürzungsprogramm Meldungen, dass auch das Management des Unternehmens dazu beitragen soll. Dort konnte man lesen, dass die im Mai ausgezahlten Boni so stark sinken sollten, »dass das Jahreseinkommen von rund 4000 Managern 2025 und 2026 um zehn Prozent« sinke. Das Erstaunliche an diesem Satz sind eigentlich nicht die Kürzungen, sondern es ist die Zahl »4000 Manager«. Wie kommt es zu dieser gewaltigen Zahl? Was zählt da alles zum Management der Volkswagen-AG? Offenbar handelt es sich um eine eigene Schicht, die nicht zum engeren Führungskreis zählt, weil ja nicht wirklich mit 4000 Managern der Kurs von VW bestimmt werden kann. Aber die 4000 zählen auch nicht zur Belegschaft, denn sie stehen ja in einem gesonderten, gehobenen Vertragsverhältnis.

In diesem Zusammenhang wird eine Bemerkung bedeutsam, die eine Teilnehmerin auf einer Warnstreik-Kundgebung im Dezember am VW-Standort Emden vor laufender Fernsehkamera machte. Die Kollegin wies darauf hin, dass VW noch vor zwei, drei Jahren zahlreiche Neueinstellungen für die Umstellung auf die E-Mobilität vorgenommen habe. Da würde man gerne Näheres erfahren. Für welche Aufgaben geschahen die Einstellungen? Hat das eventuell auch etwas mit den sogenannten ESG-Kriterien zu tun, die nach einer EU-Verordnung große und mittlere Unternehmen erfüllen müssen? »ESG« bedeutet »Ecological«, »Social« und »Governance«. Es also um »höhere« Ziele, die zusätzlich zu den herkömmlichen Unternehmenszielen erfüllt sein müssen. Darunter fällt zum Beispiel das (soziale) »Diversity Management« oder eine detaillierte Dokumentation über die verwendeten Rohstoffe und Vorprodukte und deren ökologische und sozialen Herstellungsbedingungen. Da wäre es natürlich wichtig zu wissen, was für Tätigkeiten da entstehen, woher sich das Personal rekrutiert und welche Bildungsgänge (höhere Bildungsgänge?) absolviert wurden. Offenbar ist da bei VW (und überhaupt in Industrieunternehmen) in den letzten Jahren ein ganz neues »gehobenes« Milieu entstanden, das mit der Fertigung der Fahrzeuge wenig zu tun hat. Die Frage ist: Fühlt sich dies Milieu mit der klassischen VW-Belegschaft noch verbunden? Und wie loyal ist es gegenüber dem Unternehmen VW?

*

An diesem Punkt ist eventuell ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der schon vor einiger Zeit erschienen ist (am 23.8.2019), hilfreich. Er berichtet davon, dass in der Führung und Zielfindung von namhaften Unternehmen größere Umwälzungen stattfinden. »Vor dem G-7-Treffen versprechen große Unternehmen mehr soziales und ökologisches Engagement«, heißt es da. Und es wird der Vorstandsvorsitzende des Lebensmittelkonzerns Danone mit den Worten zitiert: »Wir müssen die Führungskräfte von morgen anziehen. Das ist schwieriger als früher.« Immer häufiger würden Mitarbeiter, Kunden und Investoren von den Unternehmen ein soziales oder ökologisches Engagement erwarten, heißt es in dem Artikel. Natürlich sind es nicht »die Mitarbeiter«, »die Kunden« und »die Investoren«, sondern es geht um »Führungskräfte von morgen«, die sich nicht aus dem Unternehmen heranbilden lassen, sondern die von außen, aus der gehobenen Mittelschicht der Gesamtgesellschaft in die Unternehmen Eingang finden. Aus Anlass des damaligen G-7-Gipfels in Biarritz setzte der französische Präsident Macron »Konzernchefs, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisation« zusammen in Szene. Der FAZ-Artikel berichtet von einer Koalition von 34 internationalen Unternehmen von Danone über BASF bis zu Goldmann Sachs, die sich den Titel »Business for Inclusive Growth« nennt.

Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit dem Gebot der »Internalisierung externer Kosten« zu sehen. Hier scheint sich eine ganz neue Schicht in den Unternehmen anzusammeln zu haben, für die die unternehmerische Vernunft »zu eng« ist, und die sich nicht so sehr für die Erträge des Unternehmens interessieren, sondern vielmehr ganz bestimmte ökologisch oder soziale Ziele verwirklicht sehen wollen. Das Unternehmen wird von ihnen in den Dienst solcher »konkreten« Ziele gestellt. Dazu wird gerne der Begriff »purpose driven« verwendet, der etwas besonders Gutes und Smartes ausdrücken soll. Aber dies auf einzelne besondere Zwecke gerichtete Denken und Handeln ist – verglichen mit der unternehmerischen Vernunft – im Grunde eine Verengung und Vereinseitigung. Denn die »Abstraktheit« der unternehmerischen Vernunft, die zunächst einmal darauf abzielt, überhaupt Überschüsse zu erwirtschaften, um sie dann auszuschütten und es den Empfängern zu überlassen, für welche Zwecke sie sie einsetzen, ist offener und flexibler. Der Versuch, ein Unternehmen gleich für einen bestimmten Zweck in Dienst zu stellen, glaubt zu sehr an die Güte der eigenen Zwecke und will sie nicht einer offenen Wahl zwischen Alternativen überlassen.

*

Offenbar gibt es inzwischen einen ganzen »Purpose Driven« Sektor, der seiner guten Zwecke gewiss ist. Und der nur dann bereit ist, in Unternehmen Verantwortung zu unternehmen, wenn das Unternehmen seinem guten Zweck zu Diensten ist. Und der Hinweis auf die »Nachwuchssorgen« der Unternehmen kann als Indiz gewertet werden, dass es offenbar schwierig ist, aus dem gewaltig angewachsenen akademischen Nachwuchs Menschen für normale Unternehmensziele zu gewinnen. So kann es dazu kommen, dass sich Unternehmen dazu genötigt sehen, in ihren Betrieben ein Milieu zuzulassen, das eigentlich ein Fremdkörper im Betrieb ist. Auf diesem Weg finden die Externalitäten auch personell Eingang in die Unternehmen. So erklären sich manche erstaunlichen Zahlen, und man kann sich vorstellen, wie es bei VW zu der Zahl von »4000 Managern« gekommen ist.

Hier hat offenbar eine gewichtige strukturelle Veränderung stattgefunden. Eine »neue Mitte« hat sich gebildet, die sich deutlich von den beiden Lagern unterscheidet, die wir aus der Geschichte von Industrieunternehmen als »Sozialpartner« kennen. Diese Partnerschaft konnte sich zusammenfinden, weil beide Seiten – trotz aller Unterschiede – ein vitales Interesse am Gedeihen des Unternehmens hatten. Die »neue Mitte« ist anders: Sie braucht keine Partnerschaft. Sie beansprucht für sich allein das Wissen und die Macht, um die »einzig richtigen« und »einzig guten« Ziele des Unternehmens zu bestimmen. Diese »neue Mitte« gelangt auf dem Ticket der »Offenheit« ins Unternehmen, um dann sogleich die Unternehmensgrenzen zu »erweitern«. Und diese Dehnung des Unternehmens geschieht ohne Rücksicht auf die Stetigkeit wirtschaftlicher Erträge und positiver Bilanzen. Die Dehnung wird ja von Leuten getragen, die sich nicht im Unternehmen hocharbeiten mussten, sondern unternehmensfern zwischen Studien und Aktivismus – selbstverständlich global – unterwegs waren. So ist das Unternehmen für sie eigentlich gar kein fester Rahmen, gar kein »Haus«, dem sie sich zugehörig fühlen. Oder, um es einmal ganz einfach zu sagen: Sie lieben VW nicht.

Doch jetzt ist bei VW und vielen anderen Unternehmen in den verschiedensten Branchen eine Krise ausgebrochen. Nein, es ist keine Krise der unternehmerischen Vernunft, ganz im Gegenteil. Es ist eine Krise der Erweiterungen und Zusatzbelastungen, die auf Kosten und zu Lasten dieser Vernunft geschehen sind. Die ihre Grenzen eingerissen haben. Jetzt haben sich die Ausdehnungen als Überdehnungen erwiesen. In dieser Richtung kann es nicht weitergehen.

Die VW-Krise ist eine Überdehnungskrise

Aus den hier skizzierten Verschiebungen in der Grundaufstellung von VW ergibt sich ein dramatisches Gesamtbild. Die Verschiebungen waren Überdehnungen. Sie haben das Unternehmen jetzt an einen Abgrund geführt. Es steckt in einer historischen Sackgasse, in der es nicht einfach abwarten kann, und erst recht keine Flucht nach vorn nach dem Motto »Jetzt erst recht« versuchen kann. Es muss sich – je eher, desto besser – aus diesen zu weit vorgeschobenen Positionen zurückziehen, um wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen und auch seinen inneren Zusammenhalt wiederzufinden.

Das Einfallstor war der Versuch, externe Kosten ohne Rücksicht auf die Unternehmens-Produktivität zu internalisieren. Zu diesem Versuch kam es, weil das Unternehmen von der scheinbaren Größe der externen Aufgaben verführen ließ. Und weil sich das Unternehmen auch von einer täuschenden Leichtigkeit dieser Aufgaben verführen ließ. Die technischen und geoökonomischen Probleme wurden kleingeredet und beschönigt. Diese Maßlosigkeit und Realitätsferne hatte sich über einen längeren Zeitraum im Unternehmen eingenistet. Aber sie ist keine Erfindung von VW, sondern eine allgemeine Erscheinung der sogenannten »postindustriellen« Gesellschaft. Sie hat sich in Deutschland und anderen klassischen Industrieländern entwickelt. Nun aber sind es die Unternehmen, die die Folgen dieses Trends existenziell zu spüren bekommen. Es stellt sich heraus, dass die Ausdehnungen tatsächlich Überdehnungen waren. Die Externalitäten zeigen zunehmend ihre Sperrigkeit, Widrigkeit, Knappheit. Als Kräfte, die von außen kommen, zerren sie am Unternehmen und reißen es gewissermaßen auseinander. Sie lösen den technischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Zusammenhang vieler Unternehmen – großer, mittlerer und kleiner Unternehmen – auf. Der Fall des großen und erfolgreichen deutschen Unternehmens Volkswagen ist hier exemplarisch.

*

Die Versuche, externe Kosten zu internalisieren, haben das Unternehmen zu Vorleistungen gezwungen, von denen gar nicht sicher war und weiterhin ist, ob sie eines Tages so hohe Erträge erbringen, dass die Vorleistungen sich wirklich rechnen. Sie können eigentlich nicht als Investitionen verbucht werden. Aber die Sprache ist an diesem Punkt unscharf. Es ist vom »Potentialwachstum« die Rede, aber da Technologien und Standorte verbucht, deren wertschöpfender Charakter gar nicht nachweisbar und bilanzfähig ist. Im Teil I dieser Textreihe wurde schon gezeigt, dass die Externalitäten eine im Prinzip unendliche Größe sind, und dass es eine Grundvoraussetzung für die unternehmerische Vernunft ist, eine Grenze zwischen »unternehmens-intern« und »unternehmens-extern« zu ziehen. Wenn den Unternehmen dieses Landes auferlegt würde, alle möglichen Kosten präventiv auf sich zu nehmen und dann den Käufern ihrer Produkte in Rechnung zu stellen, gäbe es keine Unternehmen mehr. Es würde eine baldige Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen eintreten, und – in der Folge – auch eine Zahlungsunfähigkeit des Staates.

Es wurde im Teil I auch eine besondere Tücke dargestellt, die im Sammelbegriff »Externalitäten« verborgen ist. Bei den Externalitäten gibt es eine Gegenläufigkeit von sozial-humanen Anforderungen und ökologischen Anforderungen. Steigert man die sozial-humanen Anforderungen, geht das zu Lasten der ökologischen Anforderungen. Heute ist dieser Zwiespalt unübersehbar geworden, denn es gibt eine Steigerung der Anforderungen auf beiden Seiten und ein ständiges Hin und Her zwischen der Betonung der einen Externalität und der Betonung der anderen Externalität. Dies Hin und Her reißt die Unternehmen hin und her. Und es zerreißt sie über kurz oder lang.

Es ist in unserer Gegenwart, insbesondere in den klassischen Industrieländern, eine fundamentale Unredlichkeit am Werk – wie sie in der Geschichte beispiellos ist. Man steigert die ökologische Betroffenheit in extremste Größenordnungen (die tägliche Beschwörung einer terminalen, planetarischen Klimakatastrophe) und treibt man die sozial-humanen Ansprüche auf extremste Höhen: Sozialer Aufstieg für alle, Ausgleich aller Handikaps, Privilegien für immer neue Sondergruppen, endlose Selbstfindung statt Berufsausbildung, Zurückdrängung der Berufstätigkeit zu Gunsten aller möglichen Auszeiten zur »Work-Life-Balance«. Die Geschichte der Menschheit hat gewiss monströse Totalitarismen gesehen, mit beispiellosen Massenvernichtungen. Aber was heute an Weltuntergangs-Beschwörung bei gleichzeitiger eitelster Selbstverwirklichung veranstaltet wird, ist – auf eine andere Weise - auch monströs.

*

So steht VW vor einer sehr grundlegenden Aufgabe. Das Unternehmen muss aus der Überdehnungskrise herausfinden und das geht nur durch eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Die Unternehmen müssen in ihrer Eigenart und ihrer spezifischen Leistung verstanden und geschützt werden. Sie brauchen keine »Förderung« von außen, sondern einen defensiven Schutz vor Überlastungen. Das aber bedeutet heute: einen massiven Rückbau von bereits eingeführten Zusatzaufgaben, Normenverschärfungen, Kontroll- und Berichtspflichten, Rechtsunsicherheiten… Die Unternehmen haben aber auch eine große interne Aufgabe. Sie müssen ihre Unternehmen von den externen Lasten und Aufgaben befreien, die sich in ihnen schon festgesetzt haben und in das Unternehmen integriert wurden, obwohl es sich im Grund um Fremdkörper handelt.

Die Grundrichtung, um aus der Überdehnungskrise bei VW herauszufinden, muss also defensiv sein. Sie muss auf den Punkt zurückkommen, wo das Unternehmen die Gebote der unternehmerischen Vernunft verlassen hat und gewissermaßen »falsch abgebogen« ist. Es geht um einen Rückgriff. Aber auch um ein tieferes, besser fundiertes Verständnis der unternehmerischen Vernunft – damit ihre Verteidigung in Zukunft besser gelingt. Es geht also um eine Rekonstruktionsaufgabe. Dazu mehr im dritten und letzten Teil dieser Text-Serie.

 

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft
VW – Teil 1: Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft 
VW – Teil 2: Eine Überdehnungskrise 
VW – Teil 3: Die Rekonstruktionsaufgabe