von Ulrich Schödlbauer

Montag, 23. März 2020. Bars und Restaurants geschlossen, desgleichen Geschäfte, deren Angebot nicht unter den täglichen Gebrauch fällt. Untersagt ist bereits das öffentliche Zusammenstehen und -gehen in Gruppen, es sei denn, man sei familiär unterwegs. Das grundgesetzlich verbriefte Versammlungs- und Demonstrationsrecht: ein Fetzen Papier, in Windeseile dringlicheren Erfordernissen geopfert. Apropos Papier… In den weiterhin geöffneten Lebensmittelgeschäften sind die Regale für Toilettenpapier und Haushaltstücher leergeräumt. Die Leute beginnen Grundnahrungsmittel wie Reis und Nudeln zu horten. Geschlossen sind die Büros, ihre Insassen ins Home Office und an den häuslichen Kühlschrank entlassen. Vor einzelnen Geschäften, auch Apotheken, sammeln sich erste Schlangen, da nur eine begrenzte Anzahl von Kunden Eingang erhält. Bauluft macht frei: An der Großbaustelle gegenüber gehen die Arbeiten ihren gewohnten Gang.

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Die Politik hat weitreichende Maßnahmen getroffen. Jetzt müssen Umfragen her, denn sie will wissen, ob ihre Inszenierung ankommt. Es beruhigt zu erfahren, dass mit steigenden Infektions- und Todeszahlen auch das Vertrauen in die Regierenden steigt. Clevere Journalisten basteln bereits an den ersten Jahrhunderttrends. Selbstverständlich wird nach der Pandemie nichts mehr so sein wie vorher. First things first: die Rückkehr des starken Staates. Das schreiben die gleichen Leute, die noch vor wenigen Tagen jeden nach Grenzkontrollen rufenden Oppositionellen verfassungsfeindlicher Umtriebe verdächtigten. Jetzt schwadroniert man verächtlich über die Populisten, die in der Krise keine Lösungen anzubieten haben. Dabei sind es ihre, die gerade umgesetzt werden: Grenzkontrollen, nationale Notstandspläne, Kontrolle der Wirtschaft, Sicherheitsgarantien im Dienst der Biopolitik. Was die ausländischen Regierungen angeht, so scheinen Populismus und Handlungsschwäche Pseudonyme zu sein. Das kann sich jederzeit ändern.

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Ein Virus geht viral: Corona scheint, nach SARS, die erste Pandemie zu sein, die überwiegend im Internet stattfindet. Das lässt sich weitgehend ohne Zynismus behaupten, da von den beiden Kriterien einer Pandemie, weltweite Verbreitung und entsprechend hohe, statistisch einwandfrei belegbare Fallzahlen, nur das erste erfüllt wird. Sei’s drum, der Begriff ist – bei fehlendem Mundschutz – in aller Munde. Die bekannten Medien haben Ticker eingerichtet, die Sprecher der in die staatlichen Entscheidungen eingebundenen Institute bedienen sich des Podcasts und ähnlicher Formate, um Informationen zu streuen und für den aus ihrer Sicht richtigen Mix aus Halbpanik und Beruhigung zu sorgen, die Politiker twittern, was das Zeug hält, und die Leute kommentieren die Horrornachrichten in den sozialen und sonstigen Medien, als schiebe der Sensenmann bereits vor ihren Türen Wache. Unverkennbar bleibt die vertraute Neigung, beim kleinsten Anlass wie eine Horde Kläffer übereinander herzufallen. Doch gibt es auch rührende Wortmeldungen.

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Auffällig ist die wachsende Tendenz, mit intimen Zustandsberichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Während erste Politiker ihr epidemisches Coming out zelebrieren – »Bin positiv«, »Bin in guter Verfassung« –, nehmen Menschen, die sich nie im Leben begegnet sind, voneinander Abschied, als seien sie drauf und dran, auf gebrechlichen Holzschiffen in See zu stechen, um auf ihnen in den kommenden Wochen die Weiten des Ozeans zu überwinden. »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Sie bleibt, wie es den Anschein hat, an Land, dort flackert sie noch im Nebel, gleich werden wir auch in diesem Punkt auf unsere privaten Kerzenvorräte angewiesen sein.

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Am zweiten Tag des ›Lockdown‹ fließen die Gespräche spärlicher. Auch mental will der verordnete Mindestabstand geübt sein. Die Attitüde des Absagens, des Sich-Abscheidens von allen Kontakten scheint Teil eines umfassenden Programms zu sein. Es begleitet den Gang in die räumliche Isolation. »Rückt auseinander!« Das kann gar nicht anders als mental gemeint sein und das ist gut so. Man entdeckt so manches Zweifelhafte am Mitmenschen, wenn man ihn erst einmal nicht mehr sieht. Wozu noch reden? »Mit dem? Das müsste ich wissen.« Natürlich sind das vorübergehende Zustände. Spätestens wenn sich das soziale Bedürfnis mit der Vehemenz eines soliden Hungers zurückmeldet, mutiert häusliche Zurückgezogenheit zur ISO-Folter und die Bereitschaft zu kleinen und großen Übertretungen wächst. In der Realität entpuppt sich das statistische Wettrennen gegen die Zeit als Wettlauf unterschiedlicher Statistiken. Nur sagen darf man es nicht. Aber vielleicht ist auch das nur Verpuppung und am Ende entsteigt der Kette der Mystifikationen eine Wahrheit, mit der öffentlich keiner gerechnet hat.

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Das Sonnenwetter lockt: Radler und Spaziergänger an die Spree! Die ersten tragen bereits Mundschutz, man versteht es besser, wenn man erlebt, mit welcher Selbstverständlichkeit all die keuchenden Jogger an ihnen vorbeiziehen, ohne Spurwechsel, wie es unter Zivilisierten auch zu normalen Zeiten der Brauch wäre. Dem Körperaktiven gehört die Welt, auch wenn sein Laufstil zu wünschen übrig lässt. Die bange Frage »Hat er’s?«, »Hat sie’s?« ist zwischen die Menschen getreten wie der Engel der Apokalypse. Da man es keinem ansieht, wirken alle gleichermaßen verdächtig. Sie da: Sie könnten Mitglied einer Verschwörung sein – den Verdacht hatte man ohnehin schon länger. Wer in der Öffentlichkeit mehr als zwei Minuten beisammen steht, muss schon verdammt sicher sein, dass der andere nicht als kontaminiert gilt und nicht in den üblichen Listen auftaucht. Die von kräftigen Männerfäusten aus der U-Bahn beförderte Frau, die sich verschluckt hatte und husten musste, hat eine Lektion darüber erhalten, was Ausschluss aus der Gesellschaft handgreiflich bedeutet. Ob sie sie künftig beherzigt? Man weiß es nicht und will es nicht wissen. Mit dem Beherzigen ist das so eine Sache.

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In der Corona-Gesellschaft steht nicht bloß der Mensch unter Quarantäne, sondern auch sein Denken. Halte dich fern von Informationen, die das offizielle Narrativ stören! Rede schlecht über Menschen, deren Ansichten zur Krise den amtlichen Verlautbarungen zuwiderlaufen! Kurz gesagt: Lass dich nicht erwischen mit allem, was nicht in und mit der Blase wächst und wächst –: auch wenn für jeden Einsichtigen absehbar ist, dass in den gemiedenen Zirkeln sich die Narrative von morgen aufbauen, ebenso unabweisbar wie die heutigen und ebenso unduldsam gegenüber den kommenden Abweichlern, die vielleicht nur einen Tick zu lange an dem festhalten, was heute opinio communis, allgemeine Auffassung ist. Man merkt es am Beben der Stimme, an einer leichten Unduldsamkeit, die sich in die neuerdings etwas länger geratenden Telefongespräche mit nahen Bekannten einschleicht – das Virus hat von ihnen Besitz ergriffen und diktiert rigoros die Ränder des vertrauten Diskurses.

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Wer mehr zu wissen begehrt, konsultiere die sozialen Medien. Dort wird zurechtgestutzt, was sich im antizipierten Fall als Zweifel artikulieren könnte: »Ich möchte um der Barmherzigkeit willen in diesen Zeiten niemanden aus meinem Facebook-Freundeskreis aussperren wollen. Doch wer meint, die Gelegenheit nützen zu können, um Verdacht zu streuen oder die Gefährlichkeit des Virus herunterzuspielen. dem muss ich an dieser Stelle mitteilen, dass ich dergleichen nicht zulassen und mit geeigneten Gegenmaßnahmen antworten werde.« Dem öffentlichen Kontaktverbot stellt sich das private Zweifelsverbot an die Seite. Im allgemeinen Schilderwald möchte der eingebildete Landwirt von nebenan nicht fehlen: Wehe dem Väterchen, das sich einfallen ließe, in diesen Zeiten Rüben ziehen zu gehen.

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Die deutsche Form der Massenpanik ist die Rechthaberei. »Darauf kannst du Gift nehmen!« lautet eine der eingelernten Formeln. Auf Zweifel, berechtigt oder nicht, kann ›in diesen Zeiten‹ verzichtet werden: Das Virus wird jeden strafen, der anderer Auffassung zu sein wagt als die Autoritäten. Das gilt auch für Prominente. Jetzt haben sie den Preis für ihre Beliebtheit zu entrichten, der da lautet: Verhalte dich vorbildlich! Sage nichts Falsches! Die Menschen im Lande haben ein Recht darauf, deine Testergebnisse zu erfahren. Sei positiv, wann immer es geht! Konditionierte, von Beraterstäben umgebene Wohlfühlmenschen erfahren wie durch ein Wunder ihre ›Verletzlichkeit‹ und, oh Wunder, sie fühlt sich ungewöhnlicher an als das Ungewöhnliche, das ihren sonstigen Alltag kennzeichnet. Sie »lernen schmerzlich« in diesen Tagen, was es heißt, gemeinsam »mit den Freunden und Angehörigen« und »ja im Grunde ganz fremden Menschen« da draußen zu »bangen und hoffen« und doch nicht die richtigen Signale senden zu können: »Meine Gedanken sind bei den Bildern da draußen, die uns alle so sehr erschüttern.« Das will man den Erschütterten gerne glauben. Allerdings: Die Rechthaber aller Klassen haben sich vereinigt und schleudern ihnen ihr »Das reicht nicht« entgegen, flankiert mit Bosheiten aller Art, die von der einfachen Beschimpfung (»Hohlkopf«, »Flachpfeife«, »A*loch«) bis zu komplexen Verrenkungen reichen: »Habe mich entschlossen, mir von Menschen Ihres erbärmlichen Schlages in Zukunft…« Ja was denn? Das Wasser reichen zu lassen? Das wäre ja … das wäre ja … ein Fall für deutsche Gerichte, vor denen das Virus vermutlich in naher Zukunft ähnlich heftig toben wird wie in den Krankenbetten gesund gesparter und prompt überlasteter Kliniken?

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Ungewöhnliche Maßnahmen erzeugen ganz normale Gerüchte. Ein Staat, der den Bewegungsspielraum seiner Bürger empfindlich einschränkt, hat etwas vor, und gewiss nicht das, was vorzuhaben er verkündet. Soll heißen, in der Gerüchte-Welt ist der Sinn der ergriffenen Maßnahmen immer schon kassiert – ein Dummkopf, wer sich damit zufriedengibt, dass es mit den abgegebenen Versicherungen schon seine Richtigkeit habe. Wenn die Kanzlerin in einer in puncto öffentlicher Rhetorik die Grenzen der Aphasie streifenden Ansprache die banale Aussage trifft, selbstverständlich blieben Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Banken weiterhin geöffnet, dann ist für den Gerüchtemenschen das Ende der Fahnenstange erreicht: Letzte Gelegenheit, sein Geld abzuheben und unterm Kopfkissen zu verstecken! Obwohl letzte Sicherheit auch damit nicht zu erreichen ist. Plünderungen stehen bevor! Die ersten soll es bereits gegeben haben – dort draußen, wo sich jetzt kaum jemand aufhält, es sei denn die Polizei und das Gesindel, das sich ihrer Aufsicht beharrlich entzieht. Das sind so Entgleisungen der menschlichen Psyche, von denen man nicht wusste, wie einfach sie herbeizuführen sind. Dabei wäre man gewarnt, denn sie finden dauernd statt, es beachtet sie sonst bloß keiner. Was so nicht stimmt. Das Gerücht, das ist der Einzelne, der mehr als andere weiß und es loswerden will. Es ist schwer, mehr zu wissen, aber leicht, es loszuwerden. Von dieser Diskrepanz lebt der Unfug, der mehr über die gebrechliche Konstitution der geordneten Welt verrät als die meisten Forschungsergebnisse, die ihn widerlegen.

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Wenn die Stunde des Staates schlägt (wie derselbe Journalistenpulk jetzt täglich zu versichern sich befleißigt, der gestern noch seine Unfähigkeit, die wahren Probleme der Gegenwart zu meistern, als gegeben und sein Aufgehen in größeren Ordnungen daher als programmiert ansah), dann schlägt auch die Stunde seiner wahren Verächter. Unter ihren Parolen ist der Ruf nach Solidarität, wohlfeil wie immer, die rationalste: Her mit den Piepen der Reichen! Wird gleich daneben, im weltrevolutionär gestimmten Anarcho-Nebel, zu zivilem Ungehorsam aufgerufen, dann allerdings tippt sich die Mehrzahl der seriösen Bürger an die Stirn. Sind sie nicht wie die Kinder, unsere im Kampf gegen Rechts gepäppelten Aktivisten? Das Ende der Fahnenstange erreicht ist beim Aufruf, Geschäfte zu plündern und die Aktivitäten des Kapitals zu sabotieren: »Die haben sie doch nicht alle, was rauchen die eigentlich?« Nun, mit Corona geht auch das ideologische Spektrum viral, vornehmlich deshalb, weil alle Bannerträger seit Jahren auf den Ausbruch der Krise lauern. La Crisi, das Gespenst der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, kehrt in die Köpfe der Menschen zurück, weil sie nur dort zur Wirklichkeit reifen kann. Was nützt mir die beste Krisenstrategie, solange die Wirtschaft brummt und brummt? Der Schwarze Schwan, der langersehnte, schwimmt still herbei und Lohengrin, der Weiße Ritter, tippt sich knapp an die Mütze und packt seine Instrumente aus.

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Die Aussicht: Existenzen werden vernichtet im Machbarkeitsrausch von Fachleuten, die Jahr für Jahr an den statistischen Realitäten scheitern. Jedenfalls kann diesen Eindruck gewinnen, wer gewöhnliche Grippewellen zum Vergleich heranzieht. Deren Tote wurden und werden still beerdigt, ohne Aufsehen und ohne dass sich ein internationaler Lärm über das marode Gesundheitssystem von Ländern erhöbe, die heute mit dem Rücken zu Wand stehen. Andererseits sollte, wer kann, den Eindruck für sich behalten, will er nicht binnen kurzem selbst mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Macht der Bilder übertrifft die des kollektiven Verstandes bei weitem. Hat sie sich erst mit der Angst vor dem Tode verbündet, dann ist kein Halten mehr. Zwischen das einsame Ich und den pandemischen Schrecken schiebt sich die Obrigkeit und erneuert den alten Pakt: Tod oder Gehorsam! Wer da zögert, den rennt schon der Nebenmann um. Ob’s hilft? Wenn man liest, dass die Hälfte der Arztpraxen im Lande mittlerweile geschlossen hat, um die eigenen Mitarbeiter nicht zu gefährden, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie La Crisi sich selbst produziert, ganz ohne Hinterzimmerverschwörung. Eine von Virologen beherrschte Welt ist kein Zuckerschlecken.

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»Polizei begleitet Mutter von zwei Kindern nach Hause, um festzustellen, ob sie in einem gemeinsamen Haushalt leben.« Soviel staatliche Fürsorge sah man selten. Vielleicht hätte die Staatsmacht das eine oder andere Ehepaar schon früher nach Hause begleiten sollen. Wie viele Ehen wären auf diese Weise zu retten gewesen! Aber was nicht war, kann noch werden. Steigt der staatliche Druck, so steigt der Zusammenhalt unter den Menschen. Jedenfalls unter den Vielen, denn es gibt immer auch andere, denen jede Gelegenheit recht kommt, um sich zu verdünnisieren. Wie schön, das häusliche Glück aktuell so beschirmt zu sehen! Angenommen, es hätte sich im berichteten Fall um Kindesentführung gehandelt: da sähe man doch gleich, ganz im Sinne des orthodoxen Patriarchen, der sich ähnlich geäußert haben soll, wie die unsichtbare Hand des Virus die moralisch-rechtliche Weltordnung gegen das irrende Subjekt durchsetzt, ganz ohne Systemkritik und Aufrufe zur moralisch-politischen Wende. Der Ausnahmezustand schützt das Recht oder wenigstens die Moral. Vielleicht auch nicht, dann schützt er den Schutz oder das Schützenswerte: das wenigstens wird er doch fertigbringen.

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28.3. Die erste, zweite und dritte Garnitur der Medienprofis hat ihre Beiträge abgeliefert und langsam gehen ihnen die Themen aus. Stattdessen blüht ein neues Genre: Erlebnisberichte von Leuten, die verzweifelt versuchen, für sich oder Anverwandte Testtermine zu ergattern oder in Krankenhäusern von der Angst entbunden zu werden, sie könnten sich trotz allem angesteckt haben. Manche überbieten einander in der Darstellung ihrer wunderlichen, wenngleich absehbaren Odysseen. Das nackte Chaos, von dem sie berichten, blinkt aus den Zeilen ihrer Prosa hervor wie Tautropfen aus frischem Strauchgrün. Man ahnt den gnadenlosen Stress, unter dem Personal und Ärzte ihrer täglichen Arbeit nachgehen und erinnert sich an die Weisheit des Satzes: »Ihr steht nicht im Stau, ihr seid der Stau.« Wenn jede laufende Nase und jeder kratzende Hals – noch sind die Nächte kalt und nebenher verrichtet, wie man erfährt, die ganz normale saisonale Grippe ihr Werk – zu bangen Todesahnungen führt und auf baldmögliche Klärung des Unabwendbaren drängt, dann sollte, wer’s kann und braucht, besser zu Kierkegaard oder Schopenhauer greifen, statt seine Umgebung verrückt zu machen. Erstaunlich die Zahl der Pfarrer, die im Pulk der von Panik ergriffenen Panikmacher mitmarschieren: das ganz normale Leben und Sterben ihrer Gemeindeschäfchen scheint nicht besonders weit in ihr Gemüt vorgedrungen zu sein, ganz zu schweigen vom Jenseitsversprechen der von ihnen vertretenen Religion. Sie sollten wissen, dass auch das ›bemerkt‹ wird.

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29.3. Wenn es stimmt, was neue Studien nahelegen: dass die Mortalitätsrate des neuen Coronavirus deutlich unter einem Prozent der Infizierten (unter den Hochbetagten und Mehrfach-Vorbelasteten) liegt, dann haben einige europäische Regierungen, die hiesige eingeschlossen, ein gewaltiges Problem. Irgendwann müssen sie ihren Bevölkerungen erklären, warum sie für eine Erkrankung, die sich ausbreitet wie eine Grippe, verläuft wie eine Grippe, die grippe-üblichen Komplikationen und Todesfälle verursacht (aber, bei Strafe allgemeiner Ächtung, niemals so genannt werden darf), nicht auch behandelt wird wie eine Grippe – am Patienten und gerade nicht am Staat, an den demokratischen Grundfreiheiten, an der Bewegungsfreiheit der Bürger und an der Wirtschaft, deren prosperierendes Auf und Ab sich unmittelbar in den Gesundheits- und Sterbestatistiken der Staaten niederschlägt. Der ungeheure ökonomische Leichtsinn, der diesem ›Lockdown‹ innewohnt und mit Phrasen übertönt wird, wie man sie einfältiger selten gehört hat – »Menschenleben retten statt Wirtschaft« –, wird nur übertroffen durch den angstgetriebenen Leichtsinn der Bevölkerung, die ihn nicht allein kritiklos hinnimmt, sondern immer noch eine Schippe drauf fordert: ein Rennen nach ›Maßnahmen‹, die jeder zum Schutz seiner Gesundheit selbst treffen könnte, aber gegen den Nachbarn, den anonymen Einzelnen auf die Straße, die Fremden dort draußen und schließlich gegen alle von Staats wegen durchgesetzt sehen möchte. Das riecht nach Zeiten, die man bisher bloß aus Geschichtsbüchern kannte und zaubert den bitteren Geschmack der Weisheit auf die Zunge: Geschichte ist das, was bevorsteht.

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Zum Erschreckenden solcher Zeiten gehört die Wahrnehmung, mit welcher Leichtigkeit die Wohlstandsmaschine zerschlagen werden kann, sobald eine auf die Verabreichung hypnotisierender Bilder und panischer Halbwahrheiten getrimmte Medienmaschine die Regierenden vor sich hertreibt und autoritäre Gelüste weckt: der ›starke Mann‹, der sich als künftiger Regierungschef in Position bringen möchte, gehört ebenso zu den Opfern der sozialen Pandemie wie die Handvoll verschreckter ›Kulturschaffender‹, darunter ein renommiertes Professor(inn)enpärchen, die sich nun dafür aussprechen, die künftig spärlicher fließenden Steuergelder der Bürger mit beiden Händen über ein ›Europa‹ auszuschütten, das gerade mit Lug und Trug an den Mythen bastelt, hinter denen es sein steuerungspolitisches Versagen zu verbergen gedenkt, um über neue, schärfere Steuerungsmechanismen nachzudenken. Das erste Verstaatlichungsopfer sind offenbar die Gehirne, die prompt den Dienst einstellen, sobald das Gemeinschaftsvokabular aktiviert ist und apokalyptische Schauer sich mit Glücksgefühlen angesichts des nahenden Goldenen Zeitalters universaler Mitmenschlichkeit mischen, während der reale Mitmensch dort draußen gerade seine Bilanzen fälscht, um an den Zaster aus den kommunalen Füllhörnern zu gelangen, solange sie noch nicht leer sind.

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Zu Tod und Sterben muss sich jeder verhalten. Das lässt sich aus keinem Geschehen herausrechnen und bestimmt, welche Haltung die Einzelnen zu ihm einnehmen. Von Haltung war viel die Rede in den vergangenen Wochen und Monaten. Umso drastischer malt sich der Einbruch des Wirklichen in den Kopflosigkeiten dieser Tage. Selbst das ausgeklügeltste ›System‹ kann dem einzelnen Menschen nicht das elementare Lebensrisiko abnehmen. Schon immer blickte, wer seine Sinne beisammen hat, mit großem Respekt auf Alterserkrankungen, die so rasch zu Komplikationen führen können. Natürlich lebt es sich, aus der Perspektive der Älteren, unbeschwerter im Vertrauen auf ein leistungsfähiges Gesundheitssystem, das im Ernstfall zur Stelle ist. Diese – relative – Unbeschwertheit ist selbst ein Teil des Überlebenskonzepts: Bricht sie, panikgeschürt, zusammen, dann kann sich das Sorgeverhalten des Einzelnen und des Staates schnell gegen den Patienten wenden. Und nicht erst gegen den Patienten. Unterm Damoklesschwert von Maßnahmen, die nur Gefährder und Gefährdete kennen und die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben und Sterben zur Makulatur werden lassen, gerät jeder Abschied bitter. Auf die Idee, das öffentliche Leben darüber stillzustellen, die Gesellschaft auf Sparflamme herunter zu dirigieren und eine schwere Wirtschaftskrise mit allen verheerenden Folgen in Kauf zu nehmen, muss man erst einmal kommen.

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Wenn es wahr ist, was die Statistiker im Verein mit einer wachsenden Zahl praktischer Mediziner von den Dächern pfeifen, dann scheint es den Epidemiologen gegangen zu sein wie jenen Militärs, die stets die Schlachten des letztes Kriegs im Sandkasten gewinnen und von denen des folgenden überrollt werden: Man hatte sich auf ein SARS-Szenario eingerichtet und lässt eine folgsam-lüsterne Politik im Blick auf SARS, MERS und vergleichbare Epidemien entwickelte, stets den Angstgegner ›Pandemie‹ beschwörende Notprogramme abspulen, während nach und nach durchsickert, dass dieses Virus anders beschaffen ist und auch anders funktioniert. Also schlägt man denen, die auf die Schieflage hinweisen und praktische Konsequenzen fordern, kräftig aufs Maul und hofft damit eine Zeitlang über die Runden zu kommen. Das ist zwar menschlich, aber nicht unbedingt zielführend.

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Jede Gesellschaft muss die Spannung von Fremdheit (Unvertrautheit) und Andersheit (Alterität) aushalten. Wo das nicht gelingt, fallen Gesellschaften auseinander. Das gilt auch in Zeiten der Viren-Panik. Ein neues Corona-Virus war von Anfang an per definitionem kein ganz fremdes, es war ebenso vertraut wie unvertraut und es wäre nicht nur legitim, sondern geboten gewesen, sämtliche Aspekte dieser Herausforderung in Betracht zu ziehen. Alles andere wäre Mystifizierung und hätte mit Wissenschaft nichts zu tun. Es steht nicht gut um Gemeinwesen, die den Kampf gegen Fremdenhass auf ihre Fahnen geschrieben haben und angesichts der Alltagsgefahr einer neuen Virenart in eine Fremdheitspanik verfallen, die alle Grenzen rationaler Befassung beiseitefegt und am Ende selbst das Wichtigste zu beschädigen droht: das Bewusstsein der Freiheit, der Stabilität und Verlässlichkeit ihrer Institutionen.