15. Lesarten der Abtreibungspraxis
Als eine halbwegs fassbare Größe im Spiel der gesellschaftlichen Wertungen kann die Abtreibungsstatistik gelten. 2005 wurden in Deutschland 124 023 Abtreibungen vorgenommen – eine angesichts der Gesamtheit der Geburten und der in den Zahlenspielen des Statistischen Bundesamtes gehandelten Zuwanderungsquoten verblüffend hohe, wenngleich in den letzten Jahren leicht gesunkene Zahl. Vergleicht man die Zahlen der aus medizinischen (3 177), kriminologischen (21) und anderen Gründen (120 825) vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche angesichts nahezu perfekter Verhütungsmethoden, dann darf die Abtreibungspraxis mit aller Vorsicht als ›objektiver‹ Indikator einer frenetischen Interpretation der in der Gesellschaft vorherrschenden Beziehungsformen gewertet werden. Im europäischen Vergleich wirken die deutsche Abtreibungsquote von 7,6 (Frankreich 16,2; Großbritannien 16,6; Russland 54,2; Schweiz 6,8) und das Verhältnis von Abtreibungen zu Geburten ›moderat‹. Der Aussagewert solcher flächendeckenden Angaben ist gering, solange regionale, soziale und ›kulturelle‹ Differenzen innerhalb der Bevölkerungen und zwischen den unterschiedlichen Landesteilen nicht berücksichtigt werden. Doch fällt auf, dass in Europa, anders als in den USA, das Gros der Abtreibungen in den mittleren Jahrgängen vorgenommen wird, das persönliche Recht auf Schwangerschaftsabbruch also vor der Notlage rangiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Verhältnis von Geburtenrate und Abbrüchen ein anderes Aussehen: wer innerhalb der Null- oder Ein-Kind-Option abtreibt, verhält sich signifikant anders als jemand, bei dem die Begrenzung der Kinderzahl oder eugenische Gründe im Vordergrund stehen. Der Trend zur Abtreibung ohne Kinder bleibt unverständlich ohne die Annahme eines ›double-bind‹, in dem der persönliche Wille, ein Kind zu besitzen, von nicht oder nur schwer kontrollierbaren Faktoren durchkreuzt und schließlich unterbunden wird – ein Phänomen, nicht unähnlich dem Verhalten von Selbstmördern, die ›nur‹ die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung erregen möchten und keinen Widerspruch darin sehen, sich gegen die reale Mordabsicht eines anderen mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen.
Das ist eine schwerwiegende Annahme. Sie impliziert, dass die gesellschaftliche Lesart, die in dem genannten Verhalten eine Folge der Emanzipation erkennen möchte, durch eine ersetzt werden muss, in der die ›unemanzipierte‹ Befangenheit in gleichermaßen als lebensfeindlich empfundenen Schematismen obenansteht. Das wäre nichts Besonderes, bedenkt man die quengelige Larmoyanz in kurrenten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Dem zum Abbruch führenden double-bind entspräche eine unemanzipierte Emanzipiertheit, die sich auch in anderen Bereichen gesellschaftlichen Handelns – und keineswegs nur im weiblichen Spektrum – finden lässt. Die Interpretation des Abtreibungsrechts als mein Recht, das mir die Verpflichtung auf ein bestimmtes Modell des Zusammenlebens auferlegt, weil ich sonst auf das mir zustehende Recht verzichten und einer unemanzipierten Version meiner Existenz den Vorzug geben würde, enthält eine starke Deutung des Rechts und speziell der Abtreibungsgesetzgebung. Offenkundig ist der Tatbestand ›Schwangerschaft‹ ausreichend, um bei einer statistisch erheblichen Anzahl von Personen eine Handlungskette in Gang zu setzen, in der reale Tötungen sich in symbolische Handlungen verwandeln, deren Zweck in der Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil, also letztlich darin liegt, dazuzugehören. In gewisser Weise bringt die Beratungsklausel mit dem ihr immanenten Misstrauen gegen die Motive von Abtreibungswilligen, die durch die Fristenregelung angelockt werden, diese Deutung der Abtreibungspraxis offen zum Ausdruck - kein Wunder, dass sie bei Personen, die sich über die Validität ihrer Motive im Klaren sind, ebenso auf Ablehnung stößt wie bei solchen, die sie bewusst oder unbewusst verschleiern. Die Beratungsregelung formuliert das zum Gesetz erhobene und durch die gesellschaftliche Praxis erhärtete Misstrauen des Staates gegen die Fähigkeit seiner Bürger, von den Bestimmungen des Abtreibungsrechts adäquaten, soll heißen der freien Erwägung der zu bedenkenden Umstände Raum gebenden Gebrauch zu machen.
Die Abtreibungspraxis ist geeignet, das Dunkel um die im Kinderverzicht wirksamen Momente ein Stückweit zu erhellen, weil sie, anders als die Empfängnisverhütung, eine gewaltsame und als außerordentlich schwerwiegend empfundene Weise darstellt, die Teilnahme am gesellschaftlichen Spiel durch physische Manipulation sicherzustellen. Sie ist nicht allein Gegenstand von Interpretationen, sondern selbst eine Interpretation von Gesellschaft – eine, die das im Beziehungsleben gegebene Rollenspiel wichtig genug nimmt, um andere personkonstitutive Faktoren, darunter die ethische Frage nach dem Sinn und der Rechtfertigung des Tötens, in nachgeordnete, sub specie der primären Entscheidungen zu behandelnde Elemente zu verwandeln. Innerhalb dieser in wiederkehrenden Handlungsmustern manifest werdenden Interpretation fungiert der ›eigene Körper‹ als Einsatz, ähnlich wie das Militär es vom Leben seiner Soldaten erwartet. Im gleichen Sinn ist auch die ›ritualisierte‹, gerichtsnotorische Trennungspraxis, in der vorhandene Kinder als Waffe im Geschlechterkampf eingesetzt werden, Interpretation, die zeigt, dass real eingegangene und durch keine einfache Manipulation zurücknehmbare Verpflichtungen tendenziell keine Präferenzumkehr bewirken. Wie weit die unter Alleinerziehenden verbreitete Praxis, Kinder langfristig an den eigenen Haushalt zu binden und mit ihnen Ersatzpartnerschaften einzugehen, demselben Modell entspringen oder zu den untauglichen Mitteln gerechnet werden müssen, es zu korrigieren, kann wohl nur von Fall zu Fall entschieden werden.