von Ulrich Schödlbauer

8. Die ›stillschweigende Option‹

Befremdlich wirkt die Ergebenheit, mit der die öffentliche Debatte das Jahr 2050 (in dem die Prognosen aus gutem Grund enden) als Zielmarke einer homogenen Entwicklung hinnimmt – den Zeitpunkt, zu dem die Reste der sogenannten ›geburtenstarken Jahrgänge‹ ihr biblisches Lebensalter erreicht bzw. weitgehend gelebt haben werden (9,1 bzw. 9,9 Mio Achtzigjährige und älter). Das Dreieck aus ›Überalterung‹, ›Übervölkerung‹ und ›Überfremdung‹ tritt so vielleicht überproportional in Erscheinung. Spätere Zielmarken ließen womöglich andere Größen in den Vordergrund treten. Wenn heute über Zuwanderungszahlen, Rentenquoten und Sozialstaatsversprechen, über den schleichenden Kollaps des Schulsystems und die mangelnde Integrationsbereitschaft von Ausländern geredet wird, dann steht die Frage auf der Tagesordnung, welche Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung für die Aufrechterhaltung des Prosperitätsversprechens als ›optimal‹ gelten darf. ›Unrealistisch‹ ist eine Bevölkerungszunahme auf 299 Millionen (oder ein krasser Rückgang) allein deshalb, weil ›das niemand will‹, weil es ›keine Option darstellt‹, weil ›die Folgekosten zu hoch wären‹, weil ›das nicht mehr das Land wäre, von dem wir reden‹. Vor allem das letzte Argument verdient Aufmerksamkeit: es bringt den Faktor Identität respektive ›Selbsterhaltung‹ ins Spiel und nährt den Verdacht, dass die Entscheidung tatsächlich immer schon gefallen ist. Optimal wäre demnach, wenn sich am Bevölkerungsstand nicht allzu viel änderte. Die Option für eine bestimmte Bevölkerungscharakteristik drückt den Grad des Einverständnisses aus, den eine Gesellschaft sich selbst gegenüber bekundet. Sie spiegelt aber auch Faktoren wie ›Volksnähe‹ oder ›-ferne‹, ›Reißbrettmentalität‹ oder ›Scheu‹ vor dem Bestehenden wider.

Wenn, wie im gegenwärtigen Fall, die Zusammensetzung und damit der Charakter der Gesellschaft so beschaffen sind, dass sie auf keine Weise konserviert werden können, liegt die Frage nahe, welche stillschweigende Option der vergangenen Jahrzehnte diesen Zustand hat eintreten lassen. Naiv wäre es, zu glauben, die Besorgnis angesichts der in anderen Erdteilen sich vollziehenden Bevölkerungsexplosion käme als ernsthafter Kandidat dafür in Betracht. Schwer fällt auch die Annahme, ›man‹ habe sich einfach nichts dabei gedacht. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch der erstaunliche Widerstand, dem die Bevölkerungsdiskussion noch immer in bestimmten Alters- und Gesinnungsgruppen begegnet, besagt anderes. Wahr ist, dass der in den Institutionen der Öffentlichkeit sich vollziehende Generationswechsel das Thema in den letzten Jahren (teil-)enttabuisiert hat. Das Scheinargument, die Debatte komme dreißig Jahre zu spät, demonstriert, dass auch diejenigen, die sie noch immer nicht wollen, sich dieser impliziten Dimension der eigenen Themen völlig bewusst sind. Nachvollziehbar ist ihre Haltung schon: die gegenwärtige Bevölkerungscharakteristik lässt sich als das Ergebnis von über Jahrzehnte stabil gebliebenen Einstellungen, Lebensweisen und einmal getroffenen Entscheidungen verstehen, die heute erneut ›auf den Prüfstand‹ geraten. Diskussionsabwehr hat, wie andernorts, die Aufgabe, eigene, oft lange zurückliegende Lebensentscheidungen vor Kritik zu schützen und zu verhindern, dass die öffentliche Meinung ›in diesen Dingen‹ kippt.

Das ist menschlich verständlich, doch rührt es nur insofern an den Kern der Sache, als es die ›stillschweigende Option‹ herauszuarbeiten hilft, die sich nicht im geäußerten Meinungsspektrum findet, aber zu ihm hinzugedacht werden muss, will man nicht der paradoxen Auffassung nachgeben, eine auf Selbstbeobachtung und Kritik gestellte Gesellschaft habe ›nichts gesehen‹ – ein Argument, dessen zweideutig-eindeutige Bewandtnis einst aus älterem Anlass ins allgemeine Bewusstsein gehoben wurde. Es sticht vor allem deshalb nicht, weil auf den öffentlichen Problemfeldern das Bevölkerungsthema immer anwesend war – gleichgültig, ob es sich um medizinische und psychotherapeutische Hilfen für ungewollt kinderlose Paare, um die in den ›reichen Ländern‹ zu beobachtende Adoptionspraxis, um staatliche ›Wurfprämien‹, um Familien- und Ausbildungshilfen, um den öffentlichen Pranger für kinderlose Doppelverdiener und Singles, um die schauerlichen Rituale der Asylanten- und Ausländerdiskussion, das siegreich scheiternde Multikulti-Modell, das Abtreibungsparadigma oder das ›humane‹, nicht bloß der Statistik zuliebe hinausgeschobene Sterben der Alten handelt. All diese Themen und politischen bzw. privaten Entscheidungsfelder waren und sind selbstverständliche Bestandteile öffentlicher Debatten und Stoff für kollektive Erregungen. In ihnen ist die ›stillschweigende Option‹ fast zum Greifen vorhanden, sie wird aber auch von ihnen verdeckt.


9. Vom Anderssein

Den genannten Debatten ist es gemeinsam, dass man auf sie so oder ähnlich, mit mehr oder weniger identischen Resultaten, zur gleichen Zeit in allen westlichen Ländern trifft. Man kann auch sagen: es ist das Besondere an der deutschen Situation, dass sie in ihnen keinen Ausdruck findet. Die Unruhe, die dieser neue Sonderweg verursacht, verfängt am ehesten bei Autoren jenseits der Landesgrenzen, denen die hier drohende neue Instabilität in Europa nicht gleichgültig bleibt. Der Wille zur Normalität ist eine der großen Konstanten der westdeutschen Politik, und in der ›Politik des Volkes‹ 1989 hat sich gezeigt, dass er sich weder auf Westdeutschland noch auf die Schicht seiner Entscheidungsträger beschränken lässt. Seltsamerweise verschiebt der Wunsch, in einem ›ganz normalen Staat‹ zu leben und einer ›ganz normalen Gesellschaft‹ anzugehören, das Wunschziel in einen Bereich, in dem es schlechthin unerreichbar bleibt: gleichgültig, wie ›normal‹ die Kennziffern einer Gesellschaft ausfallen und wie ›normal‹ ihre Fußgängerzonen wirken mögen: der Kern des Problems, die Metamorphose des Wunsches, so zu sein ›wie die anderen‹, hält die Differenz aufrecht und fügt ihr immerfort neue Varianten hinzu.

Man kann die jahrzehntelange öffentliche Weigerung, die reale Differenz der eigenen Geburtenrate im Vergleich mit den Gesellschaften, an denen man sich hierzulande bevorzugt misst, unter anderen als sportlichen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmen, als eine dieser Varianten betrachten. Das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen ist ja kein einfaches Nichtwahrnehmen, sondern die aktive Verschiebung des Wahrgenommenen in den Bereich des Mitanwesenden, der ›Schatten‹, von denen so gern die Rede ist und von denen man hofft, dass sie irgendwann, auf welche wundersame Weise auch immer, vergehen mögen. Die ungewöhnliche Fertilitätskurve des Landes gehört in den Jahrzehnten forcierten Normalitätsdenkens zu den ›Pudenda‹, den Dingen, über welche die öffentliche Rede schamhaft hinweggleitet, um von anderem zu handeln. Das schlägt auf die Wahrnehmung des Phänomens zurück. Während sich andere Spezifika der Gesellschaft von der Verbrechensrate bis zum Anteil rechtsradikaler Gesinnungen am Meinungsspektrum durch den Einsatz ›normaler‹ administrativer Mittel korrigieren lassen, scheitert die unauffällige Korrektur durch staatliche Hilfen regelmäßig an dieser Stelle. Der Verzicht darauf, sich unter den gegebenen Bedingungen eines prosperierenden, mit hohen Zustimmungsraten versehenen, normalen Gemeinwesens angemessen zu reproduzieren, gerät unter den betretenen Blicken der Auguren zum unmanipulierten Ausdruck des Andersseins, von dem man sich in einem historischen, über Jahrzehnte aufrecht erhaltenen Willensakt zu verabschieden gedenkt.

Dieses aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgegrenzte Anderssein ist als Phänomen auffällig genug, um bei ihm zu verweilen. Es ist nicht einfach ›gegeben‹, so dass es genügen könnte, es stärker ins allgemeine Bewusstsein zu heben, um den öffentlichen Diskurs in Gang zu setzen, aus dem dann die in Zukunft zu treffenden Entscheidungen hervorgehen könnten. Das schamhaft verschwiegene oder geleugnete Anderssein wird zur causa sui. Als eine Besonderheit oder Anomalie dieser Gesellschaft könnte es frei beredet und in seinen Konsequenzen bedacht werden. Als Ausdruck ihrer Andersheit überantwortet es sie dem genuinen Blick der Anderen. Das schamhaft beschwiegene Anderssein konstituiert sie als Fremdkörper, als Objekt des Befremdens für den ›Rest der Welt‹. Dieser ›Rest‹ ist groß und vielgestaltig genug und mit hinreichender Gleichgültigkeit gegenüber den häuslichen Querelen der Deutschen ausgestattet, um als eine Figur der Selbstthematisierung erkannt zu werden. Im Gefühl der Scham gehen Selbst- und Fremdwahrnehmung ununterscheidbar ineinander über. Das wissen die öffentlichen Verwalter der deutschen Kollektivscham, wenn sie das stetig erneuerte Bekenntnis der historischen Schuld, das in der Sache nichts anderes sein kann als ein Schambekenntnis, als Aktivposten dieser Gesellschaft bzw. ihres Staates auf der Weltbühne verbuchen. Die schamhaft beschwiegene Unfähigkeit, sich ›angemessen‹ zu reproduzieren, und die öffentliche Schambekundung an die Adresse der ›Welt‹ angesichts der Vergangenheit treffen sich im Bewusstsein der eigenen ›unhintergehbaren‹ Alterität.

Man könnte diese Zusammenstellung von zweierlei Scham für willkürlich halten, für unangemessen und sogar ehrenrührig angesichts der extremen Verschiedenheit der angesprochenen Gegenstände. Der Einwand ist wichtig genug, um sorgsam bedacht zu werden. ›Willkürlich‹, ›unangemessen‹, ›ehrenrührig‹ sind Epitheta, die dem Bevölkerungsdiskurs von Haus aus angehängt werden. Die Gründe dafür wurden soeben genannt: sie liegen im Bereich der Rechtfertigung zurückliegender Lebensentscheidungen und dem Wunsch nach Aufrechterhaltung der Konstellation, der sie sich verdankten. So gesehen ist es nichts Besonderes, die Sprache der Vermeidung im Detail erneut anzutreffen. Die ›mörderische Vergangenheit der Deutschen‹ ist aber etwas so grundsätzlich anderes als die bejahte und verteidigte eigene Lebensvergangenheit, dass es unumgänglich wird, an dieser Stelle weitere Gründe zu nennen. Die volle Schärfe der Differenz stellt sich erst dar, wenn man bedenkt, dass sich hier nicht allein zweierlei Vergangenheit, sondern zwei Arten von Vergangenheit gegenüberstehen. Als geschichtliches Faktum liegt in der Mitte des ersten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts die zweite Vergangenheit ›der Deutschen‹ vor der eigenen Lebensvergangenheit der aktiven Bevölkerung und wird allenfalls bei den älteren, der Pensionierungsgrenze zustrebenden Jahrgängen ›irgendwie‹ über Kindheitserinnerungen vermittelt. Als kulturelles Faktum hingegen ist sie aktuell und präsent. Die öffentlich bekundete Kollektivscham ist eine Angelegenheit der Nachgeborenen. In ihr hat das ausgebliebene oder geleistete Schambekenntnis der sogenannten Täter-Generation rituelle Form angenommen. Das Wechselspiel aus Zufriedenheit und Unbehagen, das nicht wenige Zeitgenossen darüber empfinden, korrespondiert der Zweideutigkeit ritueller Schambekundung, die über zwei Gesichter zu verfügen scheint, je nachdem, ob die in ihr wirksame Macht eines kulturellen Symbols oder das Mechanische der Aufführung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Das Ritual verwandelt eine nicht lebbare Intensität des Gedenkens in ein kulturelles ›Gut‹.

Gegenüber dem Ritual bewahrt das schamhafte Verschweigen die lebendige Qualität der Scham in ungleich höherem Maße. Man kann die Verwandlung der kollektiven Scham in eine öffentliche Sache daher genauso gut als den Versuch interpretieren, sich ihrer zu entledigen, wie den, ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Merkwürdigerweise fügt sich das Argument, dies sei kein Gegenstand, dem man ›gerecht‹ werden könne, den rituellen Sprachmustern widerstandslos ein. Es ist die ganz andere kollektive Gegenwart, der gegenüber ›Gerechtigkeit‹ verlangt werden kann und muss. Unschwer lässt sich darin das Funktionsmuster des Reinigungsrituals erkennen, auch wenn man solche Relationen nicht überstrapazieren sollte.

Man hat die Versuche, die symbolische Gegenwart von ›Auschwitz‹ und den mangelnden Fortpflanzungseifer der Deutschen zueinander in Beziehung zu setzen, ›obszön‹ genannt. Dem entspricht ein starker Affekt, in dem etwas von jener primären Scham wieder aufblitzt, die durch das Ritual neutralisiert wird. Das Wort ›obszön‹ deutet an, dass man nicht gewillt ist, sich dieser Scham erneut und an dieser Stelle auszusetzen. Es leuchtet ein, dass eine solche Form der Negation irgendeine Art von Affirmation enthält – fragt sich nur welche. Ihrer Bestimmung kommt man näher, wenn man die zur Wut tendierende Empörung, die durch das Wort ›obszön‹ ausgedrückt wird, neben dem Ritual und dem Schweigen als die dritte Weise, Kollektivscham zu signalisieren, in die Überlegung einbezieht. Die Annahme, dass hier ein Zusammenhang besteht, könnte die Art und Weise nahelegen, auf die der engagierte Teil der Gesellschaft rechtsradikalen Gruppen und Aktivitäten begegnet. ›Wut‹ ist die aktivistische Variante des Unterfangens, mit einer Vergangenheit zu leben, die nicht die eigene ist, aber als solche gedeutet wird, persönliche und kulturelle Identität in Übereinstimmung zu bringen. Wenn der Holocaust das Symbol der kollektiven Unfähigkeit ist, so zu sein wie die anderen, dann ist der relative negative Geburtenstand – die 0,4 bis 0,8 % ›Fertilität‹, die das Land von den Nachbarn trennen, an denen es sich misst – ihr uneingestandener (und uneingestanden bleiben sollender) Ausdruck.

Dass diese Art der Wahrnehmung zwanghafte Züge trägt, bedarf keiner eigenen Überlegung. Ebenso wird man bezweifeln müssen, dass sich die wirklichen Gründe für die signifikanten Elemente der Bevölkerungsstatistik innerhalb des skizzierten Musters finden lassen. Allein die zeitliche Diskrepanz spricht dagegen: eine Entwicklung, die seit den siebziger Jahren zumindest im heutigen Westen des Landes anhält, kann sich schwerlich der gegenwärtigen Konstellation verdanken. Allerdings verfügt dieses Argument auch über eine Kehrseite: gut möglich wäre es, dass die demographischen Fakten und die einschlägigen argumentativen Empfindlichkeiten sich in ein und demselben historischen Prozess herausgebildet haben. Eine Beobachtung könnte in diesem Zusammenhang einschlägig sein. Die allgemein angenommene starke Verbindung zwischen dem Geburtenrückgang und der unter dem Rubrum ›Emanzipation‹ vollzogenen Integration der Frauen in das ökonomische und allgemein berufliche Spektrum der Gesellschaft während des fraglichen Zeitraums dient vielen als Ausweis der gelungenen Modernisierung des Landes im Gleichklang mit den westlichen Gesellschaften und – merkwürdigerweise – als wütend verteidigtes Gut, sobald von den Spezifika der heimischen Statistik die Rede ist. Dass auch die Frauen in der DDR berufstätig waren, wird in diesem Argument nicht bedacht. Offenbar sitzt die Angst tief, das gesellschaftspolitische Rad könne über die ›Kinderfrage‹ zurückgedreht werden – so tief, dass sich der Verdacht einer verschwiegenen Ideenverbindung nur schwer von der Hand weisen lässt.

Die unterschwellig anklingende Behauptung, der ganze Themenkomplex sei hierzulande mit einer besonderen Hypothek belastet, lässt sich wohl nur verstehen, wenn man die Verbindung ernst nimmt, die damit zwischen der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahrzehnte und der gesellschaftlichen Konstellation der sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hergestellt wird. Zwei selbstgerechte Generationen, hat man gesagt, trennten sich damals in der Bundesrepublik voneinander, um aneinander gefesselt weiter zu existieren: für die Älteren, die mit der Nazi-Vergangenheit geschlagene Aufbau-Generation der Nachkriegsjahre, war ›dies‹ nicht mehr ›ihr‹ Land, für die Jüngeren war es ein Land, das nur im Widerstand gegen ältere Mentalitäten gerettet und behauptet werden konnte. Wenn die Altersstatistik etwas ausweist, dann den Umstand, dass, bei aller Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, dieser gestörte und mit beträchtlicher Sprachlosigkeit geschlagene Dialog der Generationen zu einem lebenslangen Begleiter insbesondere der – damals – Jüngeren wurde. Die Verteidigung der Emanzipation gegen die Statistik mutet wie ein später und wirrer Reflex jener alten Kämpfe an.


10. Das Einmaleins der ›Beziehung‹

Es bleibt der Anblick einer Generation, der ›es‹ passiert ist. Wer so fragt, muss weiter fragen, welchen Teilen der Generation was passiert ist, er muss schließlich nach der Zusammensetzung dieser ›Generation‹ fragen, von der da die Rede ist. Denn dass der studentische Protest nur von einem winzigen Teil der entsprechenden Altersklassen getragen wurde, liegt auf der Hand. Dass Mitläufertum und Zuschauerstatus verblüffende Modifikationen des ›Bewusstseins‹ hervorbringen, bedarf nur geringer Überlegung. Dass die mediale Aufbereitung des Geschehens den nicht akademischen Teilen der Bevölkerung andere Bilder und Selbstbilder suggeriert und, wenn überhaupt, in anderer Weise in ihre Lebensläufe eingreift als in die der Träger des Geschehens, gehört zu den banaleren Fakten der Sozialgeschichte. Dass ’68 eine Projektion darstellt, ein Mantra oder einen Fetisch für Angehörige ›vermittelnder‹ Berufe, also Journalisten, Öffentlichkeitsarbeiter, Schriftsteller, Lehrer, Hochschullehrer der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, lässt im Bereich persönlicher Entscheidungen, die nicht auf diese gesellschaftliche Minderheit beschränkt bleiben, nach Handlungsmotiven suchen, die außerhalb des rückblickend summarisch ›emanzipatorisch‹ genannten Motivbereichs liegen.

Was bewegt eine statistisch relevante Zahl von Angehörigen der unterschiedlichsten Berufs- und Gesellschaftsschichten, den Pfad der Reproduktion zu verlassen und, ohne dass besondere persönliche Gründe vorliegen, das Modell der ›Kernfamilie‹ gegen Lebensverhältnisse einzutauschen, die, bei allem finanziellen Reiz, eine Generation früher als ›Ersatz‹, ›Kompensation‹ oder bloß bedauernswertes ›Schicksal‹ gegolten hätten? Die Frage ist tausendfach gestellt und von den Betroffenen höchst unterschiedlich beantwortet worden. Offenkundig hilft Fragen in diesen Bereichen wenig. Das verbale Bezeugen gängiger Wertmuster (›Mobilität‹, ›Freizeit‹, ›Beruf‹, ›Geld‹) vertritt die Stelle der biologischen Reproduktion, ›es‹ passiert den Befragten, so wie ›es‹ den Generationen vor der Pille zu passieren pflegte. Bezeichnenderweise bleibt es einem eher geringen Personenkreis vorbehalten, die ökonomischen Modellrechnungen, nach denen Kinder unter den Bedingungen der gegenwärtigen Rechts- und Sozialordnung aus der Sicht der Einzelnen zu den Fehlinvestitionen zählen, als respektablen Grund für die eigene Lebensentscheidung zu nennen. Auch das bedeutet, für sich genommen, wenig, wenn man der Annahme zuneigt, dass Leute ihre Handlungsmotive vor anderen und sich zu verschleiern pflegen. Das finanzielle Argument gilt als Provokation und wird meist auch in dieser Funktion verwendet: dass es sich ›wieder‹ lohnen muss, Kinder in die Welt zu setzen, ist ein jedem Angehörigen der Gesellschaft bekannter konservativer Topos.

Die Erfindung der ›Pille‹ hat mit der Trennung von Sex und Fortpflanzung auch die Trennung von sozialem und ökonomischem Kapital im Bereich von Partnerwahl und familiärer Bindung lebbar gemacht. Während die Partnerwahl ökonomisch folgenlos bleibt (sieht man von den realen Trennungskosten ab, die in der Phase der Wahl ausgeblendet bleiben), aber einen Prestigegewinn bedeutet, verhält es sich bei der Kindeswahl umgekehrt. Die ökonomischen Kosten sind beträchtlich und halbwegs kalkulierbar, während der Prestigegewinn ungewiss bleibt und im Ernstfall ganz entfällt. Der Zusammenhang beider Seiten ist evident. Das ausschließlich auf symbolischen Tausch fokussierte Beziehungsspiel zerbricht, sobald die Ankunft eines oder mehrerer Kinder die Beziehung ökonomisiert. Entsprechend verfliegt oder relativiert sich das traditionell verbürgte Prestige, das Kinder verleihen, angesichts der Verwandlung der frei eingegangenen und jederzeit frei auflösbaren Beziehung in einen ökonomischen Zweckverband, dessen Auflösung die eingegangenen Verpflichtungen nicht annulliert, sondern nur schwerer realisier- und tragbar macht. Das gesellschaftliche Muster ›Beziehung mit Kind‹ ist somit geeignet, massenhaft unglückliches Bewusstsein zu erzeugen – das Gefühl, ›im falschen Film‹ aufgewacht zu sein, das in therapeutisch begleiteten Trennungsgesprächen wie in Lebensberichten eine bekannte Größe darstellt.

Eine statistische Arabeske ist geeignet, ein wenig Licht auf diesen Sachverhalt zu werfen. Es scheint, dass Frauen in der ›Beziehung‹ mehrheitlich dazu neigen, das eigene Einkommen als ihres zu betrachten, während Männer in der Mehrzahl das von ihnen erarbeitete Einkommen als gemeinsames ansehen. Gut möglich, dass sich hier ein älteres und ein neueres Modell des Zusammenlebens überlagern, möglich auch, dass die Differenz der Gesinnungen eine noch immer reale Differenz der Positionen und Gehälter reflektiert, schließlich, dass sich hier eine stabile Sicht auf das anbietet, was ebenso allgemein wie hintersinnig ›Beziehung‹ genannt wird. Vordergründig bezeichnet der Ausdruck die komplexe Gesamtheit der realen und differenzierten Weisen des geschlechtlich motivierten Zusammenlebens zwischen ›natürlichen‹ Personen. Unter der Hand jedoch verwandelt er sie in etwas anderes, insofern er eine Interpretation anbietet, die sie alle umfasst und in einem eigenen Licht erscheinen lässt. Die homogenisierende Tendenz des Begriffs zeigt sich in einfachen Sätzen wie: ›Die Tatsache einer Beziehung sagt nichts über ihre Qualität aus‹. Qualitas und Wert werden hier nach bekanntem Muster ineins gefasst – mit der Folge, dass die Deutungshoheit über die einschlägigen Weisen des Zusammenlebens an die wirkungsvolle Handhabung des Begriffs ›Beziehung‹ gebunden wird. Beziehungskompetenz erscheint gebunden an die Beherrschung einschlägiger soziopsychologischer Begriffe und Theorien. Auch die klassifikatorische Korrektheit des Begriffs geht in diese Alltagsverschiebung im Bereich des Redens über Sexualität, Intimität, Treue, Zeugungsmoral und Geschlechterdifferenz im allgemeinen und im speziellen Fall ein: die Unterschiede, über die er hinweggeht, werden nicht nur zu sekundären Unterschieden im Bewusstsein derer, die ›in Beziehungen‹ leben, sondern zu unsichtbaren Unterschieden, deren Nennung etwas leise Ungehöriges anhaftet, als begehe man damit eine Unkorrektheit oder zeige sich nicht auf der Höhe des geforderten Bewusstseins. Kraft dieses Automatismus substituiert das Minimalmodell der Beziehung differenziertere Modelle in der Wirklichkeit und wird zur sozialen Norm, der gegenüber alle anderen unter Rechtfertigungszwang geraten.

Der Konformismus der Gesellschaft lässt keine neutralen Bezeichnungen zu; dominant verwendete Begriffe haben strategische Bedeutung und verändern das Feld, das sie beschreiben. Zu den Verlierern der strategischen Verschiebung, die der gesellschaftliche Gebrauch des Wortes ›Beziehung‹ anzeigt, gehören die Kinder: sie sind im Minimalmodell nicht enthalten und daher ebenfalls unsichtbar. Von ihnen reden heißt nicht nur, von etwas anderem als ›der‹ Beziehung reden, es heißt auch, eine Komplikation ins Spiel zu bringen und sich dadurch ein Stück weit aus ihm zu entfernen, sofern man die Entschiedenheit dazu aufbringt und nicht schamhaft über diesen gefühlten Punkt hinweggleitet. Frauen, die sich in der Beziehung oder in wechselnden Beziehungen als ›Alleinerziehende‹ konzipieren und an dieser Deutung unbeirrt festhalten, wie immer sich die persönlichen Verhältnisse gestalten, haben das genauso verstanden wie jene anderen, die ›gelernt‹ haben, ihren Kinderwunsch als Ausdruck von etwas anderem zu begreifen. Was sie nicht sehen oder sehen wollen, ist der Konformismus, der ihr Denken und Handeln deformiert, insofern er Zonen der Verschwiegenheit und des ›ungehörigen‹ Verlangens einrichtet, die auch deshalb so schwer zu erkennen sind, weil er sich der Rhetorik der problembezogenen Offenheit und des sexuell konnotierten Begehrens bedient. Analoges gilt für Männer, die als Väter der Vaterrolle teils deklamatorisch, teils real ›entsagen‹ oder die Umkehr der Geschlechterrollen ›genießen‹, ›weil es an der Zeit ist, dass die Frauen einmal nicht an die Kinder denken, sondern an sich‹, wobei dieses ›sich‹ verblüffende Ähnlichkeit mit dem eigenen, ›sich‹ entlastenden Ich zeigt. Dass solche Reden gezinkt sind, ist Grundlage ihrer Zirkulation und Anzeige eines Unbehagens, das zurückstellt, was nicht an der Zeit ist, obwohl es an der Zeit wäre, wenn einen nicht die Zeit daran hinderte, in den Demütigungen zu lesen, mit denen man seine Zeitgenossenschaft erkauft.

Die statistische Differenz, von der oben die Rede war, zeigt auf der ökonomischen Seite Frauen, die scheinbar ›zuerst‹ an sich selbst denken, und Männer, die bereit sind, ihr Geld in das Unternehmen ›Beziehung‹ zu stecken. Auf der Ebene symbolischen Sprechens kehrt sich diese Relation um: hier erscheinen, folgt man den Stereotypen, die Frauen als der ›investierende‹ und die Männer als der ›egoistische‹ Teil. Daraus folgt aber keine Symmetrie in Bezug auf den Kinderwunsch als den unsichtbaren Dritten in der Beziehung: da seine Erfüllung die ökonomische Investitionsbereitschaft zwingend voraussetzt, kann man annehmen, dass eine Mehrzahl der Männer ihn in der jeweiligen Beziehung zu realisieren sucht, während ein signifikanter Anteil der Frauen zwischen der Beziehungspflege und der Realisierung des Kinderwunsches mehr oder weniger sorgfältig trennt. In der durch das Kind auferlegten Langzeitperspektive, in der die ökonomischen Risiken mitbedacht werden müssen, steht die Beziehungsskepsis obenan und das Motiv der eigenen finanziellen Absicherung dominiert. Unterstellt man eine gewisse, wenngleich begrenzte Lernfähigkeit auf Seiten der Männer, dann kann es sich nur um einen dynamischen Sachverhalt handeln und die Attraktivität des zum Minimalismus tendierenden Beziehungsmodells sinkt sub specie des Kinderwunsches. Und zwar auf beiden Seiten: die Botschaft, dass eine über Adoleszenz und Erwachsenenalter ausgedehnte Mutter-Kind-Symbiose weder für das ›Kind‹ noch für die Mutter besonders erstrebenswert ist, gehört mittlerweile zum kleinen gesellschaftlichen Einmaleins. Entsprechend wächst, jedenfalls prozentual, die Zahl der Beziehungen, in denen keine Seite finanziell zu ›investieren‹ bereit ist, in denen daher der Kindeswunsch von vornherein nicht existiert oder so stark maskiert erscheint, dass eine Aussicht auf Nachwuchs praktisch nicht besteht.

– wird fortgesetzt –

Teil 1: Demographischer Wandel: Der große Übergang (1)

Teil 2: Demographischer Wandel: Der große Übergang (2)