von Lutz Götze

Des Polonius Wort aus Hamlet bleibt dem kritischen Betrachter einzig, wenn er einen Blick auf die zeitgenössische Bildungslandschaft wirft: Schule und Universität sind gleichermaßen von einer nie zuvor erlebten Erosion betroffen. Genauer: Der Verfall jahrhundertealter Sitten und Normen geht einher mit einer Rechtfertigung der Niveaulosigkeit und der hymnisch-kultischen Apologie vermeintlich neuer revolutionärer Erkenntnisse des Lernens, Lehrens und Forschens, die alles Dagewesene obsolet machten.

Beginnen wir mit der allgemeinbildenden Schule. Sie hat sich während der vergangenen Jahrzehnte in den entwickelten Industrieländern beim Lernen vor allem darauf konzentriert, die sogenannten hard skills – solide Beherrschung von Rechtschreibung, Lesefertigkeit, Rechnen, sorgsames Recherchieren, Analyse von Fakten und Informationen als Grundlage eigenen kritischen Denkens, Unterscheidung von Nachricht und Kommentar – als unnötig und überflüssig auszumachen und als atavistisch zu denunzieren. An ihre Stelle sollten im Lernprozess soft skills rücken: vernetztes Denken, Vergleichen unterschiedlicher Theorien, Modellieren disparater Theoreme, Entwickeln von Rechtschreibstrategien unter Berücksichtigung orthographischer Regeln, Einüben in die neue mediale Lernwelt, eigene kreative Kompetenzen entdecken.

Wohlgemerkt: Dies alles ist nicht falsch und für die Entwicklung junger Menschen wichtig. Doch der Protagonist, der so denkt, zäumt das Pferd vom Schwanze auf oder, anders ausgedrückt, er errichtet ein Haus, dem das Fundament fehlt. Um ein Beispiel zu geben: Wie allgemein bekannt, hat die Rechtschreib-und Leseschwäche in den vergangenen Jahren flächendeckend zugenommen – keineswegs nur bei Kindern aus den sogenannten bildungsfernen Schichten. Auch Erwachsene schreiben – falls sie es überhaupt noch tun – schlecht und fehlerhaft. Allzu wohlfeil wird dies der Rechtschreibreform von 1996 zugeschrieben, wobei nicht bedacht wird, dass die Veränderungen lediglich eine bereits bestehende Unkenntnis auch der alten Regeln ans Tageslicht förderten. Dahinter freilich steht eine gewachsene Missachtung der Bedeutung korrekten Schreibens als einer der fundamentalen Kulturleistungen. Heute gibt es vermeintlich Wichtigeres: so die Handhabung sogenannter sozialer Netze oder die Kenntnis des ›trendigsten‹ Automodells. Das Schreiben erledigt stattdessen der Computer mitsamt seinen höchst problematischen Korrekturprogrammen. Frage mithin: Wie soll ein derart instruierter Schüler dann ›Rechtschreibstrategien unter Berücksichtigung (sic!) orthografischer Regeln entwickeln‹ wie es in einschlägigen kultusministeriellen Verlautbarungen heißt? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Er soll sie schlicht lernen, kennen und anwenden! Aber das ist nach landläufiger Meinung Unfug.

Ähnliches geschieht in der Grammatik: Die Kenntnis und Unterscheidung von Funktion und Form unterschiedlicher Wortarten, Satzglieder und Textelemente als Grundlage des Verstehens und Beurteilens gesprochener und geschriebener Sprache ist nicht mehr vorrangiges Lernziel, sondern die Entwicklung von Redestrategien und flexiblen Argumentationsweisen: sicher richtig, aber ohne Kenntnis der einschlägigen grammatischen Mittel aussichtslos. Entsprechend oberflächlich und verschwiemelt sind dann die Ergebnisse, die freilich hohes Lob und entsprechende Benotung seitens Teilen der Lehrerschaft erfahren, weil sie so außerordentlich kreativ und flexibel daherkämen.

Verwandtes kennzeichnet die Mathematik: Kopfrechen, Multiplizieren, Dividieren und Wurzelziehen sind ›uncool‹; an ihre Stelle treten vermehrt Fertigkeiten wie ›prozessbezogenes Entwickeln einschlägiger Kompetenzen‹ oder ›Kommunizieren über mathematische Zusammenhänge‹ und mehr. Das ist, richtig besehen, Aufgabe mathematischer Universitätsseminare, nicht aber der Schule. Das Ergebnis: Der Gymnasiast greift zum Taschenrechner, um vier mal vierzehn zu multiplizieren; die junge Frau an der Kasse des Supermarktes ist nicht in der Lage, zweiundzwanzig und vierunddreißig im Kopf zusammenzuzählen.

Gleichwohl haben wir nicht nur eine Gymnasiastenflut, sondern, vor allem, eine Inflation der Bestnoten. Wenn an einem Gymnasium zehn Prozent der Absolventen mit der Bestnote 1,0 abschließen, ist etwas faul im Staate. Dahinter steckt natürlich der Druck ehrgeiziger Eltern, vor allem aber jener der Direktoren und Ministerien, die Quoten verlangen und Lehrer zu Erfüllungsgehilfen degradieren.

Das Übel setzt sich, vermehrt, an den Universitäten fort. Zwar wissen die meisten Professoren, dass mindestens vierzig Prozent der neu Zugelassenen nicht studierfähig sind, aber, um der Quoten und darauf beruhender Zusage von Mitteln willen, spielen sie mit und mehren das Übel: Statt konsequent zu selektieren, wird, auch angesichts der anstürmenden Massen, das Niveau abgesenkt und an die Studenten angepasst. Sie werden damit eingefügt in ein Wertesystem der neoliberalen Ideologie, das die Erwirtschaftung von Mehrwert zum eigentlichen und alleinigen Ziel erklärt. Kritik ist darin nicht vorgesehen, opportunistisches Mitläufertum hingegen bestimmt das Tagesgeschehen. So erfahren Studenten der Betriebswirtschaft wenig oder nichts über das Mitbestimmungsgesetz, weil Professoren das für überflüssig halten.

Die Umwandlung des Studiums im Sinne der Bologna-Reform hat den Weg in das Mittelmaß vorbereitet, in dem wesentliche Inhalte akademisch-intellektuellen Denkens und Handelns auf dem Altar des Wohlfeilen geopfert werden. Das beginnt bei der Nichtunterscheidung von Daten (Informationen) und Wissen, indem kurzerhand das erste für das zweite erklärt wird; das setzt sich fort, wenn Vermutungen und Theoreme für nachweisbare Erkenntnis gehalten werden und die Frage provozieren, ob wir diese fundamentalen Unterschiede epistemologischen Denkens nicht bereits verlernt haben. Ihre Krönung findet dergleichen Argumentation in dem Postulat, nicht die Maschine sei dem Menschen anzupassen, sondern gerade umgekehrt: Der Mensch müsse erzogen werden, sich der Maschine unterzuordnen, weil die in wachsendem Maße ›selbstdenkend‹ sei und, in wachsendem Maße, der Computer denke und entscheide; der homo sapiens mache sich im Nachhinein dessen Entscheidungen lediglich zu eigen.

Dieser Prozess wird auf der formalen Seite begleitet durch Erlasse, die die Struktur der alma mater grundsätzlich in Frage stellen. Es geht um die Verfügung der Kultusministerien in Nordrhein-Westfalen und Schleswig- Holstein – und wahrscheinlich in Kürze weiterer Länder –, dass hinfort das gemeinsame Lehren und Lernen von Dozenten und Studenten am Campus hinfällig sei. Die sogenannte Präsenzpflicht der jungen Akademiker ist aufgehoben, weil man der Meinung ist, sie sei nicht länger nötig und sinnvoll. Welcher Schwachsinn, erklärbar allein mit dem Wunsch der Finanzminister, Geld zu sparen!

Wilhelm von Humboldt hatte in der Begründung seiner preußischen Bildungsreform und der Errichtung der Berliner Universität im Jahre 1810 das gemeinsame Streben aller Lehrenden und Lernenden zum Zwecke der Erkenntnis in den Mittelpunkt gerückt, begleitet von der Forderung nach Freiheit von Forschung und Lehre sowie der Ausbildung aller Fähigkeiten der jungen Generation: einer allgemeinen Menschenbildung. Im Original: Schule und Hochschule sollten ›nur auf harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten in ihren Zöglingen sinnen; nur seine Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen an, so viel wie möglich, allen Seiten üben, und alle Kenntnisse dem Gemüth nur so einpflanzen…, dass das Verstehen, Wissen, und geistige Schaffen nicht durch äußere Umstände, sondern nur durch seine innere Präcision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt.‹

Als Ziel der Bildung solle über allem stehen, dass Schüler wie Student ›physisch, sittlich und intellektuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden‹ können.

Werden diese Sätze heute überhaupt noch verstanden oder ist der Bildungsverfall bereits derartig fortgeschritten, dass die Jüngeren eine Übersetzung benötigen? Die Frage bleibt unbeantwortet.

Die europäische Dimension

Das Dilemma, von dem hier die Rede ist, betrifft Deutschland, aber im Grunde, mit Abstrichen, auch alle anderen europäischen Länder. Die Flüchtlingskrise verdeutlicht, dass ein tiefer Riss durch den Kontinent geht. Für die einen basiert Europa auf einem Wertesystem, für die anderen, zumal östlichen Mitgliedsstaaten der Union, ist es nichts als ein Vertragssystem zum Zwecke des ökonomischen Vorteils der Propagandisten. Genauer: Gerade die jüngsten Beitrittsländer – Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen und die baltischen Staaten – waren stets sehr engagiert, wenn es um finanzielle Zuwendungen aus dem Brüsseler Topf ging. Ergeht hingegen, wie derzeit, die Bitte an sie, Flüchtlinge aus Krisen-und Kriegsländern aufzunehmen, verweigern sie sich und verlangen stattdessen das Errichten von Grenzzäunen und verschärfte Abschiebungen: Festung Europa. Sie wollen nicht akzeptieren, dass nicht Kohle und Stahl, die Finanzwirtschaft oder die Außenhandelsbilanz Europas Identität ausmachen, sondern die Kulturen und deren Repräsentanten, mithin Dichter, Maler, Musiker und Philosophen: Platon, Ovid, Michelangelo, Orlando di Lasso, Pascal, Montaigne, Shakespeare, Luther, Bach, Goethe, Mozart, Beethoven, Monet, Picasso, Freud, Heinrich und Thomas Mann, Brecht, Benjamin, Havel, Böll, Adorno, Barthes, Foucault und andere. Dies ist freilich nicht nur der Masse der europäischen Bevölkerung vollkommen unbewusst, sondern obendrein deren Repräsentanten. Sie täten gut daran, bei ihrer nächsten und übernächsten Krisensitzung in Brüssel nicht ausschließlich über Flüchtlingsströme und deren nationalistische Verhinderung durch einzelne Länder, über die Europäische Zentralbank sowie die Börsen an den ›Finanzplätzen‹ London oder Frankfurt zu orakeln und zu wehklagen, sondern über den geistigen Ursprung des Kontinents zu debattieren, der die einzige wirkliche Klammer darstellt: griechische Antike, Humanismus und Renaissance, europäische Aufklärung und Klassik, Widerstand gegen die faschistische Barbarei im 20. Jahrhundert, Protest gegen die Spaltung des Kontinents 1989. Dann würden, so ist zu hoffen, mehr Gemeinsamkeiten zutage treten, als die jetzigen tagesaktuellen nationalistischen Streitereien an Unterschieden offenbaren. Dann würde die Position der deutschen Kanzlerin, nämlich Schutzbedürftigen europaweit Zuflucht zu gewähren statt Stacheldrahtzäune an nationalen Grenzen zu errichten, verstanden und rechtfertigt werden.

Das hat im Wesentlichen mit Bildung zu tun: historisches Wissen, philosophische Erkenntnisse, Schönheit und Aussagekraft der Künste: ›Kultur‹ also, anders: ›Europäischer Geist‹. Daran fehlt es fundamental. Derzeit ist Europa reduziert auf Lobbyarbeit vermeintlicher Eliten in Brüssel, Verhandlungen mit pleitenahen Banken sowie auf Institutionen, die allesamt der Religion des Geldes huldigen: der schrecklichsten aller Religionen. Giorgio Agamben, einer der großen europäischen Denker, provoziert sicher mit der Aussage: ›Ein Europa, wie ich es mir wünsche, kann es erst geben, wenn das real ›existierende‹ Europa kollabiert ist.‹ Im Kern freilich hat er Recht.

Einen wirklichen Zugang zu Gegenwart und Zukunft Europas gewinnt einer nur, wenn er eine wirkliche und lebendige Beziehung zum Vergangenen und Europäischen entwickelt. Darauf muss allgemeine Bildung gerichtet sein. Obendrein muss sie klarstellen, dass jene Staaten und Bürger, die in ihrem Wahn nationale Lösungen für internationale Probleme anstreben, scheitern werden. Deutlicher: Sie – allen voran Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei, aber auch Großbritannien – sind nicht reif für Europa. Das ist auch eine Frage der Bildung. Ihnen nachgeben, heißt Europa zerstören. Ein Neuanfang ohne sie böte die einzigartige Gelegenheit, den europäischen Geist neu zu entdecken und zu stärken. Es könnte Europa retten.

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