von Patrick Pritscha

»Meine Großmutter starb im Jahre 1999 an den Folgen eines Selbstmordversuches. Nach allem was ich weiß, konnte sie die Einsamkeit nicht mehr ertragen und auch nicht die Gedanken an Auschwitz, die sie in dieser Einsamkeit wieder stärker überkamen.« (Zimmermann 2005)

Die Generation der Täter
Die Selbstbeschäftigung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nimmt mitunter seltsame Züge an. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass veröffentlicht ein Gedicht, in dem er die »Atommacht Israel« zu einer Gefahr für den »brüchigen Weltfrieden« erklärt, die veröffentlichte Meinung wendet sich mehrheitlich gegen ihn und der ›Stammtisch‹ zollt ihm wahrscheinlich Respekt. Ein Automatismus, der fast schon auf Bestellung abgerufen werden kann und symptomatisch für aktuelle politische Diskurse zum Nahost-Konflikt in der Bundesrepublik ist.
Dass es dabei eventuell nur scheinbar um die diversen Konflikte in diesem Raum geht, an denen auch der Staat Israel seinen Anteil haben mag, interessiert nur wenige. Der israelische Historiker Tom Segev hingegen eröffnet eine andere Perspektive: »Dass es Günter Grass mehr um sein eigenes Schweigen geht als, wie er darin behauptet, um die Zukunft der Menschheit. Er tut so, als ob er etwas sagt, das noch niemand gesagt hat. Ich fand das etwas pathetisch: mein Schweigen. Ich glaube, er denkt noch immer an sein SS-Schweigen.« (Segev 2012)

Vielleicht ist es gerade dieser Akzent, der mich dazu bewogen hat, hier das Wort zu ergreifen. In den 1970er Jahren geboren und in der DDR aufgewachsen, habe ich von der ›moralischen Instanz‹ Günter Grass und seinem Roman Die Blechtrommel als wichtigstes Werk der deutschen Nachkriegsliteratur zum Thema Nationalsozialismus nicht viel mitbekommen. Dass seine Bücher Schulstoff waren und damit zur Allgemeinbildung der westdeutschen Nachkriegsgeneration gehörten, habe ich erst jetzt richtig wahrgenommen. Zur Kenntnis genommen habe ich vor allem die Schlöndorff-Verfilmung der Blechtrommel (1979) und hatte meine Probleme damit, die NS-Zeit aus der Sicht eines vorpubertären Kindes präsentiert zu bekommen. Der Betrachter, der sich in der Regel mit dem Hauptprotagonisten identifiziert, ist damit ein ›unschuldiger‹ Außenstehender, der für nichts etwas kann, ablehnt was da passiert und damit auch keine Verantwortung trägt. Ich weiß nicht, ob es im Dritten Reich die Möglichkeit gab, eine solche Außenperspektive zu beziehen. Grass legt dies nahe und vielleicht mag es als künstlerisches Mittel auch gerechtfertigt sein. Als er 2006 bekannt gab, als 17jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein, wurde aus meiner bis dato kritischen eine eher ablehnende Haltung.

In meiner DDR-Schulzeit war der autobiografisch angehauchte Roman Die Abenteuer des Werner Holt von Dieter Noll Pflichtlektüre im Unterricht. Noll, ebenso wie Grass Jahrgang 1927, schildert darin den Entwicklungsweg eines Teenagers im Zweiten Weltkrieg vom HJ-Mitglied, Flakhelfer bis zum Freiwilligen der Panzertruppen, der trotz seines Alters anfängt, das NS-Regime zu hinterfragen. Und nein, er wird trotzdem nicht zum Widerstandshelden. Er kämpft bis zum Schluss für das NS-Regime, sowohl an der Ost- als auch an der Westfront. Erst in buchstäblich letzter Sekunde, wenige Augenblicke vor seiner Gefangennahme durch die alliierten Truppen, dreht er sein MG um und erschiesst ein paar SS-Soldaten. Dass dieser allerletzter Akt des ›Widerstands‹ für seinen Lebensweg im Nachkriegsdeutschland trotzdem kaum eine Rolle spielt, wird im zweiten Teil des Romans deutlich.
Dieser 1960 erschienene und fünf Jahre später von der DEFA verfilmte Roman ist vielleicht das ostdeutsche Pendant zur 1959 erschienen Blechtrommel. Doch während in der ›antifaschistischen‹ DDR ein Hitlerjunge und seine Freunde als Täter im wahrsten Sinne des Wortes die Hauptrolle spielen und reale Identifikationsmöglichkeiten bieten, welches auch dazu führte, dass in meinem Bekanntenkreis der Militarist und Offizierssohn Wolzow eher als Vorbild gesehen wurde als der zweiflerische Holt, ist es bei Grass das infantile Kind, welches die Welt um ihn herum erklärt oder zumindest beschreibt. Eine irreale Kunstfigur, mit der sich jeder verbünden kann, der kein schlechtes Gewissen haben mag.

Nun ist Grass nicht der einzige gefeierte deutsche Schriftsteller, der seine Verstrickungen in der NS-Zeit verheimlicht hat. Auch Erwin Strittmatter, einer der bekanntesten und meistgelesenen DDR-Autoren, hat zu seiner Kriegsvergangenheit geschwiegen. Weder seine Bewerbung bei der Waffen-SS noch sein Dienst bei einer Einheit der Ordnungspolizei, die zur Partisanenbekämpfung eingesetzt wurde, taucht in seinen literarischen Werken auf. Seine autobiografischen Romantrilogie Der Laden endet im zweiten Teil mit dem Kriegsausbruch und beginnt im dritten Teil mit der Heimkehr. Und genau wie bei Grass hat auch er angeblich nie etwas Verwerfliches in seiner Dienstzeit getan, er war ja nur der Kompanieschreiber.
Ich weiß nicht, was Grass und Strittmatter im Krieg wirklich erlebt und getan haben, aber unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir die literarische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bei Noll doch um einiges kritischer und reflektierter, unabhängig von ihrem tatsächlichen, biografischen Wahrheitsgehalt, den ich nicht einschätzen kann.

Die Generation der Opfer
Nach dem Kriegsende 1945 gab es viele Millionen Deutsche, die Mitglied der NSDAP und anderer Organisationen waren. Von der HJ, dem BDM über die SS, SA bis hin zur Wehrmacht war ein Großteil der Deutschen am Regime des NS beteiligt. Egal ob passiv oder aktiv waren sie die Basis, auf der eine menschenverachtende Ideologie ihre Wirksamkeit aufbauen und entfalten konnte. Diesen Millionen standen nach 1945 gerade einmal 300.000 offiziell erfasste überlebende deutsche NS-Verfolgte gegenüber. (Goschler 2005, 65)
Während im Zuge der Entnazifizierung zügig die Wiedereingliederung der Täter in die Nachkriegsgesellschaft erfolgte, war der Umgang mit den Opfern von Ablehnung und Verdrängung geprägt. Nicht ohne Grund entschuldigte der Jurist und CDU-Bundestagsabgeordnete Franz Böhm die schleppende Wiedergutmachungspraxis in den 1950er Jahren mit dem Satz: »Was soll man tun, wenn ein ganzes Volk bockt...?« (ebd., 134)
Die wenigen, die sich in der BRD für die NS-Verfolgten einsetzten, bezeichneten sich selbst als »verlorener Haufen« (Pross 1988, 24) und charakterisierten damit treffend die absolute gesellschaftliche Minderheitenposition, in der sie sich befanden. Daran hat sich bis in die Gegenwart nicht viel geändert. Trotz einer seit Jahrzehnten andauernden Wiedergutmachungspraxis kann davon ausgegangen werden, dass die meisten NS-Verfolgten bis heute keine oder nur sehr geringe Entschädigungszahlungen erhalten haben. (Frei/Brunner/Groschler 2009, 13)

Um Ansprüche geltend machen zu können, müssen NS-Verfolgte in einem Antrag individuelle Schäden an Leib, Gesundheit oder Vermögen nachweislich belegen. Diese Vorgehensweise, die aus der Entschädigung einen Verwaltungsvorgang macht und weder mit einer Generalentschuldigung noch einer allgemeinen Anerkennung der NS-Verfolgten verbunden ist, macht die Opfer zu Bittstellern, anstatt die Wiedergutmachung als eine Bringschuld Deutschlands anzusehen.
Dass viele Entschädigungsverfahren bis heute andauern, obwohl die Antragsfrist selbst bereits 1969 abgelaufen ist und danach eingereichte Anträge wegen Verfristung pauschal abgelehnt werden, zeugt nicht unbedingt von einem ausgeprägtem Handlungsdrang in Bezug auf Wiedergutmachungsfragen. Für die Betroffenen war und ist die Konfrontation mit den rechtlichen Vorgaben häufig keine nachvollziehbare und akzeptable Rechtspraxis, sondern vielmehr erneut erlittenes Unrecht.
Die mitunter jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zur Erlangung von Entschädigung und Rehabilitation tragen mit dazu bei, dass die Zeit der NS-Verfolgung ein dauerhafter Bestandteil des Lebens von NS-Verfolgten bleibt und Einflüsse auf ihr Alltagshandeln hat. Diese Verfolgungserfahrung und der Umgang damit hat  Auswirkungen auf nachfolgende Familiengenerationen, wie die der Kinder und Enkel.

Warum es nicht vorbei ist – die Enkelgeneration
»Aber Israel, der Staat Israel, der Judenstaat, das hat für mich seit je her eine fast magische Bedeutung gehabt und zwar in vielerlei Hinsicht. Zugegeben, manches mag noch aus einer jungenhaften Bewunderung für das Abenteuerliche und einem mir eigenen Sinn für das Pathetische herrühren. Aber ich habe diese Menschen immer bewundert, die in ihrer gestreiften Häftlingskleidung von den Schiffen stiegen und sich aufmachten, eine Nation aufzubauen. (…) Ich bin kein zionistischer Extremist mit einem deutschen Pass, ich glaube, ich habe zum Nahost-Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern die liberalste nur denkbare Haltung. Ich weiß genau, dass jede Seite Fehler gemacht hat und kann sie benennen. Wenn ich etwas zu sagen hätte, hätten die Palästinenser schon morgen einen Staat auf eigenem Land in den Grenzen von 1967 mit freiem Transit zwischen Gaza und dem Westjordanland. Aber ich glaube an Israel und ich bin der Überzeugung, dass es diesen Staat geben muss, solange es Juden gibt. Israel ist für die Juden die einzige Sicherheit auf Erden, und sie brauchen Waffen, um sich verteidigen zu können.« (Zimmermann 2005)

In gewisser, wenn auch vielleicht makaberer Hinsicht, ist mein Altersgenosse C. Zimmermann zu beneiden. Er hat als Enkel einer jüdischen Auschwitzüberlebenden (obwohl dieser Begriff an sich falsch ist, denn nach 54 Jahren hat Auschwitz seine Großmutter trotzdem noch umgebracht) eine irgendwie geartete Notfallperspektive für sich selbst:
»Wie für jeden Juden war Israel für meine Großmutter nicht nur ein Land, sondern ein möglicher Zufluchtsort. Und auch für meinen Vater ist es mehr als ein Land. Wer in irgendeiner Weise Berührung mit Holocaust und Judentum hat, kann verstehen, dass für Juden Israel eine Art Lebensversicherung darstellt. Gleichgültig in welch sicheren Umständen man lebt, Israel bedeutet die Möglichkeit, an einen Ort zu gehen, wo man unter seinesgleichen ist, der Unterdrückung entgehen und Herr im eigenen Lande sein kann. Und daher ist Israel nicht nur ein Land, sondern ein Prinzip, das unter keinen Umständen aufgegeben werden darf. Natürlich ist Israel für mich kein möglicher Zufluchtsort, schlicht und ergreifend weil ich von niemandem etwas zu befürchten habe. Aber zu erleben, mit welch stiller und auch unnachgiebiger, ja sturer Selbstverständlichkeit Menschen, denen man nahe steht – konkret: meine Großmutter und mein Vater – an dieses Prinzip glauben, prägt einen sehr. Ich glaube, das ist wieder einmal schwer nachzuvollziehen, aber vielleicht illustriert folgende Begebenheit, was ich meine: Eines Tages sprach meine Großmutter mit meinem ältesten Bruder über meinen Entschluss, Jura zu studieren. Im Verlaufe des Gesprächs fragte meine Großmutter: ›Kann man damit auch ins Ausland gehen?‹ Was sie damit meinte, war: Sollte es jemals wieder zum Äußersten kommen, kann er seinen Beruf auch im Ausland ausüben? Könnte er notfalls auch, ohne mittellos zu werden, seinem Beruf auch als Auswanderer nachgehen?« (Zimmermann 2005)

Viele andere NS-Verfolgte und deren Nachkommen haben diese Option eines ›eigenen‹ Landes nicht, das vielleicht im Alltag nicht unbedingt immer sicher und friedlich ist und sich darüber hinaus mit all den gesellschaftlichen Gegensätzen und Widersprüchen einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und religiösen Fanatismus auseinander setzen muss, aber zumindest in psychologischer Hinsicht eine letzte mögliche Alternative darstellt.
Diejenigen, denen eine solche Perspektive verschlossen ist, bleibt nur die Hoffnung, dass ›es‹ nie wieder geschieht und dass alles Denken, das Vergangenes ermöglicht hat, nie wieder gesellschaftliche Majorität gewinnt und politische Praxis wird. Wer das als Schwarzmalerei abtut, der sollte sich die aktuellen Verhältnisse im EU-Mitgliedsstaat Ungarn anschauen. (Pritscha 2011)

Doch es geht hier nicht allein um historische Analogien, sondern auch um Kontinuität. Für die Person, die bereits kurz nach der ›Wiedervereinigung‹ von Nazis zusammengeschlagen wurde, im Krankenhaus aufwachte, sein Bett von denen umringt sah, die ihn am Vorabend ›erwischt‹ hatten und begrüßt wurde mit dem Spruch: »Ach, du lebst noch? Da müssen wir das nächste mal etwas sorgfältiger sein!«, sind Neonazis kein rein akademisches Thema. Vielleicht mag die thematische Objektivität zuweilen darunter leiden, die Sensibilität auf keinen Fall.
Und wenn eine fast neunzigjährige Frau, 66 Jahre nach Kriegsende, plötzlich um Hilfe schreit, weil sie ihr Bein durch das Seitenteil des Krankenbetts geschoben hatte, sich selbst nicht mehr befreien kann und fleht, dass sie doch nichts getan hätte und doch schon im KZ war, nur noch Haut und Knochen ist, hilflos, blind und taub in ihrem Bett liegend, froh darüber, dass man ihr Essen und 'ne saubere Windel gibt und die Enkelin, völlig hilflos und verzweifelt, versucht, sie zu beruhigen – dann gibt es eben nicht für alle die Gnade der späten Geburt oder sogar den Luxus mit einem Gedicht weltweit seine eigenen Schuldkomplexe abreagieren oder sogar an die Nachkommen der NS-Opfer delegieren zu können. Für den Enkel wiederum bleibt nur die Möglichkeit an dieser Stelle auf diesen Umstand hinzuweisen.


Literatur:
Norbert Frei, José Brunner, Constantin Goschler (Hg.), Die Praxis der Wiedergutmachung – Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009.

Constantin Goschler, Schuld und Schulden – Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.

Patrick Pritscha, Faschistische Renaissance in Ungarn?, in: GlobKult, http://www.globkult.de/politik/europa/663-faschistische-renaissance-in-ungarn (16.07.2011), zuletzt abgerufen am 05.04.2012.

Christian Pross, Wiedergutmachung – Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt am Main 1988.

Tom Segev, Interview, in: Spiegel online, http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,825782,00.html (05.04.2012), zuletzt abgerufen am 05.04.2012.

C. Zimmermann, Die dritte Generation: Enkel des Holocaust, in: haGalil, http://www.schoah.org/auschwitz/enkel.htm (30.10.2005), zuletzt abgerufen am 05.04.2012.