von Herbert Ammon

Der afrikanische Kontinent rückt gewöhnlich nur dann ins mediale Interesse, wenn mit Migranten überfüllte Schiffe die süditalienische Küste ansteuern, wenn als Friedensmissionen deklarierte Militäraktionen von Franzosen und Deutschen in Mali scheitern oder wenn ›Bürgerkriege‹ im Sudan sowie in Äthiopien in neue Hungerkatastrophen münden. Darüber hinaus erscheint der Kontinent südlich der Sahara – mit wenigen Ausnahmen wie derzeit Ruanda, Botswana oder Sambia – nur als ein Ensemble von Krisenregionen. Selbst in ›postkolonialen‹ akademischen Diskursen kommt Afrika – aus einseitiger Perspektive – vornehmlich als Objekt der von Gier und Verbrechen getriebenen europäischen Expansion seit der Wende zur Neuzeit vor. Die politisch akuten Zukunftsfragen Afrikas – obenan die prospektive Bevölkerungsentwicklung von derzeit 1,5 Milliarden auf knapp 2,5 Milliarden Menschen im Jahre 2050 (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1342786/umfrage/entwicklung-der-einwohnerzahl-in-afrika/) – bleiben in derlei Betrachtungsweisen weithin ausgeblendet. (Siehe auch Volker Seitz:https://www.achgut.com/artikel/tabus_warum_in_afrika_wirklich_gehungert_wird).

Vor diesem Hintergrund spielt die Entwicklung in Südafrika für die Zukunft Afrikas – und Europas – eine herausragende Rolle. 1990 zählte die Republik Südafrika noch etwa 41 Millionen, mit seinen 2023 auf mehr als 63 Millonen geschätzten Einwohnern liegt das Land in der Bevölkerungsstatistik zwar nur an sechster Stelle (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1312943/umfrage/laender-afrikas-mit-der-hoechsten-gesamtbevoelkerung/), aber es ist – trotz eines in den letzten zwölf Jahren um mehr als 80 Mrd. Dollar auf unter 378 Mrd. Dollar geschrumpften BIP (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/254713/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-in-suedafrika /) – nach wie vor das am höchsten entwickelte Industrieland des Kontinents. Zugleich erreichen uns aus Südafrika – nach dem Ende des Apartheid-Regimes und den hoffnungsvollen Übergangsjahren unter dem ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela (1994-1999) vornehmlich negative Nachrichten: Korruption, hohe Mordraten akzentuierte Kriminalität, Zusammenbrüche des Stromnetzes und dergleichen. Ein failing state am Kap der Guten Hoffnung?

Die nachfolgenden Ausführungen beanspruchen nicht, ein umfassendes Bild der Verhältnisse in dieser Schlüsselregion im Süden Afrikas zu liefern. Sie beruhen auf persönlichen Wahrnehmungen bei einer Pauschalreise, auf Informationen des Reiseführers, dem Sohn deutscher Auswanderer in den Nachkriegsjahren, sowie auf einem längeren Gespräch mit dem langjährigen Afrika-Korrespondenten Wolfgang Drechsler in Kapstadt.

Der Reiseführer, vor 19 Jahren – im Zuge der als empowerment deklarierten Besetzung von Führungspositionen mit oft gering qualifizierten Schwarzen – als Forstwirt entlassen und seither mangels sprachkundiger Konkurrenten als Guide für deutsche Touristen tätig, neigt zu einer eher pessimistischen Lagebestimmung, abgemildert durch gewisse Hoffnungen in die nach der eklatanten Wahlniederlage des African National Congress (ANC) im Juni 2024 gebildete Koalitionsregierung unter – dem gleichfalls unter Korruptionsverdacht geratenen – Cyril Ramaphosa. Demgegenüber ist der seit Jahrzehnten in Südafrika lebende Journalist Drechsler – unter Verweis auf die Leistungen von Helen Zille, Führungsfigur in der Democratic Alliance (DA), als tatkräftiger Bürgermeisterin von Kapstadt und danach als Premierministerin von Western Cape (2009-2019) – gemäßigt positiv gestimmt. Beide sprechen im Hinblick auf die nach Mandela mit absoluter ANC-Mehrheit regierenden Präsidenten Thabo Mbeki und Jacob Zuma von verlorenen Jahren.

Was bei der Fahrt ins Zentrum von Kapstadt als erstes auffällt, sind kilometerweit ausgedehnte Slums, ein Gewirr von dürftigen Stein- oder Holzbauten und erbärmlichen Blechhütten. Ansehnlicher wirken die allerorts, nur zum Teil innerhalb der ›townships‹ – wie in dem von 1,3 Millionen bewohnten Soweto im Südwesten von Johannesburg – entstehenden, ziegelgedeckten Siedlungen von sogenannten ›Mandela-Häusern‹. Es handelt sich um gemäß einem Versprechen Mandelas für jede südafrikanische Familie – im Hinblick auf die verbreitete Polygamie ein unscharfer Begriff – auf kleinen Grundstücken kostenlos errichtete Sozialbauten. Auch hier fehlt es an den Anblick belebenden Blumen, nicht aber an fleißig gepflegten Autos.

Auf das blanke Elend stößt der Tourist beim Anblick der von den Holländern – wenige Jahre nach der Ankunft Jan van Riebeecks am Kap (1652) – nach dem Modell Vaubans errichteten Festung unweit des Stadtzentrums. Hier hausen in einer Ansammlung von Plastikplanen, Pappkartons, Decken und Müll illegale Einwanderer aus allen Teilen Schwarzafrikas. An den zahllosen Illegalen – geschätzt auf an die zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – entzündet sich periodisch der Hass der einheimischen schwarzen Bevölkerung, bis hin zu mörderischen Pogromen.

Auf den ersten Blick scheint gleichwohl das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen untereinander und – anders als in den inner cities vieler amerikanischer Großstädte – auch der Umgang von Schwarz und Weiß eher entspannt. Wie es mit den realen Empfindungen der schwarzen Bevölkerung gegenüber der noch immer wohlhabenden – vor allem von den radikalen Economic Freedom Fighters (EFF) unter Führung von Julius Malema offen angefeindeten – weißen Minderheit steht, ist ohne genauere Kenntnis der Dinge schwer auszumachen. Auch unter der schwarzen Mehrheit (mit den Zulus und den Xhosas als den beiden größten Gruppen) existiert – begründet in der ethnischen Vielfalt – eine von außen schwer erkennbare Hierarchie von Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Auf Antipathien seitens der schwarzen Mehrheit trifft die circa 9 Prozent umfassende Bevölkerungsgruppe der Afrikaans sprechenden Coloureds, die sich ihrerseits – auch in geschlossenen Siedlungen – von den Schwarzen abgrenzen und in den westlichen und nördlichen Kapprovinzen als politisch moderate Kraft hervortreten.

Zumindest in Kapstadt scheint der Übergang zu einem friedlich-harmonischen Gemeinwesen gelungen. Anders als in den woken Metropolen Europas und der USA kam es in der von kolonialer Architektur und geschmackvollen Gebäuden jüngeren Datums geprägten Stadt am Fuße des Tafelberges, über die sich nur wenige gesichtslose Hochhäuser erheben, bis dato nicht zu antikolonialen Denkmalstürzen. Als Symbol universalen Freiheitskampfes ziert ein noch von Nelson Mandela selbst bestelltes Segment der Berliner Mauer die St. Georges Mall gegenüber dem Gebäude der Mandela Rhodes Stiftung. Unweit der Statuen Jan van Riebeecks und seiner Frau steht ein Denkmal Mandelas. Cecil Rhodes’ Statue erhebt sich unbeschädigt in dem gepflegten, die Stadtmitte durchziehenden Park. Immerhin wird dort derzeit das an Südafrikas Teilnahme an den beiden Weltkriegen erinnernde Denkmalareal durch zahllose Stangen ergänzt, die an den Kriegsbeitrag des schwarzen Hilfspersonals erinnern sollen.

Mit Wohlgefallen registriert der Besucher, dass nirgendwo Schmierereien – hierzulande semantisch überhöht als Grafitti – zu sehen sind. Eine Ausnahme bilden Parolen ›Free Palestine‹ und aufgemalte palästinensische Fahnen an Hauswänden rund um Moscheen in dem farbenfrohen Viertel der dereinst von der Niederländischen Ostindien-Kompanie als Sklaven, sodann im 19. Jahrhundert von den Briten aus Indien als Kontraktarbeiter importierten Muslime.

Südafrika war und ist ein Land extremer Unterschiede. Das betrifft die Geographie und die Klimazonen des Landes – mit 1,22 Millionen km² dreieinhalb mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland – und insbesondere die fortbestehende Kluft zwischen Arm und Reich. Die sozialen und kulturellen Gegensätze werden augenfällig in den Slums oder Townships und in den Wohnvierteln der Wohlhabenden (zu denen inzwischen nota bene auch eine Anzahl von Schwarzen zählt). Ohne Ausnahme sind die Häuser mit Mauern oder Metallzäunen geschützt, auf denen zusätzlich elektrisch geladene Drähte (›Danger – electric fence‹) installiert sind.

Derlei Sicherheitsmaßnahmen – selbst der schmiedeeiserne Zaun um das stilvolle Parlamentsgebäude in Kapstadt ist mit Stacheldraht umrankt – sind angesichts der weit über europäischen Maßstäben liegenden Kriminalitätsrate mehr als plausibel. Ich selbst wurde in dem hübschen Hugenotten-Städtchen Franchhoek – unweit davon befindet sich (mit einem Standbild vor dem Eingang) das Gefängnis des drei Jahre vor seiner Entlassung 1990 von Robben Island dorthin verlegten Mandela – an einem Geldautomaten zum Objekt eines reaktionsschnell abgewehrten Raubüberfalls auf meine Scheckkarte. Zum betrüblichen Alltag des Landes gehören die statistisch exorbitanten Gewalttaten in den schwarzen Townships sowie die spektakulären Morde an (weißen) Farmerfamilien.

Am schärfsten treten die Gegensätze und Probleme des Landes im Vergleich der Provinzen Western und Eastern Cape hervor. Western Cape mit der Hauptstadt Kapstadt erfreut sich relativer ökonomischer und politischer Stabilität. Vom einzigartigen Stadtbild Kapstadts abgesehen, beeindruckt die Provinz durch ihre landschaftliche Schönheit, mit ihren Weingütern in der Region um die Universitätsstadt Stellenbosch, mit der wald- und seenreichen Garden Route und mit grünem Farmland im breiten Küstenstreifen des Indischen Ozeans. Städte wie – das durch Zweitwohnsitze sowie Zuzug von Pensionären aus den Industriezentren im Norden schnell wachsende – George oder Knysda genießen unverminderten Wohlstand, ablesbar an den zahlreichen Golfplätzen.

Das Gegenbild stellt Eastern Cape, Hauptsiedlungsgebiet der Xhosas, als ärmste der – mit der Verfassung von 1996 geschaffenen – neun Provinzen des Landes dar. Eine direkte Anschauung aller Widersprüche des Landes vermittelt die 2021 in Gqeberha umbenannte, mit zahlreichen Mandela-Insignien verzierte Millionenstadt Port Elizabeth. Das alte Stadtzentrum, geprägt von viktorianischer Kolonialarchitaktur – Kathedrale, Kirchen, City Hall, noble Hotels und Geschäftshäuser –, scheint dem progressiven Verfall ausgesetzt. Das Geschäftszentrum und mit ihm das Wohngebiet der Weißen hat sich an den Stadtrand verlagert.

Ein Teil der Hafenanlagen mitsamt einer Anzahl vor sich hin rostender Schiffe ist verrottet. Nichtsdestoweniger spielt der Hafen für Exporte von hochwertigen Erzen und landwirtschaftlichen Produkten sowie für Importe – zusehends aus China – nach wie vor eine bedeutsame Rolle. Vor allem verfügt die Stadt über eine umfangreiche, von Weltfirmen – darunter Volkswagen – betriebene Autoindustrie. Als hoffnungsvolles Indiz inmitten allerlei Tristesse ist die geglückte Modernisierung unseres noch unlängst heruntergekommenen Hotels unter einem neuen schwarzen Manager zu nennen.

Die wirtschaftliche Basis des Landes scheint – nach dem oben erwähnten Einbruch werden von 2025 an wieder steigende Wachstumsraten prognostiziert – noch intakt (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/254713/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-in-suedafrika/). Sie ist – vom Dienstleistungssektor abgesehen – noch immer gegründet auf den Reichtum an Gold, Diamanten, Platin, Titan, Chrom, Uran usw. in den vier nördlichen Bergbauprovinzen. Hochwertige Steinkohle aus Bergwerken in Mpumalanga und Limpopo dient der zuletzt wieder stabilen Energieversorgung aus – nichtgrüne Rauchwolken ausstoßenden – Kraftwerken auf dem Highveld sowie der Erzeugung von Kraftstoffen. Über ein Viertel der Kohleproduktion geht in den Export, obenan nach Indien, dann China und – infolge der Sanktionen gegen Russland – in steigendem Maße in die EU.

Mit 10,3 Prozent des BIP stellt die Landwirtschaft – sowohl für die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln als auch für den Export – weiterhin einen bedeutsamen Sektor der Wirtschaft dar. (https://www.trade.gov/country-commercial-guides/south-africa-agricultural-sector) Anders als im benachbarten Simbabwe, das unter der Diktatur Mugabes vom Brotkorb zur Hungerregion im südlichen Afrika herabsank, hat in Südafrika – von radikalen Forderungen abgesehen – bislang keine nennenswerte Enteignung ›weißen Farmlands‹ stattgefunden, sodass – abhängig von hinreichenden Niederschlägen – eine marktorientierte Produktion von Lebensmitteln als gesichert gelten kann.

Den positiven Daten widersprechen die negativen. Ein funktionierendes Postsystem existiert nicht mehr, das einst vorbildliche Eisenbahnnetz ist – bis auf einen Luxuszug sowie eine Gütertransportlinie aus Limpopo zum Hafen Maputu in Mozambique – vollständig zusammengebrochen. In Pretoria ist auf Abstellgleisen ein unübersehbare Menge ausrangierter Eisenbahnwaggons zu betrachten.

In der Problemliste obenan steht die – in Parallele zum Bevölkerungswachstum – anno 2024 auf geschätzt 33,5 Prozent (https://de.statista.com/statistics/254735/arbeitslosenquote-in-suedafrika/) angewachsene Zahl der Arbeitslosen. Beschäftigungslos Herumstehende oder in Grünanlagen vom Nichtstun ausruhende Männer begegnen dem Südafrika-Touristen auf Schritt und Tritt. Hinzu kommen die unzähligen, an allen tourist spots afrikanischenTinnef made in China feilbietenden tiefschwarzen Migranten.

Als einen ökonomischen (und politischen) Negativfaktor benennt der Reiseführer die – im Vergleich zu den Frauen – niedrigere Arbeitsmoral der Männer. Gravierender dürften die Defizite im öffentlichen Bildungssystem sein, ungeachtet der vermeintlich niedrigen Quote von Analphabeten. Bei den Rechenkünsten weiblicher Bedienungen in Lokalen scheint es noch zu hapern. Im übrigen findet der Geldverkehr – als Zeichen digitalen Fortschritts oder aus Sorge um die Geldeinnahmen? - fast überall nur cashless statt.

An den weiterführenden Schulen wurden europäische Fremdsprachen – außer Englisch als lingua franca – zugunsten einer der anderen sieben afrikanischen Amtssprachen abgeschafft. An den Universitäten wurde Afrikaans aus dem akademischen Betrieb verbannt. Ein ökonomisch dysfunktionales Moment ist die von der schwarzen Führung verfolgte Politik des empowerment, der südafrikanischen Variante der affirmative action. Die Praxis, weiße Funktionseliten durch schwach oder gänzlich unqualifizierte Personen zu ersetzen, beeinträchtigt nicht nur die Leistungsfähigkeit in Wirtschaft und Verwaltung, sondern befördert den Exodus von weißen Fachleuten. Nicht erst seit der Misswirtschaft unter Jacob Zuma hat circa eine Million Weißer das Land – vornehmlich in englischsprachige Staaaten – verlassen, darunter der Nobelpreisträger für Literatur J.M. Coetzee.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor hängt mit der außen- und wirtschaftspolitischen Orientierung des Post-Apartheid-Staates zusammen. Ende 2023, im Gefolge des Gaza-Krieges, trat Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof in den Haag mit einer Anklage gegen Israel hervor. Schon 2010 hatte sich Südafrika dem mit dem westlichen System konkurrierenden Wirtschaftsblock der BRICS-Staaten angeschlossen. Hinzu kommt – verwurzelt in der alten Liebe des ANC zur Sowjetunion – eine Annäherung an Putins Russland, sichtbar an russischen Flottenbesuchen in der alten Marinebasis Simonstown.

Wie kann es gelingen, in einem Land mit enormen ökonomisch-sozialen und kulturellen – erneut zu verweisen ist auf die afrikanische Praxis der Polygamie – Diskrepanzen eine stabile Ordnung zu etablieren? Noch verfügt das Land über eine intakte Rechtsordnung. Zugleich werden von radikaler Seite Forderungen nach Abschaffung des ›Dutch Roman Law‹ laut. Die Zukunft der ›Regenbogennation‹ am Kap – vor seinem Tode prangerte Erzbischof Desmond Tuto die neuen Ungerechtigkeiten an – hängt von vielerlei Unwägbarkeiten ab. Es bleibt zu hoffen, dass sich unter der Regierung Ramaphosa und dem mäßigenden Einfluss der Democratic Alliance die Dinge zum Guten wenden. Zweifel bleiben bestehen.

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