von Ulrich Schödlbauer

1.

Der Erste Weltkrieg wurde in der Ersten, der Zweite in der Zweiten Welt ausgefochten. Zur Zeit des Ersten gab es keine Zweite und Dritte Welt, zur Zeit des Zweiten hingegen zwar eine Zweite, nicht jedoch die sogenannte Dritte. Man muss solche Feinheiten im Kopf haben, um mitreden zu können. Zur Zeit des Ersten jedenfalls, der bloß zwanzig Millionen Menschen das Leben kostete, hieß die Erste Welt unstreitig Europa – die mit dem Stier, Sie wissen schon. Über die Neue Welt Amerika konnte man unterschiedlicher Ansicht sein.

Über unterschiedliche Ansichten kann man streiten. Aber der erste Platz ist damit bereits verpasst. Länder, die es auch noch gab, empfingen ihre Funktion von Europa, sprich: den europäischen Kolo­nialmächten, die sie als Teil ihrer Imperien betrachteten. Heutigen Dekolonialisten schmeckt das nicht, aber – es war so. Selbstredend machten die Kolonialmächte den Krieg unter sich aus. Das große Takeover fand nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in den Verhandlungszimmern und Bör­sensälen der Nachkriegszeit statt. Die neue Großmacht USA kam, sah zu, wie die Europäer sich ge­genseitig massakrierten, und kassierte. Krieg führen ist teuer, Krieg führen bis zur Erschöpfung ist auch in finanzieller Hinsicht erschöpfend. Anschließend befindet man sich in der Hand der Kreditgeber, falls man zu den Siegern zählt, in den Händen der Sieger, falls man verloren hat. Eine Hand quetscht die andere.

Der Zweite Weltkrieg tobte sich hauptsächlich auf der sozialistischen Landmasse Eurasiens und ihren pazifischen Fortsätzen aus. Es gab Schlachten im Süden und Westen und Osten, darunter äußerst blutige, aber was immer man von ihnen hält, sie waren im Geiste bereits geschlagen, als sie begannen. Die USA, als ›letzte verbliebene kapitalistische Großmacht‹, kamen, um einzukassieren, nachdem sie diskret dafür ge­sorgt hatten, dass die faschistischen Gernegroße sich an ihren Lieblingsfronten zu Tode siegten. Das muss hier nicht weiter kommentiert werden, schließlich gibt es Bücher.

Über den Dritten Weltkrieg existieren unterschiedliche Hypothesen. Nach dem Gesetz der Serie hat auch er bereits stattgefunden, und zwar in der Dritten Welt. Fragen Sie nicht, warum man ihm dieses Etikett hartnäckig verweigert. Das Leben und Sterben in der Dritten Welt, so muss man im Nachhinein feststellen, blieb den beiden anderen höchst gleichgültig. Heute, da eine Dritte Welt ebenso wenig mehr existiert wie eine Zweite und Erste, blickt man in den Ländern der ehemals Ersten Welt auf diese Zeit als auf eine lange Friedensperiode zurück. Das ist die ganz normale Sicht des ganz normalen Europäers.

Hier angekommen wäre Gelegenheit, Gedanken über le monde anglo-saxon einzuflechten, deren Kriegführung sich, die Technologieschübe abgerechnet, im Lauf der Jahrhunderte wenig geändert hat. Die europäischen Mächte (samt dem, was von ihnen übrig ist) haben eine lange Gewohnheit ausgebildet, Kriege in Erdteilen zu führen, die sich für sie rechnen, aber nicht zählen. Die Weltmacht zwischen zwei Ozeanen, genannt USA, eifert ihnen darin mehr oder weniger erfolgreich nach. Hitzköpfe schließen daraus, der Dritte Weltkrieg sei in Wahrheit der erste und nichts weiter als die Jahrhunderte währende Aggression des Westens gegen den Rest der Welt. Doch muss man gelten lassen, dass sich diese Ansicht, in Europa zumindest, nicht durchgesetzt hat. In Amerika liegen die Dinge einen Dreh anders. Im Prinzip hat man dort kein Problem damit, die Geschichte Europas – vor dem Eintreffen der eigenen Truppen – auf eine Geschichte von Warlords zu reduzieren. Wie dem auch sei, die Zahl der Wissenschaftler ist beträchtlich, die den Dritten Weltkrieg in den ehemaligen Kolonien der Europäer, also in der ehemals Dritten Welt, aber unter tatkräftiger Beihilfe der vormals Ersten und Zweiten, haben statt­finden lassen. Aber wer hört schon auf Wissenschaftler? Verschwörungstheoretiker, wer sonst.

2.

Der Krieg, sagt man, sei nach Europa zurückgekehrt. Das klingt, als strömten in Europa, dem Mut­ter-Kontinent aller Kriege, seit dem Einfall russischer Truppen in die Ukraine die Kriegstoten vergangener Epochen zusammen wie das Kapital, wenn es ernst wird, im secure haven USA, und stimmten das alte Lied an: Wir Toten, wir Toten sind größere Heere – größere jedenfalls als diejenigen, die sich aus modernen Ein-Kind-Familien zu­sammenstoppeln lassen, bloß um auf dem modernen Schlachtfeld dahinzuschmelzen wie … wie … na wie schon. The Great European War, nach dem Willen der Beteiligten und der festen Überzeu­gung ihrer Nachkommen 1945 zu Ende gegangen, beherrscht das Bewusstsein der Trommler wie ein gespensti­scher Herr, der auf seine angestammten Territorien zurückkehrt, um mit frischem Material die übli­chen Verwüstungen anzurichten. Es soll Menschen geben, die ihn frenetisch herbeiwünschen. Man glaubt es nicht, auch wenn man fast täglich eines Besseren bekehrt wird.

Am meisten verblüffte gleich zu Beginn das Geschrei der Tut-was-Fraktion. Es belegt eine Volatilität des friedensbe­wegten Bewusstseins, die selbst notorisch misstrauischen Zeitgenossen so nicht vor Augen stand. Wie selbstverständlich quillt Orwells Formel Krieg = Frieden aus den Propagandamaschinen. Wo der Angreifer beteuert, er habe künftige Kriegsgefahr vom Mutterland abwenden müssen, dürfen die Verteidiger des unter den Soldatenstiefeln dahingegangenen Friedens nicht zu­rückstehen. Friede ihren Halbwahrheiten! Ein Regionalkrieg, in dem sich zwei Nachfolgestaaten der Sowjetunion, beherrscht von postsowjetischen Cliquen, die… einander so unähnlich nicht sind, um das russische Erbe bal­gen, enthemmt die Gemüter von London bis Warschau. Neunzigjährige wollen dabei sein, koste es, was es wolle. Sie haben Covid überlebt, was kümmert sie die Atombombe! Schon werden eiligst durchgeführte Umfragen, die den fehlenden Wehrwillen der Bevölkerung melden, zum publizisti­schen Ärgernis: So nicht! Wie dann?

Kriege erkennt man an den geschätzten Verwüstungen wie die Superreichen an ihren geschätzten Vermögen. Damit soll kein Zusammenhang konstruiert werden, der bloß in die Irre ginge. Aber am Zahltag sind es doch allein Gelder, die zählen. Wen kümmern die Toten, wen kümmern die Kriegsgräber, denen man hierzulande neuerdings den Blumenschmuck zu verweigern beginnt? In den Bilanzen, die zählen, tauchen sie nirgends auf. In jener famosen Zwischenkriegszeit, die jetzt, wie es heißt, unwiderruflich zu Ende gegangen ist, hat die Welt Kriege kennengelernt, nach denen die heimgesuchten Staaten sich kaum mehr der Mühe unterzogen, ihre Toten zu zählen, sofern es denn ein Danach gab. Ob abgearbeiteter Youth Bulge oder einfache Massentötung, die Weltgemeinschaft fragt ungern und wer nicht fragt, bekommt keine Antworten. Dagegen sind Verwüstungen aus einem anderen Stoff. Aus ihnen leiten sich die Aufbauprogramme ab und aus diesen wiederum die Verträge, die gar nicht früh genug unter Dach und Fach gebracht werden können.

3.

Im allgemeinen ist es dem Krieg gleichgültig, wer angefangen hat. Was zählt, ist die Antwort auf die Frage, wer wem zum Schluss seine Bedingungen diktiert. Auch die Schuldfrage wird bei dieser Gelegenheit geklärt. Das Gesamtpaket nennt die Gemeinsprache ›Sieg‹. Nicht umsonst lautet der Ausdruck: ›den Sieg davon­tragen‹. Rückblickend und auf längere Sicht betrachtet, sind es selten die Sieger, die ihn davontragen. An dieser Hürde gerät man leicht ins Morali­sieren, deshalb breche ich den Gedankengang ab und wende mich einem anderen zu. Man verzeihe mir, wenn ich den Aggressor, der einen großen Krieg anfängt, Anfänger nenne – schon aus Gründen sprachlicher Sauberkeit, aber auch deswe­gen, weil es in den meisten Fällen stimmt. Er weiß nicht, worauf er sich einlässt und dabei ist er sich sicher, er hat alles im Griff. Das nenne ich die Definition eines Anfängers.

Kleine Erinnerung am Rande: Es soll Staaten geben, die kaufen ihre Anführer beim Gegner ein, weil sie ihn irrtüm­lich für besiegt halten. Solche Staaten entfesseln dann, oft ohne es zu merken, einen Krieg gegen sich selbst. Am stilvollsten lassen sich Kriege entfesseln, indem man dem Feind den Vortritt lässt, ihm gleichsam das ius primi iactus einräumt. Der Schlachtruf »Der hat angefangen!« schweißt die Parteien nicht nur auf dem Schulhof zusammen. Wer sich ihm entzieht, etwa dadurch, dass er die Geschichte etwas anders erzählt, der hat selten etwas zu lachen. Je mehr die Gemeinschaft zusammenrückt, desto einsamer wird es um den Einzel­nen. Allerdings lässt sich diese Regel, so vertraut sie den Menschen vorkommt, nicht wissenschaftlich verifizieren. Überhaupt ist Gemeinschaft kein wissenschaftlicher Terminus, Brutvögel wis­sen ein Lied davon zu singen, wenn sie die Brut über Bord werfen.

Gemeinschaft wird definiert durch das Gemeinschaftsempfinden, von dem man annimmt, dass es in allen Gliedern der Gemeinschaft zu finden sei. Das ist eine kühne Hypothese, durch nichts gerechtfertigt als durch das Gefühl selbst, das dem Einzelnen sagt: »Ja, so ist es.« Mein Nachbar macht sich darüber seine eigenen Gedanken. Er hält die Welt für verrückt, wodurch die Konturen der Gemeinschaft stärker hervorträten, als dies gemeinhin der Fall wäre. Die Gemeinschaft, wie er sie versteht, ist die der Nicht-Verrückten, also all derer, die an ihrem Platz blieben, als der große Ruck das Land, nein, alle Länder seines Gesichtskreises zerriss. Man könnte, folgt man seinen Gedankengängen, Gemeinschaft als ›Gemeinschaft der Zurückgeblie­benen‹ definieren. Allerdings zieht man damit Zäune hoch, von denen behauptet wird, dass niemand sie will. Bekannt­lich schätzen Zurückgebliebene es nicht, als zurückgeblieben tituliert zu werden.

4.

Sind die ersten fünf Minuten Lesezeit vorbei und nur noch die Intensivleser an Bord, spricht es sich freier. Eindeutig profitiert stets die andere Seite, wer immer das sein mag, von den Zweideutigkeiten der Sprache, die sich Späße wie den erwähnten an allen Ecken und Enden erlaubt. In der Regel sind es die Ver-rückten, die, bildlich gesprochen, mit Feuer und Schwert – und den Mitteln der Bürokratie, falls sie die Macht dazu besitzen – gegen die Unzuverlässigkeit der Sprache ankämpfen. In diesem Fall allerdings, dem Kriegsfall, sind sie ein Herz und eine Seele mit der Gemeinsprache. Sie spricht ihnen, so wie es aussieht, geradewegs aus der Seele. Woraus sich erkennen lässt, dass auch die Verrückten im Herzen eine Gemeinschaft bilden, eine verschworene sogar, da sie nun einmal – an was sonst würde man ihre Verrücktheit erkennen? – geschworen haben, das Antlitz der Erde über kurz oder lang von den notorisch Zurückbleibenden zu säubern. Das klingt hart, aber es kommt den Tatsachen ziemlich nahe. Nun, wer den Schlüssel zur Zukunft besitzt und sich sicher ist, dass er sperrt, der spielt auch ḿit dem Gedanken, die anderen, die notorisch Nicht-Progressiven, die Zurückbleibenden auszusperren – wenn schon nicht aus der Zukunft, so doch aus den Entscheidungsprozessen, die ihrer Heraufführung vorangehen müssen. Das kann zur Not auch ein Verfassungsgericht leisten. Mehr hingegen kann und soll eine Sprachpolitik bewirken, mit der man, am besten ein für allemal, der anderen Seite den Mund verschließt. Der anderen Seite… Die Inhaber der Zukunft haben, wie jedermann weiß, ihren Eid nicht auf die Bibel geleistet. Aber eine Art biblischen Feu­ers eignet ihnen schon. Sie besitzen ihre Propheten und Evangelisten, ganz nach Art der Bibelgläu­bigen, und man kann sagen, sie legen sich gegenseitig die Worte in den Mund, auf dass sie einan­der erkennen bis ans Ende der Tage. Dieses Ende … ich werde darauf zurückkommen.

Fürs erste sei der progressive Überzeugungssatz festgehalten: Das Treiben der Zurückgebliebenen muss ein Ende haben, soll das Ende nicht fürchterlich werden. Die Welt hat viele solcher Endbesessener gesehen. Sie kennt den Abgrund an Problemen, die sich mit dieser Verrücktheit auftun: als erstes das Theorie-Praxis-Problem, eines der unlösbarsten überhaupt, als zweites das Problem der Fraktionierung, das sich dem unterschiedlichen Zeitempfinden der Menschen verdankt. Junge Menschen haben be­kanntlich wenig, ältere Menschen hingegen viel Zeit. Die einen wollen keine Zeit verlieren, die an­deren haben keine zu verlieren. Paradoxerweise verlieren diejenigen Zeit, die keine verlieren wol­len, während diejenigen, die keine zu verlieren haben, sich aufs Trödeln verlegen und deshalb gene­rell im Verdacht stehen, heimlich oder offen mit den Zurückgebliebenen zu paktieren, sofern sie nicht überhaupt zu ihnen gehören. Doch auch unter Jüngeren wächst die Skepsis nach.

Das führt unverzüglich zu Problem Nummer drei: Die Kluft zwischen Selbst- und Fremdzuschrei­bung oder ‑verortung, wie sie auch gern genannt wird, treibt nicht nur ausgewiesene Gegner gegen­einander. Sie entzweit auch notwendig diejenigen, die sich gern so verstehen möchten, als zögen sie gemeinsam an einem Strang. Da der gemeinsame Strang aller, wie gesagt, Interpretationssache ist, sich also niemand ganz sicher sein kann, mit dem Streitgenossen von nebenan am gleichen Strang zu ziehen, ist es nur eine Frage von Zeit und Gelegenheit, wann Misstrauen über die wahren Mo­tive des Mitstreiters aufkommt und die werte Gemeinsamkeit langsam zerbröckelt oder, womöglich aus Anlass ei­nes einzigen Tweets, von jetzt auf gleich auseinanderbricht. Sehr schön hat man das in der späten Regierungszeit der Dame erleben dürfen, als die verfügbare Zeit generell knapp zu werden begann und alle paar Monate ein neues Weltrettungspaket durch die Köpfe gejagt wurde. Da zeigte sich die wahre Gefolgschaft der Unerbittlichen, während rings um sie immer neue Fraktionen abbröckelten und in die mentale Reserve verschwanden, sofern sie nicht gleich die Seite wechselten und leise oder laut zum Widerstand aufriefen. Woran sich bis heute wenig geändert hat.

Ein Paradox dieser Zeit wird vermutlich länger in Erinnerung bleiben. Offenbar tritt das Mehrheitsbewusstsein der un­erbittlichen Gefolgsleute umso stärker in den Vordergrund, je mehr Leute ihm die Gefolgschaft verweigern. Daraus ließe sich schließen, dass Mehrheitsbewusstsein sich generell dem Totstellreflex einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Mitmenschen verdankt. Beweisen lässt sich so etwas nicht, doch schon die Behauptung lichtet den Horizont. Übrigens gilt der Befund für beide Seiten. So zurückgeblieben sind die Zurückgebliebe­nen nicht, dass sie sich zu fein wähnten für die Spiele der Unvernunft, die sich bekanntlich in alle menschlichen Angelegenheiten drängelt, als gelte es angestammte Rechte zu verteidigen. An­ders als bei den Unerbittlichen machen sich unter ihnen bei jedem Sezessionsschnitt Vereinsa­mungsgefühle breit. Was zeigt, dass gegen die Mehrheit Geltung schwer zu behaupten ist, selbst in der eigenen Herzenskammer, wo es dunkel und warm zugeht. Wenn der alte Freund auf die andere Seite wechselt… warum es verschweigen? Wer gerade wieder so einen Fall er­lebt, der weiß, wovon ich hier rede. Angenommen, es handelt sich um den letzten Schulfreund und damit um den letzten Kontakt, der in den Abgrund jener fernen Vergangenheit hin­einreicht, in der die Welt noch neu war, dann kriecht die Vereinsamungsempfindung aus ganz ungeahnter Richtung in dir empor und du stehst vor der ewigen, wenngleich etwas dümmlichen Frage: Er oder ich? Warum ich? Warum er? Was geschieht hier eigentlich?

5.

Um auf den Krieg zurückzukommen, der vielleicht noch kein Weltkrieg ist, obwohl das Zeug dazu in ihm steckt, so dass künftige Historiker das, was wir gerade erleben, als Aufwärmphase bezeich­nen werden, während es ebenso gut möglich ist, dass er schon in naher Zukunft sich als Rohrkrepierer er­weist und with a whimper, not a bang zu Ende geht, – um auf diesen etwas unklaren Krieg in unse­rer Nachbarschaft zurückzukommen, in den sich ›der Westen‹ vielleicht nicht zwingend zu seinem Vorteil einmischt, so lässt sich gut erkennen, dass die Gründe der Ver-rückten, sich zu zerlegen, mit denen der Zurückgebliebenen rein gar nichts gemein haben. Für die Verrückten gilt nur eines: Ist der Schuldige einer von uns? Ist er ein Unerbittlicher? Dann ist er unschuldig und ein Feind unserer Feinde. Ist er aber – horribile dictu! – einer von denen, dann ist er dreimal schuldig und soll in der Hölle unserer kollektiven Verdammungen schmoren. Ein Philosoph würde das die essenzialistische Position nennen, ein bisschen Gesinnungszauber, Solidarität genannt, ein­gerechnet, wie es sich eben gehört.

Die Zurückgebliebenen hingegen … ach diese Zurückgebliebenen! Manche von ihnen appellieren ans Gedächtnis der Mitwelt, sie beharren darauf, dass zu jeder Geschichte eine Ur- und Vorge­schichte gehört, sie wollen nicht zugeben, dass Schuld eine einfache Sache ist – einer trägt sie und basta! –, sie wollen … sie wollen … was wollen sie eigentlich? Die Mehrheit aber, sie ist vollauf mit der Suche nach der gefühlten Mehrheit ausgelastet und passt sich ihr im Gleichschritt an. Keiner soll, wenn es nach ihnen geht, zurückbleiben, kein einziger au­ßer den Verrätern, den Abtrünnigen, den Feinden der Freiheit, den Feinden unserer Lebensart, unserer Esskultur und, nebenbei, unserer Rüstungsindustrie, denn man will doch, bei allen Bedrohtheitsgefühlen, ein biss­chen profitieren und nicht den ganzen Reibach den Verbündeten da draußen und drüben überlassen.

So sieht es aus. Vielmehr: So schnell ist einer draußen. Zwar täuscht sich die Eiferfraktion der Zurückgebliebenen, wenn sie glaubt, sie gehöre jetzt auch dazu, was immer das heißen mag. Die Hoheiten des Zeitgeistes sind nicht so leicht zu überlisten. Einmal draußen, immer draußen, so lautet das eherne Gesetz der Inklusion. Wenn eine Außenminis­terin, aus blankem Versehen oder aus blanker Absicht, versichert, wir führten Krieg gegen Russ­land, wo wir doch nur der Ukraine Hilfe zur Selbsthilfe leisten, dann überlistet sie damit die Über­lister, die sich die Gelegenheit, ihr wütend zu widersprechen, nicht entgehen lassen können, während man die wahren Unbeugsamen daran erkennt, dass sie selbst in einem so prekären Fall keine Lippe bewegen. Das sind Elemente einer genialen Politik, deren Ratio sich dem Normalbürger nicht erschließt. Der Normalbürger, heißt das, bleibt selbst dann zurück, wenn die Zurückgebliebenen an die Spitze des Zuges hetzen. Er hat nichts zu sagen, er hätte etwas zu sagen, das macht einen großen Unterschied, viele sagen, den entscheidenden.

6.

Die Figur des Normalbürgers sei hier unter anderem deshalb eingeführt, weil ich Spuren davon in mir selbst entdecke, die ich ungern verleugnen möchte. Ich weiß, ich weiß, sie ist Fiktion. Kein Mensch auf diesem Planeten ist normal (und einen anderen kennen wir nicht). Es gibt jedoch Fiktionen, die überlebensnotwendig ge­nannt werden dürfen, und Normalität scheint eine davon zu sein. Es ist normal, mit seinem Urteil zu zögern, es ist normal, unschlüssig auf einer Schwelle zu verweilen, die ein anderer überquert, ohne sie überhaupt zu bemerken, es ist normal, Informationen zu sammeln, bevor man mit Wahrheiten um sich wirft, es ist normal, die entfernte Möglichkeit einzuräumen, dass man sich täuscht … es ist normal, aber es geschieht nirgends, es sei denn als Ausrutscher, als etwas, dessen der Mehrheitsmensch sich schämt, sobald er sieht, was er damit angerichtet hat. Man hat sich, und sei es nur kurzfristig, aus dem Verkehr ge­nommen. Und das ist das größte Verbrechen u.Z. Sie fragen mich, was u.Z. bedeutet? Nun, es be­deutet – gelernte DDRler werden an dieser Stelle zu schmunzeln beginnen –: unsere Zeit. Unsere Zeit duldet keinen Aufschub. Schließlich ist sie unsere Zeit und nicht Ihre oder meine. Unsere Zeit gehört den Verrückten.

Die russische Regierung hat den Einmarsch, soll heißen ihren Krieg, als administrative Maßnahme bezeichnet. Das legt die Messlatte für den förmlichen Kriegseintritt hoch, sehr hoch sogar. Ist das Liefern von Waffen und die Ausbildung daran zum Zweck der Verteidigung in einem Eroberungs­krieg eine Maßnahme oder – wie die Außenministerin wider den tierischen Ernst anzudeuten be­liebte, ohne dafür vom Parlament befugt worden zu sein – eine Kriegshandlung? Mag sein, sie ha­ben sich beide geirrt, die Außenministerin und die russische Regierung. Was folgt daraus? Nichts weiter als … eine Politik der freien Hand, die keinerlei juristisches Regelwerk kümmert, wie es sich nun einmal um definierte Zustände rankt. Die Außenministerin mag eine feurige sein, aber sie ist keine Draufgängerin und sie hat nur den Geist zum Ausdruck bringen wollen, der ihrem Empfinden nach den Kreis der Freunde beseelt. Das ist ihr, wie rasch zu sehen war, auch gelungen. Die besseren Freunde hielten sich bedeckt und die trüberen höhnten hinter vorgehaltener Hand. Der Krieg, ließ sich daraus folgern, befindet sich im Stadium der Ausdruckskunst und Salome tanzt. Nicht jedem schmeckt die Darbietung, doch es fällt schwer, den Blick von ihrem Anblick zu lösen.

Während diplomatische Usancen explodieren, ohne dass jemand anzugeben vermag, wie das geschehen konnte, wird weiter östlich gestorben, die jungen Leute purzeln nur so in die Gräber, und die Zahl der zivilen Opfer klettert von Tag zu Tag in bekla­genswertere Höhen. Man sieht solchen Menschen wie du und ich nicht an, dass sie tot sind. Das zu erklären ist ein­fach, denn man sieht diese Menschen nicht. Die Welt hat sie nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn gespro­chen, sie sind, wie die Dinge nun einmal stehen, Datenmaterial für Auswerter … eine bemerkens­werte Vokabel, die klar zum Ausdruck bringt, dass in all diesen Fällen der Wert des Menschen auf Null gefallen ist: Es ist aus mit ihnen und damit stellt sich die Situation neu. Natürlich ist jeder Tote zu­viel, aber… strahlt die Studiomoderatorin den zugeschalteten General der Reserve an, berührt von der Aussicht, bald über Kindersoldaten am Dnepr berichten zu dürfen, doch der General holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück: Soweit geht man in Europa nicht. Bei der Gelegenheit erfährt der Zuschauer, dass mittlerweile die Siebzehnjährigen im Visier der Behörden angekommen sind. Menschliches Schlachtvieh wird im heutigen Europa schnell rar. Elaborierte Waffensysteme sollen es richten. Ihre Aufgabe besteht, wie bekannt, in der Vernichtung von noch mehr Menschenmaterial in noch kürzerer Zeit.

Man sieht die Gestorbenen nicht. Dass man sie nicht sehen will, steht auf einem anderen Blatt. Schon dass man sie Getötete nennt, ruft den Unmut der Sensiblen hervor. Was willst du damit sa­gen? Wir wissen, was du damit sagen willst. Du bist einer von denen, das ist es, was du damit sagst. Der letzte Rausch des Westens besteht in sensibler Sprache und bedeutet das glatte Gegenteil von Sensibilität. Wer immer die Sprache in ihrer natürlichen Ordnung benützt, statt sich der medial ver­abreichten Worthülsen zu bedienen, macht sich verdächtig. Nein, so ist es nicht … ein Wort wie verdächtig stammt aus einer Epoche, in der zwischen Verdacht und Überführung unterschieden wurde, zumindest verbal, denn in gewissen Fällen reichte es schon immer, unter Verdacht zu stehen. Wenn Verdacht und Gewissheit ineins gesetzt werden, regen sich die Geister der bösen Vergangenheit samt ihrer übergroßen Verwandtschaft, sie regen sich sacht, als kitzelte Morgenröte ihr fahles Gebein … auch diese Schläfer merken, sie sind nicht gemeint, die Welt ist scharf auf neue Protagonis­ten, aber sie lächeln… Wenn Ungeheuer lächeln, ist das keine frohe Botschaft.

Man geht über Leichen. Wer ist ›man‹? Ich habe die Frage meinem Nachbarn vorgelegt, dem mit dem Einsamkeitstick, und er hat mit den Schultern gezuckt: Jeder. Wer ist jeder? Alle, ausgenommen man selbst. Zwischen man und man selbst klafft die berühmte Wahrnehmungslücke. Sie ist kein Er­kennungsmerkmal u.Z., sie gehört zur Gesellschaft wie der Grips zum Apfel, sie erinnert daran, dass Gemeinschaft vor allem Beäugungsgemeinschaft bedeutet. Man kennt sich, man beäugt sich, man kennt einander, und zwar, wie es sich gehört, wechselseitig. Der Einzelne müsste schon die Seiten wechseln, um sich so kennenzulernen, wie ihn die anderen kennen. Nützen würde es ihm nichts. Schließlich brächte er sich mit – und damit jene verdrehte Perspektive, die er loswerden möch­te. Perspektivismus ist schön, aber er ist nicht alles. Will sagen: Er hat auch unschöne Seiten. Hoppla, wir leben noch, schrieb der Dichter, er schrieb es zu Lebzeiten, das ist der Kernsatz aller Perspektive. Die sich entronnen wähnen, schreiben Geschichte. Die sich unbetroffen wähnen, schreiben Zeitgeschichte.

7.

Leichen, die niemand sieht … ihretwegen muss niemand in die Ukraine reisen. Wir, sagen die Sta­tistiker – eine dumme Angewohnheit, mit der sie womöglich die Benommenheit angesichts ihrer horrenden Zahlenwelt abschütteln möchten –, wir haben eine wachsende Übersterblichkeit und niemand weiß zu sagen, woher sie stammt, außer denen natürlich, die recht genau wissen, in welche Schublade sie greifen müssen. Wir kennen nur Korrelationen, das liegt an der Art unserer Tätigkeit, die keine andere Relationsart zulässt. – Es gibt nur Korrelationen, tönen Politik und Medien im Verbund, also nichts Gewisses – sie haben wieder eine Vokabel gelernt und sie klingt wie ›Spekulation‹. Alles nur Spekulation, so klingt es am Ende der stillen Post, die Wissenschaft und Informationswelt miteinander verbindet. Von dort ist es bloß ein kleiner Schritt für den Einzelnen, ein umso größerer für die Menschheit, keinen Zusammenhang zwi­schen Impf- und Todeszahlen zu akzeptieren, jedenfalls nicht im aktuellen, dem Covid-19-Fall – wer anderes weiß oder zu wissen behauptet oder Gewusstes oder Behauptetes unter die Leute bringt, der macht sich, ach Sie wissen es schon, der Sünde schuldig, der Sünde wieder den Geist der Gemeinschaft, die mit Medienverschiss, Abteilung ›seltene Fälle‹, nicht unter Lebenslänglich geahndet wird.

Die Sünde wider den Heiligen Geist hat, historisch gesehen, viele Stadien durchlaufen. Der ›heilige‹ Eifer der fortschreitend Fortgeschrittenen ist eine praktische Instanz, die heute diese, morgen jene Köpfe zum Glühen bringt, gelegent­lich auch zur Weißglut, denn er ist Proselytismus, Bekehrtentum, das sich unter stets neuem Banner der Welt zu bemäch­tigen sucht. Der heilige Eifer ist der Geist, der die Gemeinschaft, den Zugvögeln vergleichbar, zum Aufbruch drängt. Die Verrückten, wie sie, etwas unvorsichtig nach meinem Geschmack, der Nachbar nennt, nenne ich daher die Aufbrechenden, die im-Aufbruch-Befindlichen, denen nichts weiter abgeht als der konkrete, im Arsenal der gesell­schaftlichen Möglichkeiten nicht verfügbare Aufbruch. Das zu begreifen braucht es nicht viel.

Was stutzig macht: Die ›großen Visionäre‹ werden stets erst im Nachgang sichtbar. Wäre die Entwicklung anders verlau­fen, stünden andere Namen an ihrer Stelle, Namen von Leuten, die anderes verkündeten. So ist das Leben. In ausdifferenzierten Gesellschaften besteht kein Mangel an Visionären und die Visionen rauschen in alle Himmelsrich­tungen. Kein Horizont-Fitzelchen bleibt da unbesetzt. Propagandisten versuchen der Mitwelt einzu­reden, die richtige Gesellschaft folge ihren Visionären und werde dafür von der Geschichte belohnt wie … wie das zierliche Kätzchen, das die erbeutete Maus brav auf dem Küchentisch deponiert, statt sie tierisch hinunterzuschlingen. Visionäre, behaupten sie, kann man an ihren Früchten erkennen. Eingefleischte Realisten dagegen behaupten, ihre Früchtchen zu kennen, und winken ab. Zwischen beiden Auffassungen liegen Welten, erforschte wie unerforschte. Es ist nicht wahr, dass diese oder jene Welt uns alle umfasst. Dennoch – es gibt sie, die eine Welt, in der alle miteinander auskommen müssen. Man muss nur weit genug gehen, dann lernt man sie kennen.

Die ›großen Visionäre‹ sind Zerrbildner. Sie verkürzen und übertreiben die Tendenzen zum Guten oder Bösen, die in jeder Gegenwart liegen, bis sich daraus nichts weiter herleiten lässt außer Zu­kunft, das heißt ein deutbares Nichts. Natürlich wissen diese Verbal-Designer, dass zwischen Utopie und Dystopie bloß ein Strich liegt – ein Gedankenstrich, der ein Oben und ein Unten in die Land­schaft zaubert, ein linkes und ein rechtes Nichts, eine leere Differenz, also etwas, das der Geschichte im Allge­meinen völlig unbekannt ist. Ein Gedankenstrich ist wie ein Schalter: die permanente Aufforderung ans Aktivisten-Gemüt, ihn umzulegen und damit eine neue Welt hervorzuzaubern. Machtmenschen wissen, dass die wahren Schalter anderswo liegen und keinerlei Vakuum um sich dulden. Es ist die Entscheidungsdichte, die den großen Fluss in Gang hält. Die Menschen aber lieben die einfachen symbolischen Gesten, weil sie ihnen erlauben, ihre Geschichte zu erzählen, während der Nachbar – pardon! – eine ganz andere an seinem Aufhänger tanzen lässt.

8.

Politische Urteile beruhen auf Intuition. Man lernt viel über Politik beim Anblick eines apportieren­den Hündchens: das Umtänzeln der gebenden Hand, das Losrasen ungefähr in die Richtung, in die das Stöckchen geschleudert wurde, das Langsamerwerden, das Schnuppern, das verlegene Rückwärts-Äugen, die eilfertigen Bewegungen ohne rechtes Ziel, das Wenden und Wit­tern und Wedeln und schließlich Spurt und Sieg, dann Heimkehr zum Herrchen mit stolz erhobener Rute … – all das ließ sich anlässlich der vom Großen Bruder beschlossenen Sanktionspolitik gegenüber dem Erzbösewicht Russland einmal mehr in Reinkul­tur beobachten. Manches schlichte Gemüt labt sich noch heute am Gedanken daran. Sank­tionen, so die allgemeine Vorstellung, sollen den Gegner in die Knie zwingen. Man muss also war­ten … warten, bis jemand in die Knie geht, um mit Sicherheit zu erfahren, wem sie gegolten haben und warum sie verhängt wurden. Leider sind sie bis dahin in der Regel vergessen. Die hohe Kunst der Sanktionierung besteht darin, den anderen unter dem Vorwand, einen Dritten zu sanktionieren, sich selbst sanktionieren zu lassen. Unter befreundeten Staaten erfreut sich diese Methode großer Beliebtheit. Den Deutschen zum Beispiel blieb gar nichts anderes übrig, als zur symbolischen Welt­klimarettung überzugehen, bloß um ihrem selbstverschuldeten Öl- und Gasdebakel in den Augen der Welt – und der eigenen Bevölkerung – einen guten Sinn unterzuschieben. Nie wieder Öl, nie wieder Gas!

9.

Das Nie wieder! hat einen guten Klang, hierzulande zumindest, wo die Nachkriegs-Parole Nie wie­der Krieg! noch durchs nächtliche Gemüt geistert, wenn draußen ein verirrter Mitternachtsböller losgeht. Ob die grüne Ideologie davon profitiert, wird sich weisen, wenn die Winter wieder kälter werden und die Heizrechnungen mit den Einkommen kollidieren. Man weiß es nicht. Vielleicht heißt die Parole in ein paar Jahren NIE WIEDER GRÜNE POLITIK! Der Deutsche neigt zu sol­chen Eruptionen, wenn er, wie es blumig heißt, die Schnauze voll hat und das Lokal zu wechseln wünscht. Wenn über der Sanktionspolitik in ehernen Lettern stehen könnte, WIR WISSEN NOCH NICHT, OB SIE SCHÄDLICH IST, so steht über der Kriegspolitik WIR WISSEN, DASS SIE SCHÄDLICH IST, NUR WEM SIE AM MEISTEN SCHADET, DAS WISSEN WIR NOCH NICHT. Und was man noch nicht weiß, das möchte man gern herausbekommen, nicht wahr? Zu­mindest dann, wenn man über die Mittel dazu verfügt. Es könnte ja sein, dass sie einem selbst scha­det, und das herauszubekommen wird kein Einsatz gescheut. Anders jedenfalls ist die seltsame Politik des Westens nicht zu erklären. Gewiss, es gilt auch für Putin, der genug zu wissen scheint und das Experiment offenbar bereits abzublasen bereit war. Aber Krieg ist nun einmal kein Experi­ment, es sei denn, man hält gerade die unwiderruflichen Handlungen für Experimente und ihre mit Blut geschriebenen Ergebnisse für Forschungsergebnisse, gewonnen am offenen Menschheitskör­per, mit immergleicher Brutalität.

Überrascht beziehungsweise geplättet von der brachialen Vehemenz, mit welcher aus diesem so feinfühlig den Nuancen ›belasteter‹ Sprache nachgehenden Volkskörper der ›Hass auf Putin‹ her­vorbrach, fragt man sich schon, welche seelische Dynamik dabei zum Vorschein kommt. Vieles war und ist einfach Propaganda, inszenierte Empörung über Dinge, die immer dann mit Schweigen oder Zustimmung be­dacht werden, sobald sich die Vormacht des Westens ihrer naturrechtlichen Prärogative bedient, souverän über Krieg und Frieden zu entscheiden – ein Recht, das sie bekanntlich allen anderen Staaten des Globus abspricht. Doch es ist nicht zu übersehen, dass die Inszenierung ankam … zu­erst bei den Parteien, deren Rhetorik von einem Tag zum anderen umschlug wie ein rundum mit Pe­ace-Stickern vollgepflasterter Kahn im Sturm, aber dann… Wer die Mechanik der politischen Sprachregelungen ein wenig kennt, der weiß, dass solche plötzlichen Umschläge monatelanger Vor­bereitung bedürfen. Man war also gut präpariert in diesen Konflikt gegangen. Die Medien, covidbe­handelt, befanden sich im Boot, selbst das Gros der bisher als alternativ gehandelten Meinungsbildner entdeckte spontan seine antirussische Seele, es erzählte dem Publikum, was es ihm vorher verschwiegen hatte und nun in einem Rutsch loswerden musste. In tyrannos!

Bei diesem Trommelfeuer bleibt ein Muster stets unverkennbar: Das ausgesprochene, überdies auf der Hand liegende Motiv darf nicht das wahre sein, um keinen Preis, unter keiner Bedingung. Lä­cherlich! scholl es einst den paar redlichen Seelen entgegen, welche hierzulande die Binsenweisheit auszusprechen wagten, dass es den USA bei ihren kriegerischen Verwicklungen in Nahen Osten ums Öl, Öl, Öl ging, mochten Amerikas Strategen so offen darüber reden, wie sie nur wollten. In der Frage von Krieg und Frieden lässt Deutschland nur ein Motiv gelten: Krieg dem Faschismus! Oder, wie ein grüner Außenminister in der Causa Kosovo wiederholte: Nie wieder Auschwitz! Es kupfert damit die amerikanische Politiksprache ab, die lieber beim Gegner Massenvernichtungswaffen erfindet, um einen offiziellen Kriegsgrund vorzuweisen, als dass sie sich ›bei den Tatsachen‹ auf­hielte, auch wenn die Spatzen sie von den Dächern pfeifen.

Allein die Deutschen meinen das nicht offiziell, sondern im Ernst, genauer gesagt, ein bisschen ernster als ihre transatlantischen Freunde. Die Mainstream-Medien, darin Kost‑ und Blindgänger amerikanischer Polit-Shows, wiederholen es bis zum Erbre­chen und der Bürger, statt zu erbrechen, glaubt. So musste auch Putin erst peu à peu in eine Art Hit­ler-Stalin-Gesamt-Double verwandelt werden, bevor man dem Bürger den ersten Krieg in Europa seit achtzig Jahren zu verstehen erlaubte – eine verwirrende Formel für jeden, der den Jugoslawien-Krieg sehenden Auges miterlebt hatte, von Putins früheren militärischen Rochaden ganz abgesehen. Es war die massengängige Weise, Unerhört! zu sagen, denn unerhört war es in der Tat, dass diesmal Russland, wie zuletzt in der Tschechoslowakei ’68 gesehen, und nicht Amerika in seinen Vorgar­ten einbrach, um strategische Interessen zu wahren, sprich: die Nato vor dem Erreichen seiner West­grenze zu stoppen.

Man hatte den Krieg lange verschoben und nun war er da. Die Russen spielten mit offenen Karten: Sie wollten einen Regime Change in Kiew erreichen, nicht anders als vorher die USA in Afghanistan, im Irak, in Syrien und nicht zuletzt in der Ukraine selbst. Sie wollten ihn jetzt, nach jahrelangem Bürgerkrieg im Ostteil des Landes, weil die ukrainische Führung unverhohlen in die Nato drängte und der Biden-Westen ihr nach längerem Zögern weit entgegenkam. Sie hatten auf Verhandlungen gedrängt und die Nationalisten von Kiew hatten ihnen die kalte Schulter gezeigt. Der Februar-Krieg war ein Krieg mit Ansage, ein klarer Wenn-Dann-Krieg, und niemand besaß das Recht, überrascht zu sein.

Ob es klug ist, Wenn-Dann-Kriege zu führen, steht auf einem anderen Blatt. Eine Ausnah­memacht wie die USA kann sie aus der Position absoluter Überlegenheit führen, aber wie der Viet­nam- und in gewisser Weise auch der Afghanistankrieg gezeigt hat, bedeutet selbst das keine Er­folgsgarantie. Im Krieg gibt es nichts Absolutes außer dem Tod. Der Wahn totaler Überlegenheit, sollte die russische Führung ihm bei der Planung ihrer ›Maßnahme‹ erlegen sein, verflog mit den ersten Tagen des Feldzugs und leicht verblüfft ergötzte die Welt sich am Anblick einer vor der Hauptstadt des Brudervolkes in der Falle steckenden Invasionsarmee. Aber es war weniger die russische Armee, die da in der Falle steckte, als vielmehr der Kriegsherr persönlich. Er hatte sich verkalkuliert. Dumm nur: Wenn es so war, dann hat es sich so oder so durch den weiteren Kriegsverlauf erledigt.

10.

Manches an den antirussischen Kapriolen deutscher Zwitscherkönige erinnert an die aus Anlass des als ›Boxeraufstand‹ titulierten europäischen Interventionskriegs in China 1900 gehaltene ›Hunnenre­de‹ Wilhelms II. – zwar nicht dem genauen Wortlaut, wohl aber der ›Haltung‹ nach, die vor allem eines zum Aus­druck bringt: ein überbordendes Bewusstsein moralischer Überlegenheit im Vertrauen darauf, der mächtigsten Militärgemeinschaft der Welt anzugehören, gegen die Widerstand nicht nur zwecklos, sondern ungehörig erscheint. Diese Rede hat den Deutschen sehr geschadet, obwohl sie im interna­tionalen Kolonialstil gehalten war. Das Gedächtnis der Nationen ist lang und es pflegt hervorzukra­men, was immer ihnen gerade nützlich erscheint.

Heute mögen die Deutschen beteuern, keine Nation mehr zu sein, zumindest keine mehr sein zu wollen. Die Frage ist, ob man es ihnen abnimmt. Sie nehmen es sich selbst ja nicht ab. Tatsächlich stellt ein im Westen von den USA, im Osten von der ›siegreichen Sowjetunion‹ kolonialisiertes und vierzig Jahre lang besetzt gehaltenes Land, das sich kurz zuvor noch zu den großen Mächten der Welt zählen durfte, ein psychisches Unikum dar, das besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Nicht etwa, dass es keine Aufmerksamkeit bekäme – sie beschränkt sich aber, jedenfalls ›weitgehend‹, auf die üblichen Unterstellungen. Diese heutigen Deutschen haben, wie untergründig auch immer, den Verdacht ausgebildet, dass die Geduld des großen Geldes mit Putins Russland zu Ende gehe, Russland so­mit fällig sei, um es in der Sprache der Renditeeintreiber auszudrücken. Das gibt den Machthysterikern unter ihnen das Bewusstsein, weltpolitisch auf der richtigen Seite zu agitieren, nicht anders als dem nationalistischen Polen, welches die heutige Ukraine vor allem als offene Frage zwischen sich und den Russen betrachtet. Ein Teil der deutschen Elite, die sich keinen Nationalis­mus leisten kann, leistet sich einen Fremdnationalismus, der zutiefst befremdet, aber tief blicken lässt.

Natürlich entgeht auch diesen Leuten nicht, dass die ukrainisch-amerikanische Kriegspropaganda die Welt keineswegs unumschränkt beherrscht. Der Wertewesten bleibt unter sich, wie es heißt, und der Rest der Welt schaut mit verschränkten Armen zu. Wie sehr der Wertewesten in der Einschät­zung Russlands unter sich (und seinem Niveau) bleibt, hat die Sprengung der Gas-Pipelines in der Ostsee demonstriert: Mit eisern verschlossenem Mund navigiert eine deutsche Regierung zwischen dem gen Osten weisenden Versorgungsinteresse des Landes und dem Wissen, damit beim großen Verbündeten nicht nur auf Granit zu stoßen, sondern auf der Liste strategischer Wackelkandidaten à la Türkei gelandet zu sein. Eine harsch zur Raison gerufene Regierung hat die ideologisch motivierte Selbst­verstümmelungs-Fraktion gleich mit an Bord, die sich über ihren Krypto-Nationalismus keine Re­chenschaft abzulegen erlaubt und stattdessen im Weltverbesserungs-Blindflug agiert: alles in allem eine Konstel­lation, die haarsträubend zu nennen nicht genug ist, um die Misere vollends auf den Punkt zu brin­gen.

Ein Absturz, gewiss, und einer mit Ansage dazu. Das Gelächter der deutschen UN-Delegation ins Gesicht eines amerikanischen Präsidenten, der damals Donald Trump hieß, als dieser Merkel-Deutschland vor seiner wachsenden Energieabhängigkeit von Russland warnte, dürfte das teuerste Gelächter der deutschen Geschichte gewesen sein. Aber das Thema Trump und die Deutschen bleibt weiterhin ein Tabu. Im Anti-Trump-Eifer wurde der vorhandene Ansatz zu mehr europäischer Selb­ständigkeit auf gut Glück verspielt und die Deutschen können sagen, sie seien in vorderster Linie dabei gewesen. Es tat so gut, nach dem Abgang des Störenfrieds endlich wieder die gleiche transat­lantische Sprache zu sprechen und dabei unter den Tisch fallen zu lassen, um welche Sprache es sich dabei handelt, dass man sich heute im Rausch des Einvernehmens nicht scheut, Russland zum Paria Europas zu erklären, und zwar auf unabsehbare Zeit – kein Fauxpas, sondern gnadenlose Dummheit, erklärbar nur aus der Arroganz einer Techno-Elite, deren historischer Sinn in einer Sei­fenblase Platz findet. Pardon wird nicht gegeben. Die Parole schimmert hindurch, wenn russische Privatleute schikaniert, russische Kultur verhöhnt und von den Spielplänen verdrängt wird oder rus­sische Namen aus dem Straßenbild weichen müssen. Das ist Chauvinismus aus der untersten Schub­lade, verbrämt mit Solidarität für … für wen?

Man bemerkt an solchen Stellen Propagandamaschinen am Werk, deren Primärkundschaft mit der kulturellen Geographie Europas nicht viel am Hut hat, während die Engel-Teufel-Einteilung der Welt ihr unmittelbar ins Gemüt geht. Für Europäer bedeutet die radikale Simplifizierung der eigenen Lebenswelt Entlastung bis zur völligen Infantilisierung der politischen Phantasie. Schon die bloße Übernahme bedeutet Aufnahme in den Stand der weltpolitischen Gnade: Es ist einfach, mit den Guten zu gehen. Man versteht unmittelbar, warum das Modell in Deutsch­land, dem Land, dessen Kanzlerin einst eigenhändig das Fähnchen mit den Nationalfarben vor den Augen der Kame­ras entsorgte und dessen Staatsministerin für Kulturelles nachgesagt wird, in der Ver­gangenheit hinter der Parole Deutschland du mieses Stück Scheiße einhergewandelt zu sein, beson­deren Anklang findet. Historisches Vergessen, so ließe sich schließen, lässt sich durch wider das Vergessen ergriffene Maßnahmen nicht aufhalten. Es instrumentalisiert sie vielmehr wie alles ande­re auch.

Ohnehin hat sich der Umfang des Vergessens wie des Erinnerns im wiedervereinigten Deutschland nicht bloß verdoppelt, sondern kraft einer komplexen inneren Dynamik potenziert. Aus dieser komplizierten Ge­mengelage ist der undifferenzierte und nicht selten irrlichternde Kampf gegen Rechts als der lachende Dritte hervorgegangen. In ihm verbindet sich der schicke Edelmarxismus eines beträchtlichen Teils der ungebrochen fortbestehenden westdeutschen akade­mischen Elite mit dem plakativen Antifaschismus der untergegangenen DDR zu einer gesinnungsei­fernden Tribunalreligion, die historischen Wissens nicht mehr groß bedarf. Naivität, naturgegeben oder mit kommunikationstechnischer Raffinesse ins Werk gesetzt, ist eine Goldader, die nie lange auf ihre Ausbeuter warten muss. Auf nicht wenige Beobachter wirkt das Land, als sei es zur Plünderung durch bürgerferne Interessen freigegeben. Kein Wunder, dass es im Bauch der Gesellschaft rumort.

Propaganda-Russland, wie es staatsnahe Medien zeichnen, ist das zum Erzbösewicht geronnene Truggebilde, das der Kampf gegen rechts augenblicklich in die Köpfe der Medienkonsumenten klopft. Es übernimmt damit in vielem die Rolle des schon entsorgt geglaubten hässlichen Deutschen – für die Deut­schen ebenso wie für die übrige westliche Welt. Wie bei Projektionen üblich verirren sich ein paar Fetzen Wirklichkeit ins Bild und sorgen dafür, dass der deutsche Selbsthass diesmal ein wirklich gutes Gefühl produziert. Fragt man, woher die Fetzen stammen, dann sieht man sich schnell auf die mangelnde Schuldfähigkeit des großen Nato-Partners verwiesen: Amerika befiehl, wir folgen. Das Gedächtnis des Zeitungslesers weiß es ein wenig anders: Nicht Deutschland hat sich, lange vor Beginn der Invasion, Russland als Feind ausgesucht, sondern der ihm durch Ge­schichte und Kultur am nächsten verbundene Nachfolgestaat der Sowjetunion – unter Anleitung solch taffer Figu­ren wie Obamas einstiger Unterstaatssekretärin Victoria Nuland, bekannt geworden durch ihr legen­däres F*ck the EU, als es um die Ehre ging, der Ukraine bei ihrem Selbstfindungsprozess nach den Maidan-Ereignissen 2014 mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Frau Nuland ist, wie man liest, wieder da. Das allein nimmt den Europäern, und in erster Linie den Deutschen, just die Verantwor­tung ab, die sie freudig vor der Geschichte zu tragen behaupten.

11.

Was konnte einer Regierung, die ihre sicherheitspolitische Ohnmacht mit dem Verweis auf den per­fekten Schulterschluss im Bündnis kaschiert, Besseres passieren als das Gekreisch von Hardlinern, die mehr und promptere Gefolgschaft von ihr verlangen? Ja, es macht einen Unterschied, ob eine Elite sich staatstragend präsentiert oder mit dem Staat liiert erscheint. Es ist der gleiche Unterschied wie der zwischen Räsonnement und Anspruchshaltung. Leute, die dem Staat, koste es, was es wolle, Panzer, Panzer und nochmals Panzer aus dem Ärmel leiern wollen, pflegen auch in anderer Hinsicht nicht zur Zurückhaltung zu neigen. Man fragt sich, wer diese Leute sind. Wie es aussieht, gehört ihre Loyalität einem Kontinente überspannenden Club, dessen Mitgliedern es vorbehalten war, die Fördersysteme der Herkunftsländer für ihre diver­sen Karrieren bis zum Anschlag in Anspruch zu nehmen – eine Klasse privilegierter Auftrittskünst­ler, die man einst im Ostblock vermutlich als ›Reisekader‹ bezeichnet hätte, bestens vernetzt und stets gut unterrichtet in Fragen des gerade auf der Tagesordnung stehenden Engagements. Wenn das Gutleben Namen trägt, dann die ihren. Wen wundert’s, wenn sie nur allzu bereit sind, es mit dem guten Leben oder gleich dem Leben der Guten gleichzusetzen?

Kaderpolitik, Kadermedizin, Kaderwissenschaft – wie wenig solche Erscheinungsformen einer ab­geschotteten, auf einem Geflecht von Loyalitäten basierenden ›Gesellschaft der Gesellschaft‹ an einen bestimmten Gesellschaftstypus gebunden sind, wurde dem Publikum durch die Corona-Poli­tik bewusst: die blitzschnelle, von nicht wenigen Kritikern als ›Gleichschaltung‹ bezeichnete Taktung der relevanten Akteure in prak­tisch allen Ländern der Erde – ausgenommen jene wenigen, deren Regierungen sich ausdrücklich davon di­stanzierten und, ge­gen die täglichen Anfeindungen der Weltmedien, ihre eigenen Wege einschlugen. Es war, als hätte jemand sich mit einer chiffrierten Botschaft an die Verständigten aller Länder ge­wandt und sie hät­ten gewusst, was zu tun sei. Nach und nach kommt heraus, wie ungeniert die Einmischung und wie ungleich die wirk­liche Expertise in dieser Community verteilt war und offenbar immer noch ist. Verfügbarkeit und Wis­sen sind nun ein­mal nicht dasselbe. Mitunter behindern sie sich gegenseitig sehr.

Gestern Covid, heute Ukraine, morgen Klima oder die ganze Welt – offensichtlich sind es immer die gleichen Personen und Personengruppen, die verständigt und bereit sind, zweifelsfrei in der Gesell­schaft vorhandenes Wissen zu blockieren, mit dem eine Lage zeit- und ressourcenschonend auf ra­tionale Weise bereinigt werden könnte, möglicherweise allerdings ohne dass dabei jene ›durch die Decke gehenden‹ Mil­liardengewinne anfallen würden, die das Staunen der Welt bilden. Die Nationen, deren Leis­tungsprofil die Verständigten aller Länder ihre Posten und Pöstchen verdanken, hören ja keine Se­kunde lang auf zu existieren, nur weil ein paar tausend Überflieger davon überzeugt sind, sich in ei­ner postnationalen Welt zu bewegen – sie werden nur auf den Status tributpflichtiger Entitäten her­abgedrückt, denen man mit einem breiten Klebepflaster den Mund verschließt, sobald der nächste Fisch­zug ansteht. Auf diesem Klebepflaster stehen immer die gleichen Wörter. Alle kennen sie, alle un­terscheiden scharf zwischen denen, die sie benützen und denen, die sie fürchten.

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