Interview mit Prof. Dr. Peter Brandt von Lucas Scheel und Philipp Sprengel

Seit dem letzten Jahr gibt es eine öffentliche Diskussion um die Entschädigungs­forderungen des Adelsgeschlechts der Hohenzollern, aus welchem der letzte deut­sche Kaiser Wilhelm II entstammte. Das heutige Familienoberhaupt Georg Fried­rich von Preußen fordert vom Bund und dem Land Brandenburg Entschädigungen in Millionenhöhe für die Liegenschaften, welche durch die Sowjetunion nach 1945 enteignet wurden. Rechtlich entscheidend dafür, ob Entschädigungen gezahlt wer­den müssen, ist, ob die Hohenzollernfamilie dem NS-­Regime ›erheblich Vorschub geleistet‹ hat. Zur Beurteilung dieser Frage hatte das Land Brandenburg vier His­toriker mit der Erstellung von Gutachten beauftragt. Diese Gutachten wurden im November 2019 von dem Satiriker Jan Böhmermann im Internet veröffentlicht, wo­durch die Debatte in die Öffentlichkeit getragen wurde. Der emeritierte Professor Dr. Peter Brandt hat eines dieser Gutachten verfasst und vertritt eine klare Position in dieser Debatte. Er leitete von 1989 bis 2014 den Lehr­stuhl für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte der Fernuniversität Hagen. Seine Forschungs­ und Publikationsgebiete sind unter anderem die vergleichende europäische Verfassungsgeschichte, die Geschichte des Staates Preußen sowie die Nationsbildung und Nationalbewegungen. Ende März 2020 durfte die pug [politik und gesellschaft] mit dem SPD­-Mitglied und ältesten Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt ein schriftliches Interview führen, in welchem er die Hintergründe der Debatte näher erläutert und seine Meinung zu den zentralen Fragen der Diskussion darlegt.

pug: Warum sind die Hohenzollern davon überzeugt, dass sie ihre Ansprüche geltend machen können?

Prof. Brandt: Nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands wurde per Bundesge­setz die Möglichkeit geschaffen, auch solche Enteignungen rückgängig zu machen bzw. finanziell zu entschädigen, die 1945-1949, also vor Gründung der DDR, von der sowjetischen Besatzungsmacht vorgenommen worden waren. Insofern steht auch den Hohenzollern das Recht zu, diesbezüglich Ansprüche geltend zu machen.

Sie haben ein von dem Land Brandenburg in Auftrag gegebenes Gutachten geschrieben. Wieso hat man Sie dafür ausgesucht? Wie sah Ihre Arbeit / Recherche aus?

Die Arbeit des Historikers ähnelt hier in mancher Hinsicht der des Detektivs: Er sammelt sine ira et studio alle erreichbaren Indizien und fügt diese vor den Hinter­grund des Forschungsstandes (im engeren wie im weiteren Sinn) zu einem möglichst stimmigen Bild zusammen. Dabei kommt er nicht ohne Hypothesenbildun­gen, und Plausibilitätsannahmen aus; die Überlieferung ist niemals lückenlos und selbstredend. In der Regel startet man mit der Fachliteratur, um sich den aktuellen Forschungsstand anzueignen, erweitert den Blick dann durch Hinzuziehung ge­druckter zeitgenössischer Zeugnisse wie Zeitungen und Memoiren, um schließlich das in den Archiven gesammelte Schriftgut wie staatliche Akten, Briefe u. a., dazu Fotografien, Tondokumente u. ä. zu sichten. So ist es bei der Erstellung meines Gut­achtens ebenfalls geschehen. Der Untersuchungsaufwand hängt von der jeweili­gen Aufgabe und der zur Verfügung stehenden Zeit ab. Ich vermute, dass das Land Brandenburg mich zusammen mit dem Kollegen Stephan Malinowski als Gutach­ter ausgewählt hat, weil ich mit Blick auf meine Forschungen und Publikationen in den vergangenen Jahrzehnten über eine relativ breite Expertise zur (insbesondere deutschen) Geschichte der letzten Jahrhunderte verfüge und mich namentlich mit der Entwicklung des Staates Preußen auskenne, während Malinowski der Spezialist für den deutschen Adel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Üblicherweise werden einem die Gründe für die Benennung als Gutachter nicht mitgeteilt.

In Ihrem Gutachten heißt es, dass das Haus Hohenzollern »stetig und in erheblichem Maß zum Übergang der Macht an die NSDAP und zu deren Festigung beigetragen hat.« Warum sind Sie zu diesem klaren Ergebnis gekommen?

Das Land Brandenburg hatte mir einige konkrete Fragen gestellt, die ich zu be­antworten hatte ­ und zwar speziell zum früheren Kronprinzen Wilhelm; um ihn ging es aus rechtlichen Gründen ausschließlich als dem seit 1923 wieder im Lan­de befindlichen Chef des Hauses, gewissermaßen stellvertretend, denn der frühere Kaiser befand sich in den Niederlanden im Exil. Nur der Vollständigkeit halber sei wie schon im Gutachten darauf hingewiesen, dass die Haltung der Familienange­hörigen zum aufkommenden wie zu dem an der Macht befindlichen Nationalsozi­alismus recht unterschiedlich war. Das Spektrum reichte vom herausragenden En­gagement zugunsten der Hitlerbewegung, so beim Kaisersohn August Wilhelm, der ein hoher SA-Offizier war, über Zurückhaltung und Distanz bei dessen Brüdern Os­kar und Eitel Friedrich, auch diese ­ nicht verwunderlich ­ im Übrigen keine Freunde der Weimarer Republik, bis zur Sympathie für den konservativen antihitlerischen Widerstand bei Prinz Louis Ferdinand, als Sohn des Kronprinzen später Chef des Hauses. Ohne an dieser Stelle die Beweisführung meines im Internet zugänglichen Gutachtens nachvollziehen zu können, was die Rolle des Kronprinzen betrifft ­ die­ser – trat schon in den 20er Jahren als begeisterter Anhänger Benito Mussolinis und des italienischen Faschismus hervor –­, sei betont, dass es nicht einfach um eine krasse Ablehnung der parlamentarischen Demokratie ging, sondern um die konkre­te und bewusste Beförderung des Bündnisses der nichtfaschistischen Rechten und der sozialen Oberklassen, nicht zuletzt des Adels, mit der NS­-Massenbewegung, im entscheidenden Jahr 1932 die Kanzlerschaft Adolf Hitlers einschließend. Dieses Bündnis, wie es der Regierungsbildung vom 30. Januar 1933 entsprach, war condi­tio sine qua non für das, was die Nationalsozialisten dann ›Machtergreifung‹ nann­ten und was zunächst eher eine Machtübergabe war. Eine parlamentarische Mehr­heit hatte die Regierung Hitler­-Papen bis zu den bereits terrorisierten Märzwahlen nicht. Anders als Franz von Papen und Alfred Hugenberg war der Kronzprinz keine Schlüsselfigur dieser Vorgänge, aber doch ein wichtiger Akteur, nicht zuletzt wegen seines symbolischen Kapitals als Kronprätendent. Und wenn so jemand für den zweiten Wahlgang der Wahl zum Reichspräsidenten statt für den monarchisch ge­sinnten, aber bislang verfassungstreuen und diesmal hauptsächlich von Parteien der Mitte und der gemäßigten Linken unterstützten Amtsinhaber Paul von Hinden­burg öffentlich für Adolf Hitler plädierte, dann hatte das Gewicht. Und sofern Kron­prinz Wilhelm ein freundschaftliches Verhältnis mit General Kurt von Schleicher verband einem der aktivsten politischen Intriganten gegen die Republik, der aber in der kurzen Zeit seiner Reichskanzlerschaft um den Jahreswechsel 1932/33 u. a. einen Teil, aber nicht die NSDAP insgesamt ausschließende ›Querfront‹ ins Auge fasste, unterstützte er keineswegs die Idee, Hitler und seine Umgebung bei der Regierungsbildung auszuschalten. Wilhelm wirkte durchgehend, wenn auch nicht sehr durchdacht, im Sinne der Einigung der antirepublikanischen Gesamtrechten. Dass dabei die Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie und auf eine per­sönlich prominente Rolle im ›Dritten Reich‹ mitspielte und bei der demonstrativen Unterstützung für den ›Führer‹ in der Frühphase der NS­-Herrschaft ebenso ein we­sentliches Motiv darstellte wie bei den devoten Ergebenheitsbekundungen diesem gegenüber bis in die frühen 40er Jahre, macht die Sache nicht harmloser.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil zum Industriellen Alfred Hugenberg eine Definition dazu aufgestellt, was die Formulierung »erheblich Vorschub geleistet« bedeutet. (1 So heißt es dort: Von erheblichem Vorschub sei dann auszugehen, wenn der Betroffene bei der Unterstützung des NS­-Regimes eine gewisse Stetigkeit an den Tag gelegt habe und dieses Handeln auch eine gewisse Wirkung für das Regime gehabt habe (Anm. d. Red.).) Warum verwenden Sie in Ihrem Gutachten eine an diese Definition angelehnte Bewertung, aber vermeiden die Formulierung, dass die Hohenzollern dem NS-System ›erheblichen Vorschub‹ geleistet haben?

Ich habe die Wortwahl nicht bewusst vermieden, aber möglicherweise unbewusst: Der Geschichtswissenschaft ist die Orientierung auf solche Formeln fremd. Die Historiker versuchen, Strukuren, Prozesse und Einzelergebnisse zu analysieren und darzustellen; dafür haben sie eine bestimmte Methodik entwickelt. Die Angemes­senheit, auch Differenziertheit des gezeichneten Gesamtbildes und die Präzision der Untersuchung zählen, weniger das in einigen Worten zusammengefasste End­urteil, wie es vor Gericht unvermeidlich ist.

Wieso wird der Erfolg der Forderungen laut Ausgleichsgesetz ausgerechnet von den Aktivitäten der Hohenzollern vor und während der NS-Zeit abhängig gemacht? Wieso spielen Entscheidungen und Handlungen der Hohenzollern davor keine Rolle?

Das hat der Gesetzgeber so entschieden. Es sollten nur Fälle ausgeschlossen wer­den, wo eine erhebliche Begünstigung der nationalsozialistischen (wie übrigens auch der kommunistischen) Diktatur gegeben und nachweisbar ist. Wäre man da­rüber hinausgegangen, hätte man ein Terrain betreten, auf dem sich keineswegs nur die Fürstenhäuser Deutschlands bewegt haben. Denken Sie z. B. an die mons­trösen Gräuel in Belgisch­Kongo, für die das Königshaus die Verantwortung trägt.

Einige ihrer Historiker-Kollegen kommen zu der Auffassung, dass die Hohenzollern dem NS-System keinen Vorschub geleistet hätten. Wie kann es zu solch unterschiedlichen Auffassungen kommen?

Dass es unter Historikern unterschiedliche Auffassungen gibt, ist nicht ungewöhn­lich. In der Regel ist aufgrund der Quellen mehr als eine Deutung möglich, aber nicht jede beliebige Deutung. Im konkreten Fall gibt es nur sehr wenige unter den inzwischen recht zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, darunter große Autoritäten des Fachs, die sich geäußert haben und in der Grundtendenz nicht die Position von Malinowski und mir teilen. Von ›Historikerstreit‹ kann keine Rede sein. Allerdings existieren zwei wissenschaftliche Gutachten, die den Kronprinzen entlasten sollen: erstens von dem international renommierten Christopher Clark aus dem Jahr 2011 und zweitens, sehr umfänglich, von den exzellenten Kennern der späten Weimarer Republik und der Frühphase des NS­Regimes Wolfram Pyta und Rainer Orth von 2016. Allerdings widersprechen sich diese beiden Gutachten diametral: Während Clark im Hinblick auf die Einstellung des Prinzen Wilhelm mit Brandt und Malinow­ski weitgehend übereinstimmt, ihn aber für eine politisch irrelevante Randfigur hält, meinen Pyta / Orth nachweisen zu können, dass er eine zentrale Rolle bei dem Ver­such Schleichers gespielt hat, Hitler im letzten Moment zu verhindern durch eine autoritär­rechtsstaatliche, aber nicht totalitäre Lösung der Staatskrise. Ich muss mich an dieser Stelle damit begnügen zu unterstreichen, dass beide Einschätzun­gen, besonders die von Pyta / Orth, m. E. nicht haltbar sind. Das wird durch künftige Forschungen noch deutlicher werden.

Dass wir wissen, was Sie und Ihre Kollegen in Ihren Gutachten geschrieben haben, liegt an der Veröffentlichung durch den Satiriker Jan Böhmermann. Finden Sie diese Veröffentlichung gerechtfertigt?

Die Gutachten hätten längst vorher veröffentlicht werden sollen. Dass der Stil von Jan Böhmermann, sich der Problematik anzunehmen, nicht der meine ist, dürfte leicht erkennbar sein.

Auch nach den historischen Gutachten ist eine schnelle Einigung noch nicht in Sicht. Was macht eine Einigung in dieser Auseinandersetzung neben der historischen Bewertung so kompliziert?

Der Rechtsstaat arbeitet nicht wie ein Standgericht, und der juristische Diskurs ver­läuft nach anderen Regeln als der historische. Dass der Vorgang im vergangenen Jahr (begrüßenswerterweise) publik geworden ist, hat eine außergerichtliche Eini­gung sicher nicht erleichtert.

Was würden Sie dem Land Brandenburg und der Bundesregierung im weiteren Umgang mit den Hohenzollern empfehlen bzw. was würden Sie zur Lösung des Konfliktes vorschlagen?

Ich bin im November 2019 von der jahrelang durchgehaltenen Linie abgegangen, mich als Gutachter in der Sache nicht öffentlich zu äußern (siehe den Artikel von P. Brandt/St. Malinowski in DIE ZEIT vom 14. November 2019), nachdem der Vorgang in den Medien schon monatelang Gegenstand der Berichterstattung gewesen war. Empfehlungen an die Regierenden zum weiteren Vorgehen möchte ich indessen nicht abgeben.

Was würde ein Sieg Georg Friedrichs von Preußen vor Gericht bedeuten? Glauben Sie, dass andere Adelsgeschlechter in Deutschland ebenfalls einen Anspruch auf Ausgleich erheben würden? Sind Ihnen ähnliche Fälle bekannt?

Die Hohenzollern sind auf dem Gebiet der späteren Sowjetischen Besatzungszo­ne das mit Abstand wichtigste, aber bei weitem nicht das einzige ehemalige Herr­schergeschlecht. In Thüringen hatte man es bis 1918 z. B. mit etlichen kleinen Her­zogtümern zu tun. Für manche der früheren Fürstenfamilien sind ähnlich starke Sympathien für den Nationalsozialismus nachgewiesen wie für die Hohenzollern, ohne dass ich das im Einzelnen untersucht hätte. Gerichtliche Prozesse sind mir nicht bekannt, wohl aber einzelne außergerichtliche Vereinbarungen, so mit der Fa­milie Sachsen-­Eisenach.

 

Zuerst erschienen in: politik und gesellschaft 1/2020. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Beteiligten.