von Herbert Ammon

I.

Die Kritik der Religion sei »für Deutschland im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«, erklärte Karl Marx anno 1844 in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Als Protagonisten materialistischer Aufklärung waren sich Linke, ob nun Marxisten oder nicht, in puncto Religionskritik, in der Reduktion von Religion auf Projektion, allgemein in der Kritik ideologisch überhöhter Seinsbedürfnisse, immer einig. Von derlei Kritik war die kommunistische Utopie lange ausgenommen. Insofern sie, außer bei wenigen unerschütterlichen Gläubigen, ihren Glanz verloren hat, operieren inzwischen selbst einige Linke mit dem Begriff der politischen Religionen des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie sich mit dem zugrundeliegenden Gnosis-Begriff des konservativen Denkers Eric Voegelin nicht anfreunden mögen. Die Postmoderne macht alles möglich.

Peter Furth: Troja hört nicht auf zu brennen. Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2008. Mit einem Beitrag von Helmut Fleischer, Berlin (Landt Verlag), erweiterte Neuausgabe 2008, 552 S.

Unberührt von jeglicher Religionskritik bleibt indes jenes Phänomen, das Jean-Jacques Rousseau im Contrat social (IV,8) für die demokratische Republik – bei Todesstrafe – für sakrosankt erklärte: die religion civile, das Credo des citoyen. Das ist kein Zufall. Wer in Deutschland die Widersprüche historisch-politischer Sinnstiftung beim Namen nennt, wer die Problematik politischer Existenz in der Moderne/Postmoderne erkennt, wer insbesondere die Mechanismen und Riten der bundesrepublikanischen Zivilreligion der Kritik unterwirft, begeht einen Tabubruch. Der herrschende Diskurs reagiert darauf auf unterschiedliche Weise: Entweder entfacht er eine Kampagne nach Art des Historikerstreits oder er verhängt das Verdikt des Verschweigens, die subtilere Form der Zensur.

II

Mit dem vor zwei Jahren erschienenen Essayband Troja hört nicht auf zu brennen schien dem Berliner Sozialphilosophen Peter Furth, seit zehn Jahren Emeritus der Freien Universität, dieses Schicksal zu widerfahren. In den Feuilletons wurde das Buch ignoriert. Wenn der von Andreas Krause betriebene Landt Verlag jetzt dennoch den Band in erweiterter Neuausgabe herausbringen konnte, so handelt es sich um ein erwähnenswertes Faktum. Es signalisiert, dass ein Publikum existiert, welches sich seines Verstandes auch ohne Anleitung zu bedienen weiß.

Die Aufsätze sind Zeugnis des Denkens eines Mannes, der in der akademischen Szene zur Linken zählte. In dem Maße, wie die etablierte Linke, d.h. der bundesrepublikanische Linksliberalismus, den geistigen Führungsanspruch auf ein eindimensionales Geschichtsbild, insbesondere auf kollektive Schuldanklagen gegen die Deutschen als Nation gründete, entfernte sich Peter Furth, geboren 1930, von der ideologischen Generallinie der Linken. Diese besteht – unter Inanspruchnahme der Denktraditionen der Aufklärung (und ehedem des deutschen Idealismus) – in abstrakten Bekenntnissen zur universalen Menschheit zuungunsten der in konkreten Lebenszusammenhängen existierenden Menschen. Sie, die, anscheinend Unbelehrbaren, gilt es stets moralisch zu belehren, anhand der deutschen Geschichtsverfehlungen aufzuklären.

Gegenüber derlei Anmaßung hielt Furth als Linker, dem Sittlichkeitsbegriff des Idealismus verpflichtet, geistigen Abstand. Inzwischen hat er sich vom alten Lager verabschiedet. Im letzten Kapitel des Bandes, geschrieben 2007, bekennt er sich zur resignativen Weisheit des Predigers Salomo und zur Geschichtsskepsis Jacob Burckhardts. In milder Ironie skizziert er die Konsequenzen seiner lange bewahrten, an Hegel und Marx geschulten, eigenständig linken Grundhaltung: »Jemand geht auf das Begräbnis eines alten Feindes seiner linken Jugend, und alle sprechen mit ihm, als wären sie zu seiner linken Vergangenheit übergelaufen. Als sie merken, dass er nicht mehr der alte ist, nicht mehr der Linke von damals, werden sie wütend wie Bekehrte, die die Erfahrung machen, dass sich ihre Bekehrung nicht gelohnt hat.«

III.

Das Buch markiert Wegstationen eines Denkers, dessen Karriere in der Frankfurter Schule mit einer Dissertation über die neonazistische »Sozialistische Reichspartei« (1955) begann. Heute schreibt Furth: »Was die Marxisten wirklich wollen: Kapitalismus mit menschlichem Antlitz.« Den bitterbösen Satz formuliert jemand, der über Jahrzehnte als unabhängiger Marxist hervortrat, so als Autor in der orthodoxen Zeitschrift Das Argument. Anfang der 60er Jahre gab Furth zusammen mit Hans-Joachim Lieber eine sechsbändige Marx-Ausgabe, ein Standard-Werk der westlichen Marx-Forschung, heraus.

Für die vorliegende Textsammlung hat Helmut Fleischer, der zwei Jahre ältere, einst dank Kriegsgefangenschaft und Antifa-Schulung zur Marx-Rezeption inspirierte Kollege in Frankfurt und an der FU, eine biographisch angereicherte Einleitung beigesteuert. Am Anfang des Buches tritt uns Peter Furth noch als begrifflich streng argumentierender Marxist entgegen. Unter dem Titel Das »Arbeitskonzept« in der materialistischen Erkenntnistheorie diskutiert er, ausgehend von den Feuerbach-Thesen, das alte (im platonischen Idealismus angelegte) Erkenntnisproblem. Es geht um die Dialektik von Natur und menschlicher Arbeit, von materieller Produktion und subjektivem Bewusstsein, von sozialer Wirklichkeit und theoretischer Aneignung (»Widerspiegelung«). Die heute etwas fern anmutende Thematik hatte einen konkreten Bezug: Es handelte sich um einen Vortrag Furths auf einem Hegel-Kongress in Stuttgart anno 1981. Im innermarxistischen Grabenkampf mit dem DKP-nahen, id est SED-frommen Hans Jörg Sandkühler ging es Furth um die Verteidigung des mit ihm befreundeten, von der SED gemaßregelten Ost-Berliner Philosophen Peter Ruben. Der Vortrag trug ihm ein Einreiseverbot in die DDR ein.

1985, als der teils subjektivistisch-utopisch, teils kulturpessimistisch eingefärbte Neomarxismus im Westen bereits wieder im Abflauen war, verfasste Furth Eine konservative Verteidigung des Marxismus. Arbeit und Dialektik in der marxistischen Philosophie. Sowohl die Überhöhung der Arbeit und die damit einhergehende Überwindung der »Entfremdung« (bei Hegel »Entzweiung«) in einem verkappt eschatologischen Geschichtsdenken, als auch die auf eine Ontologie der Entfremdung gegründete negative Dialektik des »frankfurterischen Bürger-Odysseus« wies er zurück. Jeder Form eines »romantischen Marxismus« stellte er, gleichsam als materialistischer »Traditionalist«, den Marxschen Begriff der Arbeit als »Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur« entgegen. Die Krise eines teleologisch gerichteten Marxismus, abzulesen an der ökologischen Krise sowie an der atomaren Bedrohung, sei »eine Krise des missverstandenen Marxismus«. Für den an der Wirklichkeit orientierten Materialisten gehe es nicht um geschichtliche Idealität und imaginäre Werte, sondern um »die Vernunftnorm der Reproduktion des Daseins als Bedingung des Werdens.« Eine solche Dialektik ziele nicht auf »Widerspruchsfreiheit als Einheit in der Idee«, sondern verstehe sich als »Theorie der Bewegungsformen der Widersprüche« und folge »der Norm der Widerspruchsbeherrschung«.

IV.

Wem diese Theoriekapitel zu abstrakt erscheinen, dem sei als Einstieg der Rückblick auf den Marxismus (1993) empfohlen. Der Marxismus, nach den Worten seines Begründers nichts anderes als »historische Kritik«, musste die Kritik der Geschichte, der »besten Marxistin« (Rudolf Hilferding), erfahren. Die Problematik des Marxismus lag in der Vielfalt eines nur äußerlich einheitlichen Ideenkomplexes. Es war »immer schwer zu unterscheiden [...] was mythische Motivationsreserve, seelenbindendes Heilswissen und was wissenschaftliches Leistungswissen war.« Das »Ineinander von Utopie, Mythos, Ethik und analytischer Wissenschaft«, sei von der Geschichte widerlegt, aber noch immer werde der Marxismus von den alten Linksbündnissen vor einer Entmythologisierung geschützt. Furth selbst argumentiert hier noch als Marxist, dem es um die Entschlüsselung der widersprüchlichen Dynamik des Kapitalismus ging, der nach Max Weber »schicksalsvollsten Macht in unserem modernen Leben«.

Als (Noch-)Marxist verzichtet Furth auf das Lieblingsinstrument des Marxismus, auf Ideologiekritik. Der Ideologiebegriff war stets Kampfbegriff, im Marxismus gerichtet gegen den Überbau der bürgerlichen Gesellschaft. In Wahrheit diente er, ausgestattet mit absolutem Wahrheitsanspruch – nicht zuletzt in den innermarxistischen Kämpfen – der den jeweiligen strategischen Bedürfnissen angepassten Freund/Feind-Unterscheidung. »Die innerliche Politikfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, mit Hegels Begriff der Sittlichkeit oder auch was M. Weber Geist des Kapitalismus nannte, hat der Marxismus verkannt oder nicht beachtet.«

Aus solch analytischer Distanz entdeckt Furth frappierende Parallelen, ja Kongruenzen der zwei augenscheinlich konträren Doktrinen des Liberalismus und des Marxismus. Im Hinblick auf den Kapitalismus handle es sich um konkurrierende, aber keineswegs gänzlich verschiedene Gesellschaftskonzepte. Davon abgesehen, dass dem Liberalismus als Träger der modernen kapitalistischen Produktionsweise ein hohes Maß an theoretischer und praktischer Flexibilität zu attestieren sei, zielten beide Konzepte auf Perfektionierung des Menschen und Masseneudaimonie durch die Entfaltung von Wissenschaft und Technik, durch die Beherrschung von Natur und Geschichte. Die These mag bezüglich der moderaten Lehren des Moralphilosophen Adam Smith im ersten Teil übertrieben erscheinen, im zweiten Teil trifft sie den materiellen Kern des Emanzipationsversprechens der Moderne.

Das Leitmotiv des Marxismus war die Selbstentfremdung, der mythische Begriff Platons in moderner Gestalt. Der Marxismus versprach einerseits die Wiederherstellung der vollkommenen menschlichen Existenz vermittels Beherrschung der Produktivkäfte, andererseits verlegte er das Versprechen in die utopische Zukunft. Die intellektuelle Avantgarde des Marxismus agierte als Wegbereiter des revolutionären Bürgerkriegs. Unter diese »Romantiker der Entfremdung« reiht Furth als Prototypen Georg Lukács neben Josef Stalin und Jean-Paul Sartre ein. Alle drei seien aufeinander bezogen gewesen wie kommunizierende Gefäße – eine Pointierung, welche die alte linke Scheidelinie zwischen lauterem Idealismus (Lukács) bzw. Moralismus (Sartre) und der Perversion der guten Idee im Stalinismus aufhebt.

Dem Liberalismus gehe es um Entgrenzung des Individuums, nicht um Aufhebung der Entfremdung. Emanzipation von den alten Bindungen (heute: »Selbstbestimmung«) im liberalen Sinne setzt Entfremdung als Bedingung der personalen Freiheit voraus. Darüber hinaus seien im »liberalistischen Wertgefühl« Freiheit und Entfremdung (»als Verdinglichung von Motiven und Werten« sowie in Gestalt verfestigter Rollen) auf positive Weise verknüpft. Dem Problem der grenzenlosen Entgrenzung, der faktischen Atomisierung der Gesellschaft durch fortschreitenden Individualismus, versuchten liberale Denker wie (der meist als herzloser Sozialdarwinist missverstandene) Herbert Spencer und Talcott Parsons mit dem funktionalistischen Gegenbegriff der Integration zu begegnen. (Zur Erläuterung: Integration erfolgt bei Spencer im höher differenzierten Organismus seiner »industrial society durch wachsende Einsicht und Sympathie, bei Parsons im übergreifenden System durch Sozialisation vermittelte Wertbindung der Individuen).

Die Antwort des Liberalismus auf die marxistische Entfremdungskritik war der Massenwohlstand als pursuit of happiness. Das materielle Glück beglaubigte den Liberalismus und verdeckte dessen – insbesondere im Modell des hedonistischen Utilitarismus – hervortretende ideelle Schwächen. Zugleich trieb der historisch erfolgreiche Liberalismus eine neue Dialektik in Gestalt der linken Konsumkritik und des Antiautoritarismus hervor. Diese Art von »Linksradikalismus« ziele entgegen allen Proklamationen gegen vertiefte Entfremdung durch Konsumismus und trotz aller Experimente in »Konsumverzicht« (im Schutze des Reichtums) auf unmittelbare, konsumptive Selbstverwirklichung, sei mithin nichts als eine radikalisierte Spielart des Liberalismus. Die Entfremdungskritik der Lehrmeister des Antiautoritarismus (i.e. die Frankfurter Schule) ließ die Ökonomie unbeachtet und zielte auf Kultur und Psychologie, auf die »autoritären« Institutionen Schule und Familie. In der Konsequenz betrieb der Antiautoritarismus eine Modernisierung des Liberalismus, indem er – auf Kosten des liberalen Leistungsprinzips – bislang geschützte »Lebensbereiche entgrenzt und der kapitalistischen Bewirtschaftung zugänglich gemacht« hat.

Einen von Geschichtsmetaphysik befreiten Marxismus definierte Furth als »materialistische« Reflexion über materielle und soziale Ressourcen, über die historischen Voraussetzungen politischer Praxis. Die ontologische Bedeutung des Materialismus liege in der »Erinnerung an das primordiale Faktum der Bedingtheit des Tuns.« In der Kritik an den hedonistisch-geistlosen Zumutungen der Gegenwart falle einer solchen theoretischen Haltung eine paradoxe Rolle zu: »Sie wird den Marxismus eher mit Konservativismus und Liberalismus in Berührung bringen als mit dem libertären Linksradikalismus, und es ist eine freie und rein theoretische Rolle.«

V.

Spätestens an diesem Bekenntnis zu konservativem, der grenzenlosen Moderne abholdem Denken, formuliert noch vor dem Siegeszug der Globalisierung, wird deutlich, dass Furth – er betreute einst die Doktorarbeit Rudi Dutschkes – mit '68 und dessen geistiger Hinterlassenschaft nichts mehr zu schaffen hat. Dazu weiter unten.

Zwei Jahre zuvor schrieb Furth den Essay Zum ideologischen Nachlass des Realsozialismus (1991). Anno 2008, da sich Medien und Politik wieder einmal im Kampf gegen Rechts überschlagen und Antifaschismus als moralkräftiges Antidotum selbst in post-bürgerlich liberalen Kreisen Anerkennung findet, wirken manche Aussagen geradezu prophetisch. Anstelle einer notwendigen Entideologisierung stünden den von der Geschichte widerlegten Post-Kommunisten zwei Wege offen: Entweder die Absage an den alten Glauben und die Übernahme der ideellen Gegenpositionen oder das Festhalten am ideellen Kern des Marxismus-Leninismus, die Bewahrung und Vertiefung des »enttäuschungsresistenten« Heilsgedankens des Sozialismus.

Der zweiten Haltung räumte Furth die besten Chancen ein. Er sah dafür, gerade nach der von der linken Intelligentsia mehrheitlich abgelehnten Wiedervereinigung (dazu: Deutsche Schwierigkeiten mit dem Wort Wiedervereinigung, verfasst 1989) zwei Gründe: Erstens das Avantgarde-Selbstverständnis der Intellektuellen, die sich mit ihrem Funktions- und Prestigeverlust in der perfektionierten Industriegesellschaft, wo der Bedarf an »konzeptiver Ideologie« geschwunden sei, nicht abfinden mögen. Nach dem Scheitern des »wissenschaftlichen Sozialismus« treten sie als Avantgarde der »moralischen Weltanschauung«, als Hüter einer unbefleckten Gesinnungsethik hervor. Anstelle der Anerkennung eines geistigen und politischen Pluralismus würden nach wie vor Konzepte mit Wahrheitsanspruch verfolgt Das Projekt »Vollendung der Geschichte« sei somit »nicht aufgehoben, sondern aufgeschoben«.

Als zweiten Hauptfaktor einer überdauernden post-sozialistischen Citoyenromantik diagnostizierte Furth das Überleben des »epigonalen Antifaschismus«. Für viele deutsche Intellektuelle seiner Generation hatte nach dem Krieg das Bekenntnis zum Antifaschismus stets die Funktion der Entlastung von Schuld. Dieses Motiv schützte »den Kommunismus nachhaltig vor Erkenntnis«. Der Antifaschismus verdeckte nicht zuletzt »die konstitutionelle Ähnlichkeit von Kommunismus und Faschismus in dem Punkt des Gemeinschaftsradikalismus«. Heute erzeuge der Begriff Evidenzen, die im Blick auf die geschichtliche Realität »einem besonnenen Betrachter nur gespenstisch vorkommen können – Skinheads als Nachfolger der SA, Fremdenfeindlichkeit als Nachfolgerassismus etc. Was ist an diesem Blick, dem sich ubiquitäre Phänomene der Vergesellschaftung so selbstgewiss in Erscheinungen des Faschismus verwandeln können, mehr zu fürchten: die simulative Imagination oder die abstraktive Gewaltsamkeit?«

Im Antifaschismus finde »die Rousseausche Seele des politischen Moralismus, das Pathos vom guten Menschen« ihr neues, altes Betätigungsfeld. In der Sinnkrise der Gegenwart bilde die Chiffre Auschwitz das »Fundament einer Weltanschauung« – dies die Lehre aus dem Historikerstreit. Es ging dessen Protagonisten – Furth nennt weder J. Habermas noch H.-U. Wehler beim Namen – nicht um die Dimensionen des Verbrechens und dessen historische Bedingungen, sondern um ein vor jeglicher Historisierung zu bewahrendes »Absolutum«, um »das Fundament einer Weltanschauung: Auschwitz als das Geschichtszeichen einer negativen Theodizee, als negative Offenbarung...« Mit der historischen Markierung des absolut Bösen trete das rettende Gegenbild hervor, die reine Menschlichkeit. Die Identifikation mit den Opfern bilde im Selbstbewusstsein des Antifaschisten die Grundlage für die Rolle des neuen, nur noch moralischen Citoyens, des Vorkämpfers eines universalen Gemeinwesens »in dem Moral und Politik restlos zusammenfallen«, jenseits von Staat und Nation. In seinem Universalhumanismus ist der neue Citoyen unversöhnlich, nicht anders als sein Vorgänger, der in der Revolution geborene, von Menschheitspathos und nationaler Leidenschaft inspirierte Patriot.

Die Zukunftschancen des Antifaschismus erwuchsen aus einem deutsch-deutschen Amalgam: zum einen aus dem guten Gewissen der zum Mitsieger der Geschichte gekürten Antifaschisten der untergegangenen DDR, zum anderen aus den in der westdeutschen Bundesrepublik kultivierten kollektiven Schuldgefühlen. Mit provokativer Schärfe definiert Furth hier die Doppelrolle deutscher Intellektueller. In einer Gesellschaft, in der Gesinnungsethik die politische Moral dominiert, ist der Übergang zwischen dem »Haben von Schuldgefühlen« »zu ihrer Ausbeutung und Bewirtschaftung« fließend. In den Schuldgefühlen der einen liegen die Machtchancen der anderen.

In seinem Resümee zeigte sich Furth anno 1991 selbst noch gespalten. Ungeachtet des für viele »unersetzlichen« Antifaschismus sah er »nach zwei Zusammenbrüchen totalitärer Ideologie in einem Land und in einem Jahrhundert« noch die Chance einer Entideologisierung, und zwar gerade in der ehemaligen DDR. Mit dieser hoffnungsvollen Prognose lag er, wie er inzwischen selbst erkennen musste, falsch. Die Bewirtschaftung der deutschen Tragödie hat den Mauerfall mit vermehrter Rendite überstanden.

VI.

Damit sind wir beim Grundthema der Furthschen Reflexionen, der deutschen »Unfähigkeit zu trauern«. Furth, als Fünfzehnjähriger 1945 ein davongekommener Zeuge des Schreckens, wendet in seiner Abschiedsvorlesung Heuchelei und moralische Weltanschauung (1995) den von den Mitscherlichs einst zur Anklage erhobenen Topos gegen ihre – biographisch keineswegs makellosen – Erfinder. Es gehe nicht um die angeblich in Wiederaufbau und Wohlstand verdrängte, narzisstische Liebe der Deutschen zu ihrem Führer, sondern um die Verweigerung des Rechts (und der Pflicht) der Deutschen, ihre eigenen Toten zu betrauern. »Wie sehr Antigone den Deutschen fehlt, wird offenbar, wenn antifaschistische Sittenrichter anordnen: Keine Träne für Dresden!«

In dem 1984/85 geschriebenen Aufsatz Antigone oder zur tragischen Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft wird das Antigone-Thema noch primär unter philosophischen und philosophiegeschichtlichen Aspekten behandelt. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution fand Friedrich Hölderlin (im Kommentar zu Antigone sowie im Empedokles) die Antwort auf die Frage nach den anscheinend sinnlosen Opfern im Namen der Freiheit und der Vernunft, für die Toten der Republik, die Lösung im Begriff der sich »hier tragisch bildenden« Vernunft. Ähnlich fand Hegel im Begriff der Tragödie die eigentliche Grundlage eines sittlichen Gemeinwesens. Auf das Eigeninteresse der Individuen – wie im aufklärerischen Naturrechtsdenken behauptet – lässt sich kein Staat gründen. Die Probe aufs Exempel ist der Krieg. Nur Patrioten sind im Extremfall zum Einsatz des Lebens, zum Opfer der »reinen Sittlichkeit«, bereit. Für Hegel, der den naturrechtlichen Begriff des Eigeninteresses für »antisozialistisch« (in: Jenaer Schriften) erklärte, konstituierte »tragische Sittlichkeit« oder die Opferbereitschaft des Citoyen die Grundlage des »Idealismus des Staates«. »Es ist dies nichts anderes als die Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt.« (Hegel)

Seit eh und je überhöhen die Polis, die Republik, der moderne Nationalstaat, erst recht die moderne Demokratie – man denke an das patriotische Pathos in den USA – das tragische Selbstopfer ihrer jung gestorbenen Helden. Zu Recht spricht Furth bezüglich der »Citoyen-Romantik«, zugespitzt im blutigen Schicksal des Heldentodes, wiederholt von der modernen »republikanischen Himmelfahrt«, steingeworden in den Kriegerdenkmälern. Die Selbstlegitimierung des (gemäß moderner Staatsdoktrin auf Volkssouveränität gegründeten) Staates, der von seinen Bürgern Opferbereitschaft und Gehorsam erheischt, zieht die Tragödie im Gesellschaftlichen nach sich: Wer trauert um den, der im Krieg, im Bürgerkrieg, zuletzt im Weltbürgerkrieg auf der falschen Seite stand? Antigone ist die ewige Symbolfigur für jene Tragödie, die aus dem Widerspruch elementarer Sittlichkeit, aus dem »dunklen Recht des Natürlichen« (Hegel) gegen die Sittlichkeit (den Idealismus – oder die bloße Machtanmaßung) des Staates erwächst. Antigone verteidigt Schwesterliebe und -pflicht, Gebot und Recht der Familie gegen das Gebot Kreons. Hegel versöhnt auch diese absoluten Gegensätze in der »Einheit im Wesen, in der Idee«.

Furth verteidigt Antigone gegen die schon bei Hegel angelegte Idealisierung und bildungsbürgerliche Verharmlosung einer »schönen Seele«. Gegen das Bild einer »Verweserin machtgeschützter Innerlichkeit« stellt er – etwas vordergründig im linken Diskurs der 1980er Jahre befangen – Antigone als eine der »Erinnyen verletzter Menschlichkeit und vergeudeter Natur. Immerhin schließt der Aufsatz mit dem Gedanken, man könne sich Antigone als »Modell...eines Gemeinsinns [vorstellen], der gerade in der Anerkennung des Nichtidentischen seine Stärke hätte.«

Der Titel-Essay Troja hört nicht auf zu brennen. Über die Bewirtschaftung der Toten beginnt mit Reflexionen über die »Sozialität des Todes«, über den Tod als »fait social« (im Sinne Durkheims). Als Kronzeugen treten erneut Hölderlin, Schelling und Hegel auf, die Freunde aus dem Tübinger Stift. Der Tod ist seither der mythische (und reale) Fixpunkt »einer laizistischen religion civile«. »Das Ritual und seine Fortsetzung als Gedächtnis ist seine soziale Urszene... Antigone ist die mythische Hüterin dieser Gesellschaftlichkeit, der Pietät, oder in unserer Sprache: der Solidarität.« »Die Trauersolidarität ist ein Bündnis der Lebenden mit den Toten und erst in Folge davon ein Bündnis zwischen den Lebenden.« »Sozialisation [ist] eigentlich so etwas wie Gedächtnismachen.« Eine Gesellschaft ohne Erinnerung an ihre Toten, ohne »ideelle Vergesellschaftung« jenseits der bloßen Arbeitsteiligkeit, ist einerseits unfähig zur Solidarität, zutiefst inhuman.

Aus derlei Prämissen folgt eine fulminante Attacke auf die Dogmen der bundesrepublikanischen Ideologie. Der einstige Adept der Frankfurter Schule zerlegt die Widersprüche des Adorno-Diktums »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«. Mit der im Gefolge Adornos proklamierten geschichtlichen Zäsur – heute begrifflich fixiert in Dan Diners Zivilisationsbruch – werde ein Verdikt über die gesamte Geschichte vor Auschwitz gefällt. Die Chiffre sei somit identisch mit der Idee einer »negativen Theodizee«, zugleich berge die historische Fixierung des absoluten Bösen die Hoffnung auf eine Wende zum Guten. »Aber gegen eine solche negative Theodizee richtet sich die aus Homer (und Shakespeare) zu lernende Erinnerung: Troja hört nicht auf zu brennen.«

Weiter: Adornos Auschwitz-Tabu war verhängnisvoll, weil es eine »Mauer der Unvergleichlichkeit« errichtete, welche die unbeabsichtigte Nebenwirkung hatte, die Erinnerung an die anderen Opfer des Faschismus wie der übrigen Geschichte zu vergessen. »Im Auschwitz-Tabu liegt etwas Manichäisches; Schuld und Unschuld liegen ein für allemal fest.« Der Gedächtniszwang verbietet einerseits die humane Reflexion über das entsetzliche Geschehen, verhindert andererseits eine analytische Haltung hinsichtlich der Vorgeschichte und der Folgen der NS-Verbrechen. Furth zweifelt an Sinn und Begriff der Versöhnung zwischen Juden und Deutschen, da die »Idee der Versöhnung ein gemeinsames Drittes voraus[setzt], ein Numinoses, das die Kraft dazu geben könnte.« Das gemeinsame Dritte sei aber »durch die zu sühnenden Untaten selbst zerstört«. Der Appell zur Versöhnung werde daher »ohnmächtig und alsbald heuchlerisch.« Der Leser darf spekulieren, ob Furth mit dem gemeinsamen Dritten die verlorene »deutsch-jüdische Symbiose« oder die verlorene religiöse Dimension meint.

VII.

Furths Essay mündet in Totenklage. Er spricht von der »für unser Land typisch gewordenen Antigone-Not.« »Es ist immer noch Grimmelshausens Land, in dem wir leben.« Schließlich: »Heillos die politisch-moralische Existenz in diesem Land.« Wer geneigt ist, bei Furth die Exkulpation des Tätervolkes herauszulesen, wird im Schlusspassus mit einem Zitat widerlegt: Wer behaupte, durch den Faschismus im Innersten erschüttert zu sein, habe noch gar nicht in »Furcht und Zittern begriffen, wessen der Mensch fähig ist.« Das Zitat stammt von Hannah Arendt.

Anstelle des verlorenen (oder unterdrückten) »tragischen Bewusstseins«, id est des vertieften historischen Bewusstseins einer Nation, tritt trotz nationalstaatlicher Wiedervereinigung in der von den Eliten forcierten postnationalen Zukunft Deutschlands die geschichtspolitisch unterfütterte Ideologie der political correctness. Dieses Amalgam von Heuchelei und moralischer Weltanschauung sezierte Furth in der erwähnten Abschiedsvorlesung mit provokativer Schärfe am 6. Juli 1995.

Wo geheuchelt wird, ist soziale Angst im Spiel. Furth unterscheidet entsprechend dem Grad des Konformismus verschiedene Typen von Heuchelei: eine solche, die hinter konformistischem Gebaren noch defensive Distanz, ja subversive Selbstbehauptung versteckt (wie bei den jüdischen Marranen und den englischen Katholiken), und jenen aggressiven, andere zur Heuchelei zwingende Konformismus, der das Wesen der political correctness ausmacht.

Heuchelei ist seit der Aufklärung mit dem Begriff Toleranz verknüpft. Ursprünglich bezeichnet der in den Glaubenskämpfen der frühen Neuzeit geprägte Begriff die Hinnahme (Duldung) des Unvermeidlichen, den politischen Kompromiss mit dem ungeliebten Glaubensfeind. Von den religionsfeindlichen Aufklärern wird der Begriff mit utopischen Züge ausgestattet: Nur der universell tolerante, d.h. religiös indifferente Mensch ist ein wirklicher Mensch. Charles Péguy sprach in Bezug auf den aufklärerischen, humanitären Heuchler – als dem Nachfolger des klerikalen Tartuffe – von »l´autre Tartuffe«. Furth: »Die Spekulation mit Menschheitswerten ist in der Moderne das bevorzugte Feld der Heuchelei, weil sich auf ihm der Kampf um die kulturelle Hegemonie entscheidet.« Spätestens im Jakobinertum mündet der Kampf für die Toleranz in den Kampf gegen die falsche Toleranz, in den Terror gegen alle Feinde der Freiheit, genauer: der republikanischen Tugend. Gegen den Verdacht als Instrument des Terrors schützt auch keine Heuchelei mehr.

Die ›Menschheit‹ avanciert seit der Aufklärung zum moralischen Absolutum. Die ›Feinde der Menschheit‹ dienen dem aufklärerischen Humanismus in manichäischer Logik als totalitär aufgeladener Gegenbegriff. »Dem faktischen sozialen Dasein, wie es in der selbstbezogenen und zufälligen Besonderheit historischer Gemeinschaften organisiert ist, wird die Fähigkeit, eigentliches Menschsein auszudrücken, abgesprochen.«

Als Mutterboden der Heuchelei kennzeichnet Furth – das Christentum. Anders als der gesetzestreue Jude im Hinblick auf die Vorschriften der halacha  vermag der Christ, das Bild des Erlösers im Herzen, die imitatio Christi nie vollständig zu leisten. Die Äußerlichkeit der Sakramente und der subjektive Glaube wirken konstituierend für das Bewusstsein der Schuld. »Das Schuldgefühl ist der Stolz des Christen.« Erkennbar tritt hinter derlei Argumenten das im protestantischen Gewissen verankerte Ich des Verfassers hervor. Völlig richtig sieht Furth, dass das protestantische Entmythologisierungsprogramm, welches den Glauben an die Erlösungstat Christi zur bloßen Menschenliebe säkularisiert, die Heuchelei verstärkt. Dem Christen geht es nicht um die eigene Schuld, sondern um die Schuld der anderen. (Der Leser mag sich an jenen mit deutschen Schuldanklagen agierenden Pastor erinnern, der als notorischer Ehebrecher seine Frau umbrachte, die Tat aber gänzlich von sich abzuspalten vermochte.)

Fließen »Schuldgefühl und Mitgefühl für den Christen ineinander«, so resultiert daraus eine »hybride Schuldverantwortung«. In säkularisiert politischer Gestalt begegnet uns die christlich-protestantische Schuld in den Gedenkriten der Bundesrepublik Deutschland. Mehr noch, in Deutschland dient die Beschwörung der Schuld des »Tätervolkes« der moralischen Erhöhung. »Die durch das Stigma der Schuld verlorene Stellung in der Welt kann durch die Annahme des Stigmas wiedergewonnen werden.«

Natürlich widerspricht der Begriff der historischen Schuld, die geradezu genetische Schuld von Hitlers Kindern, dem gleichzeitig beschworenen aufklärerisch-modernen Begriff des freien Individuums. Das ideelle und existenzielle Dilemma liegt jedoch tiefer. Die historische (deutsche) Schuld ist zur säkularisierten Version der Erbsünde avanciert, »aber ohne dass es noch wirksame christliche Kompensationen gäbe. Ein toter Gott kann vor nichts und niemand retten; zwar ist er noch für das Schuldmaß zuständig, aber Gnade ist von ihm nicht zu erwarten. Der Inhalt, der geheuchelt wird, überwindet den Heuchler.«

VIII.

Wie passen multikulturelle Einwanderungsgesellschaft, »Spaßgesellschaft und Schuldgemeinschaft« (Günther Zehm) zusammen? Für das Fortwirken des ideologischen Amalgams machte Furth schon im Jubiläumsjahr 1998, die 68er-Generation verantwortlich (Verweigerte Bürgerlichkeit. Motive. Mythen, Folgen der 68er Kulturrevolution). Die verweigerte Bürgerlichkeit der 68er war die spezifisch deutsche Version der alten Widerspruchsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft, der Aufspaltung des Bürgers in Bourgeois und Citoyen. Die 68er waren Protagonisten einer Citoyenromantik, die ihrerseits einer »Enttäuschungsdialektik« entsprang. Furth lenkt den Blick auf die ideologischen Väter der 68er (Namen wie Karl Korsch, Georg Lukács, Karl Wittvogel, Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Erich Fromm und die Frankfurter Schule), die seit den 1920er Jahren das utopische Ziel des neuen Menschen nicht mehr aus den altmarxistischen Kategorien der Ökonomie und des Klassenkampfes, sondern aus dem kulturrevolutionären Potential des Unbewussten, der Psyche, aus den Widersprüchen der affirmativen Institutionen wie Familie und Schule, aus »Autorität und Familie« ableiteten.

Die Doktrinen fielen bei der Nachkriegsgeneration, deren nach 1945 gelernter Glaube »an die kathartische Wirkung von Schuldgefühlen« und die Moral der antifaschistischen Siegermächte angesichts der Kriegsgreuel in Algerien und Vietnam zerbrochen war, auf fruchtbaren Boden. Moralische Empörung und marxistische Bürgerkriegstheorie liierten sich. Die im Protest unterschwellig vorhandenen nationalistischen Affekte gegen die nicht länger unbefleckten Sieger verquickten sich mit der Motivik von Schuld: »Denn als Kern der Herrschaftsstrukturen galt den Revoltierenden ein Schuldzusammenhang, der Zusammenhang aus Schuldzuweisung und reaktivem Schuldgefühl.« Für die einen ging es um die citoyenhafte moralische Bewältigung von Schuld, für die anderen um den Bruch mit Schuldgefühlen überhaupt. Die antiautoritäre Kulturrevolution geriet so zu einer sich vielfach überkreuzenden Doppelrevolution, in der die Radikalen um Dutschke den im Kern unpolitischen Kommunarden wie Langhans und Teufel politische Legitimation verschafften. In Kooperation bereiteten sie einerseits dem unpolitischen Leitbegriff kollektiver Selbstverwirklichung den Weg, andererseits arbeiteten sie »diesem denkwürdigen Miteinander von Spaßgesellschaft und Schuldgemeinschaft vor, in dem wir uns heute befinden.«

Vergessen scheint anno 2008 das 68er Schlagwort »Das Private ist politisch«. Furth benennt dessen Dialektik: Die Kulturrevolution gründete und mündete in der Politisierung der Privatheit und in der Totalisierung der Politik. Sie brachte „eine »totale Mobilmachung«, aber nicht à la Jünger, nicht als Konzentration der Kräfte, sondern als Zerstreuung. Geblieben ist ein »unheimlicher Rest«, der Begriff der »Schuldgemeinschaft der Deutschen«, der den 68ern als Heiligtum ihrer Generation »den letzten, über den Nihilismus der Postmoderne erhabenen Halt gibt. In der Weltanschauung, die aus '68 abgefiltert wurde, ist die Holocaustschuld die Grundlage einer letzten, verstiegenen Citoyenromantik.« Schonungsloser ist noch kein Kritiker, kein Gegner mit den 68ern ins Gericht gegangen, schon gar nicht die im Gestus der Selbstkritik hervortretenden ergrauten Protagonisten der taz und der Feuilletons.

IX.

Vor zehn Jahren mochte Furth noch hoffen, dass aus dem negativen Nationalismus, der ein nationales Bewusstsein ipso facto weiter am Leben erhält, geistige Selbsterkenntnis und politische Selbstbehauptung erwachsen werde. Diese Hoffnung hat er kritisch modifiziert. In den Reflexionen über Schuld und Zivilreligion in Deutschland (2004) nähert er sich den vielschichtigen Widersprüchen des inzwischen strafbewehrten Holokaust-Gedenkens. (Die dem griechischen Etymon folgenden Schreibweise dürfte als semantische Korrektur des zivilreligiösen Zentralbegriffs zu lesen sein.) In der säkularisierten Moderne, in der sich der Glaube an das Handeln Gottes in der Geschichte verflüchtigt hat, erfüllt das zivilreligiöse Gedenken (Erinnerung) für das jüdische Volk in Israel und in der Diaspora eine sozial-integrative Funktion nach innen, eine politisch-zweckgerichtete nach außen. Es trennt die Juden als metaphysischer Abgrund von ihren historisch zeitlosen Verfolgern. Der Holokaust fungiert als »negative Apotheose« anstelle der alten jüdischen Heilsgeschichte.

Für die Deutschen als Träger »ererbter Schuld« gewinnt die dekretierte Erinnerung einen wesentlich problematischeren Charakter: Der Holokaust überwölbt einerseits das eigene historische Gedächtnis, fungiert zugleich als metahistorischer Garant der Verfassung, die ihrerseits mehr und mehr als weihevolle Fassade des »menschenrechtsgestützten Hedonismus der Massendemokratie« zu betrachten ist. Das im Appell zum Holokaust-Gedenken evozierte religiöse Gefühl bleibt vage, das im Gedenken angestrebte Absolute ist mit dem Wesen abendländischer Religion unvereinbar. Es gerinnt zum Mythos. »Das mythologisierende Sprechen über den Holokaust ist selber mythifizierend und will es auch sein, geht es doch um die Heiligung eines weltlichen Geschehens, und eine divinatorische Aufladung eines profanen Ereignisses ist mythisch, gerade auch im Sinn der kritische verstandenen biblischen Religionen Europas.«

Die kollektive Schuldzumutung – sie geht gewöhnlich einher mit der pathetischen Zurückweisung des Kollektivschuldvorwurfs – ist die Einladung (oder Nötigung) zur zivilreligiösen Heuchelei. Wo (oktroyierte) Schuld in verinnerlichtes Schuldgefühl diffundiert, »verspricht die Heuchelei eine Wiederaufrichtung des Selbst, aber auf die Gefahr hin, dass Schuldgefühl und Selbst ununterscheidbar werden und die Heuchelei zum Mittel religiöser Herrschaft wird.« Der richtigere Terminus wäre hier wohl  ›zivilreligiös. Ansonsten ist dem Satz angesichts der bundesrepublikanischen Inszenierungen kaum zu widersprechen. Furth beschließt den Essay mit einem protestantisch-provokativen Satz: »Bei einer Religion, die sich...hauptsächlich aus Klerikern rekrutiert, besteht die Hoffnung, daß die allfällige Bigotterie auf ihre Weise für die Säkularisierung sorgt. Reicht das nicht aus, nimmt die Aufklärung ihr unvergängliches Recht wahr.«

X.

Wer sich von der Lektüre der einzelnen umfangreichen Essays erholen möchte, der findet ihre Summa in den Aphorismen (»Tiraden«).Ein paar Kostproben: »In Deutschland ist die alte Lebensklugheit, Wer sich verteidigt, klagt sich an, erneuert in: Wer sich anklagt, verteidigt sich.« – »Der moderne Staat braucht nicht Patrioten, sondern Komplizen.« – »Die Psychoanalyse schleppt bei aller Skepsis gegen die spontanen Fähigkeiten der Vernunft eine rationalistische Illusion mit. Als Theorie vergißt sie, sich als Praxis in die Selbstreflexion einzubeziehen. Praktisch ist sie eine Gemeinschaftstätigkeit mit hierarchischem Charakter, aber in der Theorie dominiert die Selbsttätigkeit des autonomen Bewusstseins.« Das Postulat der Selbstanalyse vermeine, das Faktum »des Außenhalts des fremden Bewusstseins, auch des überlegenen Bewusstseins [zu] ersetzen. Wegen dieser rationalistischen Illusion kann die Psychoanalyse auch als öffentliche, politische Aufklärungs- und Kritikbewegung auftreten, ohne zu bedenken, dass es einen gesellschaftspolitischen Therapeuten nur in totalitärer Fiktion geben kann...«

Dass in Furths Reflexionen eine christliche Dimension des Philosophierens hervortritt – selbst wenn diese beim alttestamentlichen Prediger Salomo endet –, macht das Buch inmitten diffuser Neoreligiosität als Zeugnis eigenständigen Denkens umso wichtiger. »Die Atheisten haben aus dem Gott der Religion den Gott der Menschen gemacht. Nun gibt es wirklich einen Grund, Atheist zu sein.« »Der Mensch, der seine Selbstbehauptung gegen den Gott der Bibel durchgesetzt hat, gerät in eine fatale Situation. Der gegen Gott geführte Prozess der Theodizee wiederholt sich an ihm...«