von Perry Anderson

 Unter den heutigen US-amerikanischen Journalisten ist Christopher Caldwell, um einen russischen Ausdruck zu gebrauchen, eine weiße Krähe. Nicht nur seine kulturelle Reichweite ist wahrscheinlich ohne Gleichen – mehr als nur flüssig in den großen europäischen Sprachen ist er auch mit dem vertraut, was in ihnen geschrieben wird. Aber auch in Bezug auf seine Intelligenz unterscheidet er sich von den meisten Reportern und Kommentatoren. Auch wenn sein Hintergrund literarisch ist, ist es ein philosophischer Zug seines Geistes, der seine Arbeiten von denen seines Gleichen unterscheidet. Was sein Interesse normalerweise findet, sind Dilemmata – begriffliche, moralische, soziale –, die in Standarddiskursen dominierender oder marginaler Tagesfragen entweder verdunkelt oder übergangen werden. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen sind fast immer, so oder so, beunruhigend und verstörend. Die Kolumnen dieses leitenden Redakteurs des Weekly Standard, dem Flaggschiff des US-amerikanischen Neokonservatismus, und seine Kolumnen in der Financial Times lassen einen Großteil der liberalen Meinungsmache als jenen eintönigen Einheitsbrei erkennen, der er auch zu häufig ist.

Christopher Caldwell: Reflections on the Revolution in Europe. Immigration and the West, London (Penguin) 2009, 384 Seiten

Es ist deswegen keine Überraschung, dass er das bemerkenswerteste Buch zur Immigration nach Westeuropa verfasst hat, das, sprachenübergreifend, bisher erschienen ist. In Reichweite und Argumentation hat Reflections on the Revolution in Europe einen Vorläufer in Walter Laqueur’s Last Days of Europe (2007; dt.:Die letzten Tage von Europa: Ein Kontinent verändert sein Gesicht, Berlin 2008), und beiden Büchern wurde mit einem hochtrabenden, von illustren Autoren – Edmund Burke, Karl Kraus – entlehnten Titel ein schlechter Dienst erwiesen. Caldwells Werk ist jedoch kühler und dringt tiefer ein. Seine empirische Reichweite ist auch beträchtlich größer. In der Tat umfasst keine andere zeitgenössische Studie der europäischen Immigration ein solch weites Feld, indem es nicht nur Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien, sondern auch Dänemark, Schweden, die Niederlande, Belgien und sogar Irland einschließt. Statistische wie reportagehafte Fäden der Darstellung werden analytisch integriert in eine frische und lebhafte Prosa, die zu lesen eine Freude ist – selbst, wo es schwerfällt, ihr zuzustimmen. Sicherlich verdient das Buch jene weite Diskussion, die es auslösen wird.

Im Zentrum seiner Stärke steht Caldwells vergleichender Blickwinkel. Die Nachkriegsimmigration nach Europa wird durchgehend kontrastiert zu der in die USA, um gerade das in den Fokus zu nehmen, was historisch am spezifischsten an ihr ist. Von Beginn an waren die USA natürlich eine Siedler-Gesellschaft, die sich um den Zustrom fremdstämmiger Arbeitskräfte herum organisierte. Heute ist jeder zehnte ihrer Bewohner in der Fremde geboren und weitere elf Millionen sind Immigranten ohne Papiere. Trotz Auseinandersetzungen an seiner Grenze zu Mexiko hat sich die amerikanische Gesellschaft der letzten Jahrzehnte als im Allgemeinen fähig erwiesen, diese Neuankömmlinge ohne übermäßige Anstrengung zu integrieren. Ein solcher Erfolg gründet, wie Caldwell argumentiert, auf einer Reihe von Vorteilen, die die USA von der EU radikal unterscheidet. Diese umfassen einen unnachgiebigen Druck auf Immigranten, sich den US-amerikanischen, durch eine althergebrachte Assimilationsideologie eingeschärften Sitten anzupassen; eine große Menge von Raum, den ein noch immer alles andere als voll besiedelter Kontinent bietet; die relative Nähe des religiösen Hintergrundes und der kulturellen Ansichten der meisten Schübe der jüngsten Immigrationswellen spanisch-stämmiger Katholiken Lateinamerikas zu den nordamerikanischen Normen; die Verbreitung von Niedriglöhnen und ungelernten Jobs in diesen oder jenen Dienstleistungen; und – last, but not least – die Anwesenheit einer kriminalisierten, schwarzen Unterklasse an der Basis der sozialen Hierarchie, die es den Immigranten erlaubt, einen Platz in derselben einzunehmen, der über dem derjenigen ganz unten liegt.

Auf der anderen Seite sind europäische Gesellschaften keine neuen Siedler-Gemeinschaften, die für ihr Wachstum einen kontinuierlichen Zustrom fremder Arbeitskraft benötigen. Die Immigration der Nachkriegszeit war ein vorübergehendes Hilfsmittel, den Personalengpass in Industrie und Verkehrswesen zu decken, eher auskömmlich für bestimmte Angestelltengruppen als vom Staat geplant. Viele dieser Jobs verschwanden, als die De-Industrialisierung einsetzte, und hinterließen die Immigranten nicht nur erwerbslos, sondern auch desintegriert und eingeschlossen in ihre eigenen Viertel – als unterste Schicht von Gesellschaften, die wenig assimilative Traditionen, dafür aber langwährende Verhaltensweisen eines kolonialen Rassismus aufweisen. Darüber hinaus war mindestens die Hälfte der Neuankömmlinge, die stärkste Einzelgruppe, Muslime – mit einem religiösen Hintergrund, der den christlichen Traditionen Europas wenn nicht entgegengesetzt, so immerhin fremd ist. Das Ergebnis waren zunehmende ethnische Spannungen innerhalb jener westlichen Mitgliedsstaaten der EU, in denen sich Immigrantengemeinschaften konzentrierten. Die Bevölkerung dieser Länder wurde niemals gefragt, und ihr Ankommen von den Eliten nicht einmal groß geplant, sondern eher unbeabsichtigt verursacht durch das Füllen der Arbeitsengpässe, durch den Familiennachzug und die Asylgesetze. In keinem Falle waren die Neuankömmlinge wirklich willkommen und in nicht wenigen Ländern – Frankreich, den Niederlanden, Italien, Dänemark – sind fremdenfeindliche Parteien entstanden, deren Erfolg auf ihrer erklärten Feindschaft gegen sie beruhten.

Das Ergebnis ist in Caldwells Augen eine zunehmend entflammbare Reihe von Bedingungen, die vor allem aus drei Elementen bestehen. Obwohl die neuen innereuropäischen muslimischen Gemeinschaften in ihrer ethnischen und religiösen Herkunft durchaus unterschiedlich sind – man vergleiche nur Türken in Deutschland, Magrebiner in Frankreich, Pakistanis und Bangladeshis in Großbritannien –, sind sie dem Einfluss einer gemeinsamen Ideologie ausgesetzt: der einen oder anderen, virulent antiwestlichen Form des Salafismus. Zur gleichen Zeit wächst ihr demographisches Gewicht in den Gastländern sprunghaft, weil ihre Geburtsraten so viel höher sind als die der lokalen Bevölkerungsgruppen, die sich in Deutschland, Italien, Spanien und anderswo nicht einmal mehr auf dem alten Niveau zu halten vermögen. Die Kombination wachsender islamischer Gemeinschaften in den großen urbanen Zentren Westeuropas mit einem latenten oder offenen Salafismus hat innerhalb der EU wiederum auf zwei Wegen zu einem Verlust an Freiheit geführt. Auf der einen Seite hat die Angst vor dem muslimischen Terrorismus einen umfangreichen neuen Apparat an Staatssicherheit entstehen lassen: omnipräsente Überwachungskameras, biometrische Daten, elektronische Lauschangriffe und Vergleichbares. Auf der anderen Seite hat die Beschwichtigung des muslimischen Fundamentalismus eine zögerliche politische Korrektheit erzeugt, die zu einer neuen Form der Intoleranz wurde, indem sie die freie Meinungsäußerung dort beschränkt, wo diese islamischem Glauben und islamischen Gebräuchen gegenüber kritisch sein sollte.

Zu Beginn sagt Caldwell, dass er sowohl Alarmismus wie auch Euphemismus vermeiden möchte. Doch es besteht kein Zweifel, dass er sein Ziel eher lebhaft im zweiten Sinne erreicht. Seine Charakterisierung des allgemeinen historischen Kontrastes zwischen der Nachkriegsimmigration in die USA und nach Europa ist eine tour de force nüchterner Sachdienlichkeit und Schärfe. Unvollständig jedoch, wo seine Reflections on the Revolution in Europe wenig bis nichts sagen über jene rassistische Diskriminierung, Schikanen und Animositäten, die von Offiziellen wie Eingeborenen zugleich so reichlich ausgeteilt werden gegen Muslime oder andere ausländische Ankömmlinge. Caldwell erläutert, dass sein Buch abzielt auf »die Schwierigkeiten, die Immigration den europäischen Gesellschaften bereitet«, nicht »auf die Schwierigkeiten, mit denen Immigranten konfrontiert sind«. Die beiden Aspekte können jedoch, wie auch immer, kaum getrennt werden – als ob die handgreiflichen Erfahrungen der Immigranten mit den europäischen Gesellschaften für die von Caldwell ausgiebig dargestellte subjektive Haltung zu ihnen irrelevant wären. Stillschweigend ist er sich über diesen Aspekt der Lage natürlich im Klaren, auch wenn er sich dabei nicht lange aufhält. Es gibt jedoch noch einen anderen, größeren Aspekt, dem gegenüber er blind scheint.

In dieser Hinsicht kannReflections on the Revolution in Europe mit dem Werk eines anderen robusten, konservativen US-amerikanischen Intellektuellen verglichen werden, mit Robert Kagans Of Paradise and Power (dt.:Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin: Siedler 2003). Auch das bietet eine ruhige und gelassene Analyse der Unterschiede zwischen den USA und der EU und konzentriert sich dabei auf deren jeweilige Haltung zur militärischen Stärke und deren Gebrauch, sowie auf die historischen Gründe dieser Differenz. In beiden Fällen jedoch endet diese Klarheit an den engen Grenzen des Gegensatzes. Dahinter steht die Selbstverständlichkeit einer vollkommen konventionellen und unbegründeten Weltsicht, nach der der Westen unter dem Druck eines gewalttätigen, aus den irrationalen Ressentiments des Nahen und Mittleren Osten geborenen, religiösen Fanatismus stehe, der Chaos verbreite, wo immer er zuschlagen könne. Es sei die Infizierung mit dieser Seuche, die muslimische Gemeinschaften zu potentiell gefährlichen Brutstätten des Terrorismus in Europa mache.

Die Realität ist natürlich die, dass es der westliche Einbruch in die arabische Welt war, besonders die lang anhaltende Herrschaft über den Nahen und Mittleren Osten und ihre Wege, die in der Region, ganz verständlich, den populären Hass auf die USA und auf Europa anregen. Der lasterhafte Griff Washingtons und seiner Alliierten auf die Ölressourcen und die Klientelstaaten der Gegend, die sich um den Golf schnürenden Militärbasen, die den Irak und Afghanistan besetzenden Armeen, die Drohnen, die die Dorfbevölkerung Pakistans ausradieren, von der großzügigen Bewaffnung und Finanzierung des nuklearen Siedler-Staates Israel ganz zu schweigen, finden keinen Platz in den Reflections on the Revolution in Europe. Dass die Muslime in der EU nur wenig Anhänglichkeit für die Staaten empfinden, in denen sie leben, kann nicht wirklich überraschen im Angesicht ihrer Erfahrungen in den Heimatländern. Die britische Kollaboration bei der Invasion in den Irak, die französische Installierung brandneuer Militärbasen am Golf und die europaweite Teilhabe an der Besetzung Afghanistans sind nur die jüngsten Beispiele davon. Es ist der Imperialismus, nicht der Fundamentalismus, der der muslimischen Entfremdung von Europa zugrunde liegt.

Weil er das eine mit dem anderen vertauscht, schreibt Caldwell der Religion eine zentrale Rolle in seiner Geschichte zu. Seine Behandlung derselben vermeidet jede liberale Frömmigkeit von der grundsätzlichen Vereinbarkeit aller großen Glaubensrichtungen und nimmt stattdessen sowohl Islam wie Christentum ernst genug, um sie als inkompatible Glaubensbekenntnisse zu akzeptieren. Doch auch wenn uns der zuckersüße Ton der jüngsten Obamareden bspw. vor handverlesenen Bediensteten der Kairoer Mubarak-Diktatur erspart bleibt, so fällt doch dieselbe spezifisch US-amerikanische Note ins Auge, wenn Caldwell beiläufig erwähnt, dass es »eine Befreiung ist, wieder über Gott sprechen zu können, selbst in einer anderen Sprache«. Daraus folgt eine beständige Überschätzung der Wichtigkeit des Islams innerhalb der neuen Immigranten-Gemeinschaften in Europa. Doch nicht spiritueller Glaube, sondern materielle Bedürfnisse und Hoffnungen auf einen besseren Lebensstandard sind die treibenden Kräfte der Emigration aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten und dem asiatischen Subkontinent. Immigranten suchen eher Sicherheit und Wohlstand denn Erlösung. Wenn sie stattdessen Arbeitslosigkeit und Feindseligkeit begegnen, wird Religion jedoch leicht zum Schutzschild gefährdeter Gemeinschaften, wo sie bestimmte Grundlagen kollektiver Identität und Solidarität bietet. Doch solche Defensivfunktionen sind weit entfernt von jeder Aufforderung zum Krieg gegen die Ungläubigen. In der Vermengung beider fällt Caldwell in jenen Alarmismus, den er vermeiden wollte. Bezeichnenderweise sind es die am wenigsten religiösen Sektoren der Immigranten-Bevölkerung, die erwerbslose urbane Jugend vor allem, die die Straße eroberten, wo – wie in den großen Aufständen der französischen banlièues 2005 – wirkliche riots gegen Staat und Gesellschaft ausbrachen. Es ist auch die Angst vor Verelendung und Diskriminierung, nicht die Angst vor dem Unglauben, die für die Entfachung zukünftiger Revolten verantwortlich ist. Und die werden auch zu keiner Revolution führen – selbst wenn dies eher ein Grund des Bedauerns als der Entspannung ist.

Indem er dennoch suggeriert, dass Europa nichts desto trotz mit einer revolutionären Gefahr für sein traditionelles Wesen konfrontiert ist, übertreibt Caldwell nicht nur die Probleme, die muslimische Minoritäten – noch immer kaum mehr als fünf Prozent der westeuropäischen Bevölkerung – der EU bereiten. Er verwickelt sich auch, ungewöhnlich für einen solch überzeugenden Autor, in Widersprüche mit sich selbst . Auf der einen Seite erklärt er, dass »die kulturellen Bedingungen für eine Einheit Europas seit Dekaden nicht besser waren. Und der Islam ist Teil des Grundes, denn die erneuerte Bekanntschaft mit dem Islam hat den Europäern eine stärkere Idee dessen gegeben, was Europa ist, weil es ihnen eine stärkere Idee dessen gegeben hat, was Europa nicht ist«. Auf der anderen Seite erklärt er Europa zu einer »absteigenden Zivilisation«, in der sich schon viele Europäer selbst als Exilanten in ihren eigenen Heimatländern fühlen, weil die Anzahl der Immigranten um sie herum steigt und ein fremder Glaube sich immer bedrohlicher erhebt. Seine letzten Worte sind, dass sich »Europa mit dem Islam in einem Wettkampf um die Loyalität ihrer Neuankömmlinge befindet. Fürs erste ist der Islam die stärkere Partei in diesem Wettkampf, vor allem demographisch und, in einem weniger offensichtlichen Sinne, auch philosophisch. In solchen Umständen bedeuten Worte wie ›Mehrheit‹ und ›Minderheit‹ wenig. Wenn eine unsichere, verformbare und relativistische Kultur auf eine Kultur trifft, die verankert, selbstsicher und durch gemeinsame Ansichten gestärkt ist, ist es im Allgemeinen die erste, die die letzte zur Anpassung zwingt.«

Beide Urteile können nicht gleichzeitig stimmen. Aber sie können gleichermaßen irren – und tun dies auch. Europa wird durch die Rückkehr des Islam als seines historischen Widersachers weder zu einem neuen Sinn für Einheit wachgerüttelt, noch wird es durch den überlegenen Glauben seiner muslimischen Immigranten demoralisiert. Wenn es Grund hat zur Verwirrung, dann liegt der anderswo: in der Kombination von Unterwürfigkeit und Ressentiment, die es in seiner Rolle als ziviler Mitläufer des US-amerikanischen Hegemons an den Tag legt. Soweit es seine Beziehungen zur Welt des Islam betrifft, wäre das Beste, was Europa passieren könnte, mit Sack und Pack, und zusammen mit seinem Oberherren, aus dem Nahen und Mittleren Osten vertrieben zu werden. Das wäre eine Revolution, die dem Namen angemessen wäre.

(Übersetzung aus dem Englischen von Christoph Jünke)