von Herbert Ammon

Geschichtspolitik im Zeichen des Krieges

I

Wir – die Bundesrepublik Deutschland in und mit der Nato – befinden uns zwar noch nicht im Krieg, wie unsere Außenministerin Baerbock in einem ihrer faux-pas meinte. Nichtsdestoweniger findet hierzulande – nicht erst seit Beginn von Putins ›militärischer Spezialoperation‹, sondern seit dem Kiewer Maidan 2013/14 und der darauffolgenden Annexion der Krim – ein Meinungskrieg statt. Parteinahme ist geboten. Es gilt, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, was im Falle des auch ob seiner KGB-Praxis notorischen Putin einfach scheint. In einem solchen Krieg eine um Analyse und mögliche Konfliktlösung bemühte Position einzunehmen, bedeutete moralische Feigheit, schlimmer noch: es handelte sich um Putinismus, um Verständnis für das Böse. Ist die Sache derart geklärt, setzt die Suche nach den Wegbereitern und Parteigängern des historisch Bösen ein.

Man kann – mit den Augen eines Talleyrand – die Dinge auch anders sehen: Putins Entscheidung zum offenen Krieg war schlimmer als ein Verbrechen: sie war eine Dummheit. Das Bonmot schützt vor Naivität. Gewiss, in derlei Betrachtung des Geschehens ist der Übergang vom Realismus zum Zynismus fließend. Und umgekehrt: Die Grenzen zwischen Moral und Machtinteressen sind in der politischen Wirklichkeit oft schwer erkennbar. Während eines Krieges – im Sinne parteiischer Geschichtsschreibung naturgemäß auch danach – versagt die Fähigkeit zur kritischen Analyse und zur Differenzierung bezüglich seiner Vorgeschichte.

Genug der Vorrede: Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges wird von einigen Kommentatoren die politische Weisheit, nicht zuletzt die Lauterkeit der zu Zeiten der deutschen Teilung unter Bahr-Brandt initiierten ›Ostpolitik‹ in Frage gestellt. Insbesondere der langjährige Brandt-Vertraute und als ›Architekt der Ostpolitik‹ bekannte Egon Bahr steht posthum unter Verdacht, als ›linker Nationalist‹ kontinuierlich im Zusammenspiel mit Moskau die Sache der Freiheit und der Menschenrechte zugunsten eines – zweistaatlich definierten – deutschen Nationalinteresses preisgegeben zu haben.

II

Die Debatte eröffnete Heinrich August Winkler mit einem Aufsatz zum Gedenken an Egon Bahrs Tutzinger Rede 1963 über ›Wandel durch Annäherung‹ (H.A.W.: »Der Tabubruch von Tutzing«, in: FAZ v. 10. Juli 2023). Winkler würdigte die im Zeichen des Kalten Krieges unternommenen Schritte der sozialliberalen Koalition zur Überwindung des in Hitlers Krieg begründeten, durch unklare, als ›revisionistisch‹ und friedensgefährdend wahrgenommene, westdeutsche Rechtspositionen befestigten Spannungszustands in der Mitte Europas. Dazu gehörte insbesondere die in den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) festgeschriebene Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße als Voraussetzung für eine anzustrebende europäische Friedensordnung.

Bereits der Hintergrund der ›neuen Ostpolitik‹, konzeptionell hervorgegangen aus dem – zwischen Konfrontation und ›Entspannung‹ oszillierenden – Ost-West-Konflikt, letztendlich aus der durch den Mauerbau 1961 entstandenen Zwangslage, kommt in Winklers Ausführungen gegenüber den politisch-ethischen Aspekten der Ostpolitik nicht hinreichend zur Geltung. Die realpolitischen Brandt-Bahrschen Nahziele – vertraglich gesicherte Erleichterungen für West-Berlin sowie die Bewahrung des nationalen Zusammenhalts durch den Grundlagenvertrag mit der DDR – waren verknüpft mit dem nationalen Fernziel der Überwindung der deutschen Teilung.

Egon Bahr berief sich auf Kennedy: Es komme darauf an, den Status quo anzuerkennen, um den Status quo zu überwinden. Die Voraussetzungen für den Erfolg eines solchen Konzepts waren fünffach: 1) die Unumkehrbarkeit des Entspannungsprozesses zwischen den ›Supermächten‹
2) der Abbau der Militärblöcke und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems
3) die Rückgewinnung der vollständigen deutschen Souveränität, wenngleich in Gestalt der zwei existierenden Staaten
4) das vertraglich fixierte, wachsende Einvernehmen der deutschen Staatsführungen, zwischen deutschen Patrioten auf beiden Seiten
5) das Interesse Moskaus an einem stabilen Friedenszustand jenseits der bestehenden Antagonismen
(5a) der Schlüssel für die deutsche Einheit liegt in Moskau).

Man kann – ex post – an den genannten Prämissen zweifeln. Nichtsdestoweniger hätte es ohne dieses Konzept und dessen Umsetzung in den ostpolitischen Verträgen in den 1970er Jahren keinerlei politische Bewegung nach ›vorn‹, sprich hin zu einem Status quo plus im geteilten Deutschland gegeben. (Mir persönlich ging die erhoffte Status-quo-Überwindung zu langsam. Andererseits konnte – dank ›Ostpolitik‹ – anno 1983 Franz-Josef Strauß zwei Milliardenkredite an die wirtschaftlich marode DDR übermitteln, was die Erosion des SED-Regimes – und den Mauerfall – letztlich beförderte.)

Kein Zweifel besteht, dass die fünfte Voraussetzung erst 1985 mit dem Machtantritt Gorbatschows eintrat und dieser sein – alsbald zum Scheitern verurteiltes – Reformprogramm mit der Rede vom ›gemeinsamen Haus Europa‹ verknüpfte. Maßgeblich für die weitere Entwicklung im östlichen Mitteleuropa war Gorbatschows Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, d.h. auf den sowjetischen Interventionsanspruch im eigenen Machtbereich.

Erst nach und nach näherte sich Gorbatschow, mit Beratern wie Georgi Arbatow, Alexander Jakowlew und Valentin Falin, auch der deutschen Frage. Man dachte an einen evolutiven Prozess, mitgetragen von einer reformbereiten DDR-Regierung. Nicht eingeplant war die sich seit September 1989 abzeichnende ›friedliche Revolution‹ in der DDR, geschweige denn der Mauerfall. Die umfassende Krise im Innern der Sowjetunion sowie die durch den Mauerfall entstandene neue weltpolitische Konstellation bewogen Gorbatschow – nach längerem Zögern bezüglich der Nato-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands – zur Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung im Kontext der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen.

Innerhalb des alten Machtapparats stießen Gorbatschows Reformstrategien (›Glasnost‹ und ›Perestroika‹ von Anbeginn auf Widerstände. Sie eklatierten in dem im August 1991 gescheiterten Putsch von Militärs und Geheimdienstlern, die weder die von Gorbatschows Rivalen Boris Jelzin betriebene Auflösung der Sowjetunion noch den Verzicht auf das – mit 400 000 sowjetischen Truppen in der DDR gesicherte – Machtglacis hinnehmen wollten. Ein erfolgreicher Putsch zu einem früheren Zeitpunkt – etwa noch in der Phase zwischen Mauerfall und dem 3. Oktober 1990 – hätte nicht nur die deutsche Einheit verhindert, sondern – unter blutigen Szenen – die alten Machtverhältnisse in ganz Mitteleuropa wiederhergestellt.

Seit dem Mauerfall, erst recht seit der in wenigen Monaten anno 1990 vollzogenen staatlichen Neu- (oder ›Wieder‹-)vereinigung findet ein parteipolitischer Streit über die Bedeutung der Ostpolitik für die Wiedergewinnung der deutschen Einheit statt. Wenngleich heute weniger emphatisch, messen meist sozialdemokratische Verteidiger der ›neuen Ostpolitik‹ das Verdienst zu, durch die über Jahre hin gepflegten friedenspolitischen Beziehungen zur Sowjetunion den Wandel unter Gorbatschow ermöglicht und befördert zu haben.

Ihre Gegner – meist zu finden bei den Grünen und bei der CDU/CSU – werfen den einstigen Protagonisten der „Ostpolitik“ die machtpolitische Fragwürdigkeit des auf „Entspannung“ basierenden Gesamtkonzepts, gravierende Fehler in der Raketen- und Sicherheitsdebatte anfangs der 1980er Jahre und insbesondere Versagen in der Fragen der Menschenrechte vor. In der aktuellen, durch die „Zeitenwende“ ausgelösten Debatte um die einstige „Ostpolitik“ fungiert Egon Bahr als bête noire, während Willy Brandt von Attacken verschont bleibt.

III

In einem Leserbrief bezieht sich Gerhard Baum, von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, von Juni 1978 bis September 1982 Innenminister, auf Winklers Kritik an den »Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Egon Bahr in den verschiedenen Phasen der Ostpolitik«. ( https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom-17-juli-2023-19037905.html).

Baum reklamiert für sich und die damaligen ›Deutschen Jungdemokraten‹, sie hätten innerhalb der FDP den Weg in die sozialliberale Koalition Brandt-Scheel im September 1969 geebnet. Mit ihren progressiven Vorstößen gegen die alten ›Nationalliberalen‹ in der Partei gehörten er und seine Mitstreiter, begleitet von ›Zweifeln‹ an Ziel und Wegbeschreibung zu den Wegbereitern der ›Ostpolitik‹. Das ist nicht unrichtig. Was die Ausführungen zur deutschen Einheit, zu den Verfehlungen Egon Bahrs einerseits und zu den spezifischen Leistungen Genschers andererseits betrifft, bedarf Baums Leserbrief indes einiger Korrekturen.

Baum schreibt: »Wir wollten eine Reformkoalition, die unter anderem den Kalten Krieg beenden sollte.« Offenkundig standen diesem Ziel eben jene Machtrealitäten im Wege, die Egon Bahr schrittweise überwinden wollte. Entsprechend attestiert Baum dem Realpolitiker Bahr, er habe »am Anfang des Prozesses (der ›Ostpolitik‹) »eine kluge Strategie entwickelt«. Danach sei Bahr sehr bald auf politische Abwege geraten.

Zu den Sünden Bahrs zählt Baum, der seinerseits stets die ›berechtigten Interessen‹ und Freiheitsbestrebungen der Osteuropäer im Blick hatte, den angeblichen Verzicht auf die deutsche Einheit. Bereits in der Frühphase habe Bahr eine »zögernde bis ablehnende Haltung zu dem den Verträgen beigegebenen ›Brief zur deutschen Einheit‹« an den Tag gelegt. Hier trügt Baums Erinnerung. Es war Egon Bahr, dem es während der zähen Verhandlungen in Moskau gelang, seinem Gegenüber, dem sowjetischen Außenminister Gromyko, eben jenes Zugeständnis abzuhandeln. Als Argument diente der Verweis auf das Bundesverfassungsgericht.

Dass Bahr – von 1974-1976 als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – anno 1975 bei der KSZE-Konferenz in Helsinki bereit gewesen sei, der Forderung Breschnews auf endgültige Anerkennung der innerdeutschen Grenze nachzugeben, bedarf geschichtswissenschaftlicher Überprüfung in den Akten. Es trifft hingegen zu, dass Bahr im Streit um neue Mittelstreckenraketen (›auf deutschem Boden‹) ein Gegner des Nato-Nachrüstungsbeschlusses und Helmut Schmidts war. Der Bruch der sozialliberalen Koalition geht insofern auch auf sein Konto. Nicht ganz abwegig ist Baums These, der Nato-Doppelbeschluss sei ein »wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung« gewesen. Zu ergänzen wäre: der etwa zeitgleiche sowjetische Einmarsch in Afghanistan.

Baum wirft Bahr nicht nur die Missachtung der Solidarnosc-Bewegung in Polen vor, sondern auch, dass er – das für die Ostpolitik stets maßgebliche – Ziel der deutschen Einheit als ›eher nachrangig‹ betrachtet habe. Eine solche Wahrnehmung, die sich in den 1980er Jahren während der SPD-SED-Sonderbeziehungen aufdrängte, wird widerlegt durch das 1988 von Bahr verfasste schmale Buch Zum europäischen Frieden. Eine Antwort an Gorbatschow. Darin plädierte Bahr – immer noch im Rahmen seines alten Konzeptes – für weitere Abrüstung, für Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten, die Wiedergewinnung der vollen Souveränität mit dem Recht – und dem Ziel – der deutschen Einheit.

Baum schließt mit der kühnen These, Bahr habe »nach 1989 alles versucht, um den Zwei-plus-vier-Vertrag« zu verhindern. Zudem habe er mit der »Falin-Gruppe in Moskau« gegen Gorbatschow konspiriert. Richtig ist, dass Bahr – anders als sein Freund Willy Brandt – nach dem Mauerfall eine Zeitlang noch zögerte, den schnellen Zug zur deutschen Einheit zu besteigen. Schließlich scheint Baum vergessen zu habe, dass auch der von ihm als Gegner Bahrs und Vorkämpfer der deutschen Einheit gerühmte Genscher in der kritischen Anfangsphase von 2+4 für ein paar Wochen die Neutralität des zu vereinenden Deutschland in den Raum stellte.

IV

Angestoßen von Gerhart Baums ›Enthüllungen‹ über Egon Bahr hat der Tagesspiegel-Redakteur Daniel Friedrich Sturm die Vorwürfe gegen den einstigen ›Architekten der Ostpolitik‹ in einem langen Artikel noch einmal zugespitzt. (https://www.tagesspiegel.de/politik/gerhart-baums-enthullungen-ein-harscher-vorwurf-gegen-egon-bahr-10165000.html ) Er bemerkt und moniert, dass Bahr »seine nationale Ader immer wieder« gezeigt habe, »ebenso seine Distanz zur Nato«. Sodann übernimmt er die These Baums von der Nachgiebigkeit Bahrs gegenüber der sowjetischen Forderung nach Endgültigkeit der innerdeutschen Grenze vor der KSZE-Konferenz 1975.

Unverzeihlich findet Sturm das ostentative Desinteresse Bahrs an den Bürgerrechtlern in der DDR. Mehr noch, Bahr habe gegen »die Gründung der SPD in der DDR« – gemeint ist wohl die Gründung der SDP im September 1989 – »intrigiert«. In der Phase der friedlichen Revolution 1989/90 sei das Verhältnis zwischen dem als Bremser wirkenden Bahr und dem von Freude über die Revolution erfüllten Brandt »zerrüttet« gewesen. Last but not least habe Bahr auch nach der Krim-Annexion Putin als »berechenbar erklärt« und die Krim als Teil Russlands betrachtet. (Anm.: Nicht anders äußerte sich vor seinem Tod im August 2014 der geschichtskundige Peter Scholl-Latour.)

Dass SPD-Leute, »selbst kluge Köpfe wie Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz«, bis heute das späte Zerwürfnis zwischen Bahr und Brandt nicht wahrhaben wollten, beweise deren »frappierende geschichtspolitische Ignoranz.« Der Satz des Bahr-Kritikers Sturm enthüllt ungewollt den Kern der Debatte über die historische Rolle Egon Bahrs, nach einem Bonmot Willy Brandts: unter uns der letzte Deutschnationale.

Es geht nicht um die kritische Rekonstruktion der Bahrschen ›Ostpolitik‹, um die Abwägung ihrer Verdienste, Grenzen und Schwächen, sondern um die Durchsetzung geschichtspolitischer Thesen zum Zwecke politisch-moralischer Eindeutigkeit in der Gegenwart. Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts, in dem Moral und Macht eindeutig zu unterscheiden seien, werden die vermeintlich amoralischen, realpolitischen Kategorien Egon Bahrs als verwerflich empfunden.