von Lutz Götze

Der dritte Oktober wird der ›Tag der deutschen Einheit‹ genannt. Er ist es nicht.

Auch im Jahre 2022, dreiunddreißig Jahre nach dem Mauerfall, ist die Mehrheit der Deutschen in Ost und West davon überzeugt, dass das Datum falsch gewählt worden sei. Nur Wenige wüssten überhaupt, woran es erinnere.

Festgesetzt wurde dieses Datum lediglich, um dem Gründungsdatum der Deutschen Demokratischen Republik – 7. Oktober 1949 – zuvorzukommen. Die unselige Erinnerung daran sollte nicht fortbestehen. Also beschloss die Volkskammer der DDR am 3. Oktober 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes. Reicht aber diese Entscheidung aus, um die Wiedervereinigung Deutschlands auch fürderhin an diesem Tage zu feiern?

Mitnichten. Die Wirklichkeit beweist, dass der Mehrzahl der Deutschen dieses Jubiläum herzlich egal ist. Sie nutzen den freien Tag, um auszuschlafen, oder genießen, wie 2022, ein verlängertes Wochenende. Die Jubiläumsfeiern, in diesem Jahre in Erfurt, haben einen eher zwanghaften Charakter.

Gäbe es eine Alternative? Natürlich! Der neunte November wäre in jeder Hinsicht besser geeignet. Er ist, ohne jedes Pathos, der Schicksalstag der Deutschen: sogar gleich viermal. Zweimal im schlechten, zweimal im guten Sinne.

Zunächst das Schlechte: Am 9. November 1923 marschierten Adolf Hitler und seine braunen Horden zur Münchner Feldherrnhalle, um die junge Republik zu stürzen. 1938 brannten am 9. November die Synagogen und leiteten die ›Endlösung der Judenfrage‹ ein. Die Pogromnacht, euphemisierend und die Sprache der Nazis unreflektiert übernehmend, ›Reichskristallnacht‹ genannt, ging als eines der düstersten Kapitel in die deutsche Geschichte ein.

Nun das Gute: Am 9. November 1918 wurde vom Balkon des Berliner Schlosses die Republik proklamiert. Und schließlich endete mit der Verkündigung des neuen Reisegesetzes durch Günter Schabowski die DDR am 9. November 1989: Am Abend fiel die Mauer, taten die ›Mauerspechte‹ ihr Werk und fluteten die Ostberliner in Massen den Kurfürstendamm, um freilich, pflichtbewusst, am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit zu gehen. Eitel Freude allenthalben! Menschen, die sich über Jahre hinweg nie hatten sehen können, lagen sich in den Armen, Tränen flossen.

Dem Rausch folgte alsbald der Kater. Des Altkanzlers Brandt Wort, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehört, erfüllte sich nicht unmittelbar und auch nicht nach einigen Jahren. Heute, im dritten Jahrzehnt nach dem Mauerfall, ist die Trennung zwischen Ost und West eher gewachsen denn geringer geworden. Das hat viele Ursachen: Die wichtigsten liegen im sozial-kulturellen Bereich. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den fünf ›neuen‹ Ländern wird schlechter bezahlt als im Westen, die Rentner erhalten niedrigere Beträge. Sie leiden unter den gewaltig gestiegenen Kosten für Gas und Kohle, erleben beim Einkauf drastisch erhöhte Lebensmittelpreise und sehen, dass in den Führungsetagen von Wirtschaft und Politik sehr wenige Ostdeutsche sitzen. Sie empfinden sich, unverändert, als Menschen zweiter Klasse. Dass es auch im Westen ganze Landstriche gibt, die vom Wohlstand abgekoppelt sind, wollen sie nicht wahrhaben oder wissen es nicht. Führen sie einmal in das Ruhrgebiet, in das Saarland oder die Oberpfalz, würden ihnen die Augen geöffnet. Doch dorthin reisen sie nicht. Lieber pflegen sie ihre Vorurteile.

Auch im Kulturellen ist die Spaltung erkennbar. Vielen Ostdeutschen ist die Lebensart mancher Westdeutscher – geprägt durch Jahre der Verbindungen nach Frankreich, Italien und Übersee – eher fremd, ihre Sprache unverständlich. Man gebraucht gleiche Wörter und versteht darunter völlig Unterschiedliches in Ost und West. Im Osten konzentrieren sich Viele daher auf das Vertraute und Traditionelle. In diesem, gelegentlich trüben, Wasser fischen Verschwörungsmystiker und Rechtsradikale und finden mit ihren Parolen reichen Zuspruch: Der Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen oder die Gasleitung ›Northstream II‹ steht lediglich stellvertretend für andere Auseinandersetzungen.

Damit in Zukunft von einem geeinten Deutschland nicht nur geredet wird, sondern dies der Wahrheit entspricht, braucht es daher soziale Regelungen wie Angleichung der Löhne und Renten im Osten an das Westniveau, aber auch mehr Begegnungen, Gespräche und Toleranz gegenüber dem Anderen. Daran mangelt es auf beiden Seiten; die Westdeutschen haben, auch aufgrund ihrer Geschichte, eine größere Bringschuld. Vor allem sie müssen lernen, dass eine anders geartete Biografie anerkannt werden muss, um zum Verstehen zu führen.

Das Datum des dritten Oktober, mag mancher sagen, spiele in diesem Prozess eine eher marginale Rolle. Das ist falsch. Der neunte November als Ehrentag würde die Leistung vieler Ostdeutscher beim Sturz des Unrechtsstaates DDR würdigen und die Erinnerung an wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte wachhalten. Er würde zugleich das Verbindende von Menschen in Rostock und München, in Köln und Leipzig sowie in Frankfurt und Erfurt betonen und das Trennende zurückdrängen.

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