Anmerkungen zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik

von Johannes R. Kandel

Geschichte, ›Political Correctness‹ und ›Cancel-Culture‹

In unserem geistigen und politischen Leben hat sich die transnationale Bewegung der ›Political Correctness‹ nachhaltig etabliert und definiert mit einem ständig erweiterten ›Kanon‹ von Sprachanordnungen und gesellschaftlich ›korrekten‹ Verhaltensvorschriften die öffentliche Kommunikation und das soziale Leben. Ursprünglich in den siebziger Jahren an amerikanischen Universitäten als Instrument zur Verbesserung von Bildungschancen ›unterprivilegierter‹ Gruppen entwickelt (›affirmative action‹), hat sich die Bewegung zu einem veritablen gesellschaftlichen »Tugendterror« (Thilo Sarrazin) entwickelt. Angefeuert und bedrängt von zahllosen – meist linksorientierten NGOs – folgt die Politik längst den Leitlinien einer immer uferloser und grotesker werdenden ›Political Correctness« (PC). Der tragische Tod des farbigen US-Amerikaners George Floyd im Mai 2020 löste eine neue, geradezu hysterische Welle der PC aus, die sich inzwischen zu einer gewalttätigen ›Cancel-Culture‹ gesteigert hat, die der Psychologe Kolja Zydatiss treffend als »die neue Kultur des Ausgrenzens und Stummschaltens« bezeichnet und die die Demokratie massiv gefährdet. Er bietet dafür zahlreiche Beispiele und gute Hintergrundanalysen. (Zydatiss, Cancel Culture, 2021, S. 17ff.). Gegenwärtiger Hauptprotagonist dieser ›Kultur‹ in den USA ist die gewalttätige Bewegung ›Black Lives Matter‹ (BLM), die aber auch in Deutschland einige öffentliche Auftritte zu verzeichnen hatte. ›Ge-cancelt‹ werden soll alles, was den ›antirassistischen‹, ›antifaschistischen‹ und ›post-kolonialistischen‹ Ideologen nicht passt. Die Zielobjekte des politisch korrekten Furors betreffen in starkem Maße auch die Geschichte und somit die Vergangenheitspolitik. Staatlich erwünschte Geschichtsbilder werden in Wissenschaft, Bildung und öffentlichem Diskurs durchgesetzt, was sich sowohl durch Personalpolitik, inhaltliche Vorgaben als auch qua Zuweisung bzw. Verweigerung von Finanzmitteln befördern lässt (›State-Sponsored History‹).

Die Leitmedien in den USA und Großbritannien begleiten sowohl die staatliche Vergangenheitspolitik als auch die NGO-gesteuerte Sprachpolizei und ›Cancel Culture‹ mit Sympathie und einseitiger Parteinahme. In Großbritannien wehrten sich 150 bekannte Autoren, allen voran die Harry Potter Erfinderin J.K. Rowling, mit einem Offenen Brief gegen diese Unkultur der öffentlichen und sozial fatalen Verfemung von Andersdenkenden und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Obwohl dieser Brief noch recht zahm abgefasst war und die Autoren die ›Black Lives Matter‹ Bewegung sogar guthießen, ernteten sie hasserfüllte ›Shitstorms‹ in den sozialen Netzwerken und üble Kommentare in den Leitmedien. Schier unaufhaltsam schritt die ›Cancel-Culture‹ voran. Im Juli 2020 kippten ›Antirassisten‹ die Statue des ›Sklavenhändlers‹ Edward Colston in das Hafenbecken von Bristol und in London wurde die Statue Winston Churchills beschmiert und mit einem Plakat (›Was a racist‹) ›verziert‹.

Die Wut der empörten Vergangenheits-Putzkolonnen richtete sich dann auf Großbritanniens koloniales Erbe. Hier sollte endlich aufgeräumt werden. Nur mit Mühe und großem Einsatz von Historikern und z.B. der Kampagne ›Save Our Statues‹ (https://saveourstatues.org.uk/) gelang es, die Statue von Cecil Rhodes vor der Entfernung aus dem Royal College in Oxford zu retten. Die schon erfolgte Entfernung des Bildes der Queen aus dem Magdalen College konnte man allerdings nicht mehr rückgängig machen.

Vor ehrwürdigen Musiktraditionen schrecken die selbsternannten ›Anti-Imperialisten‹ genauso wenig zurück wie vor Artefakten traditionsgebender Kunst. Ihre beharrliche Propaganda zeigte schon bemerkenswerte ›Erfolge‹: Die BBC entschied im September 2020, dass das patriotische Lied Rule Britannia (von James Thompson getextet, Musik von Thomas Arne, 1740), das traditionsgemäß am Ende des großen Konzertereignisses ›Night of the Proms‹ gesungen wird, nur noch instrumental vorgetragen werden solle. Der Text sei imperialistisch und daher unzeitgemäß. Der berühmte Künstler Jonathan Myles-Lea, bekannt für seine brillianten Gemälde von Country Houses, sprach zu Recht von einem ›Kulturkrieg‹, der im Gange sei und präsentierte eine Reihe geradezu erschütternder Beispiele für die vergiftende Politisierung des Kunstbetriebes im Sinne der ›Cancel-Culture‹. Das Restaurant der ›Tate‹ Galerie in London, seit 1927 mit einer beeindruckenden Wandbemalung des Künstlers Rex Whistler (1905-1944) verziert (›The Expedition in Pursuit of Rare Meat‹), geriet deshalb in das Fadenkreuz der ›Cancel-Culture‹ Zensoren. Irgendwo in dem Gemälde ist ein kleines schwarzes angekettetes Kind zu sehen. Man muss schon mit der Lupe suchen, um das herauszufinden. Das reichte für eine massive Kampagne gegen das Wandgemälde. Der dadurch ausgelöste Protest verhinderte bislang eine Übermalung. Aber dies ist nur ein Beispiel. Der Angriff der ›woke‹-Ideologen (von ›awake‹ = erwache!). expandiert. Myles-Lea konstatierte resignierend: Culture is dead. R.I.P. (Celebrating Britain & Beauty - and the Threat Woke Radicals Pose To Our Culture & Heritage – https://www.youtube.com/watch?v=D-pDbMs4XMs)

Die BBC ist schon seit Jahren eifriger Förderer der ›woke‹-Ideologie. Das wohl groteskeste Beispiel objektiver Geschichtsverfälschung lieferte der Sender mit der Produktion der TV-Serie Anne Boleyn. Die Verfilmung des Lebens der unglücklichen Geliebten Heinrichs VIII. (hingerichtet am 19. Mai 1536) geriet zur Posse. Mit der Hauptrolle wurde die farbige US-amerikanische Schauspielerin Jodie Foster-Smith betraut. Sie mag ja eine gute Schauspielerin sein, doch für diese Rolle ist sie schlicht ungeeignet. Das hat nichts mit ›Rassismus‹ zu tun. Anne Boleyn war nun einmal ihr Leben lang eine weiße Frau. Doch den großen Filmgesellschaften und TV-Networks sitzt schlicht die panische Angst im Nacken, wegen angeblich fehlender ›politischer Korrektheit‹ ›shitstorms‹ auszulösen, Einschaltquoten zu verlieren oder gar Boykottmaßnahmen mit finanziellen Folgen zu gewärtigen. Sie haben sich u.a. die Strategie ›Colour-Blind-Casting‹ ausgedacht und verfolgen nun diese Agenda mit großem Eifer. Im nächsten Luther-Film wird die Hauptrolle gewiss mit Morgan Freeman oder Denzel Washington besetzt.

Es hat den Anschein als fielen Parteien, Behörden, Wirtschaftsverbände, Medienapparate, renommierte Institutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Kirchen ohne Gegenwehr dem ›Cancel-Culture‹ Wahnsinn zum Opfer. Dafür noch einige wenige Beispiele aus Großbritannien, das, abgesehen von der Untätigkeit gegen den Islamismus, sich offenbar als Musterschüler den Antirassisten andienen will. Die Kniefall-Unterwerfungsgesten der englischen Nationalmannschaft sind hierfür eine genauso ärgerliche wie lächerliche Aktion, denn vor wem oder was neigt man die Knie? Ist der ›Antirassismus‹ eine heilige Monstranz vor der alle niederfallen müssen? Hier ist eher der Vergleich mit dem Gesslerhut aus Schillers Wilhelm Tell angezeigt. Es wird deutlich wie stark unsere Alltagswelten (in diesem Falle der Fußballsport) bereits von der ›antirassistischen‹ Propaganda durchzogen sind.

Erheblich schwerwiegender sind Vorgänge im renommierten britischen National Trust (NT), der weltweit größten gemeinnützigen Dachorganisation zur Erhaltung und Betreuung des historischen nationalen Erbes. Schon seit längerem ist eine fatale Politisierung des NT in Richtung auf die Durchsetzung einer ›antikolonialistisch-antiimperialistischen‹ Agenda zu konstatieren. Um sich als besonders ›trustworthy‹ für die Aktivisten der ›Cancel Culture« zu präsentieren, verfertigten vier Kuratoren einen hastig zusammengestoppelten Report in dem sie über neunzig Objekte (Orte, Häuser etc.) markierten, die, weil in ihnen die vermeintlichen Untaten des British Empire versteinert seien, nur noch besucht werden sollten, um die Übel des britischen Imperialismus zu demonstrieren. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass das Empire und die Sklaverei ein und dieselbe Sache seien. Beraten ließ sich die Redaktionsgruppe des Reports von einer notorischen ›Antikolonialistin‹, Professor Corinne Fowler von der Universität Leicester, die dort ›post-kolonialistische Literatur‹ lehrte. Fachhistoriker wurden nicht zu Rate gezogen. Mit dieser ›Expertin‹ im Hintergrund war sehr klar, wohin der NT steuerte: in eine von der ›woke‹-Ideologie (=›erwachen‹) gesteuerten multikulturellen Identitätspolitik, die sich der selektiv markierten und pejorativ besetzten dunklen Geschichte der Sklaverei bediente, um politisch zu punkten. Ein klassischer Fall von manipulativer Geschichtspolitik! Der ›National Trust‹ hat vor der postmodernen Bilderstürmerei bedingungslos kapituliert.

Ebenso beeilte sich die 1942 gegründete, gemeinnützige ›Entwicklungshilfeorganisation‹ Oxfam dem linken Zeitgeist zu entsprechen und positionierte sich mit einer offenen Unterstützung der ›woke‹-Ideologie. In einer Studie über ›Rassengerechtigkeit‹, die an die 1800 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter versandt wurde, forderte man diese auf, sich als ›non-racist‹, ›anti-racist‹ oder ›non/either‹ einzuordnen. Zugleich, um die Entscheidungsfindung zu lenken, präsentierte man eine ›woke‹-kompatible Definition von ›Whiteness‹: ›Whiteness‹ ist für Oxfam »the overarching preservation of power and domination oft he white people«. Das ist inhaltlich genau die Definition, die von den Vertretern der ›Critical Race Theory‹ proklamiert wird. (Oxfam scandal 2021: Charity embroiled in new white privilege row over racial survey | UK – https://www.express.co.uk/news/uk/1456426/oxfam-scandal-2021-latest-racial-justice-service-white-privilege)

›The Case for Colonialism‹

In Schnappatmung verfielen zahllose akademische Linke in den USA und Großbritannien als der Sozialwissenschaftler Bruce Gilley von der Universität Portland 2017 einen Artikel veröffentlichte, in dem er differenziert das düstere Bild des Kolonialismus korrigierte und auch objektiv positive Seiten (›benefits‹) der ›colonial era‹ herausstellte (The Case for Colonialism, Third World Quarterly, 2017). Daraufhin erhob sich ein Proteststurm entrüsteter ›Anti-Kolonialisten‹. Sie argumentierten weniger in der Sache als brachial politisch und ideologisch. Historische Argumente spielten – so Gilley – so gut wie keine Rolle. Aus politischen Gründen wird bis heute eine immerwährende Skandalgeschichte des Kolonialismus konstruiert um gegen Konservative und ›Reaktionäre‹ zu punkten. Die an westlichen Universitäten lehrenden, gut betuchten ›antikolonialistischen‹ Akademiker haben sich nie darum gekümmert, auch die ›benefits‹ des ja sehr unterschiedlich praktizierten Kolonialismus zu ermitteln (Gilley, Verteidigung des deutschen Kolonialismus, 2020). Noch weniger berücksichtigten sie die humanitären, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Kosten der zahlreichen ›antikolonialistischen Befreiungskriege‹ und Bürgerkriege, die gegen die ›Skandalchronik‹ des Kolonialismus gegengerechnet werden müssten (z.B. Guinea-Bissau, Mozambique, Somalia etc.). Eine Petition gegen die Veröffentlichung wurde in Stellung gebracht (mit 10.000 Unterschriften), die Herausgeber des ›Third World Quarterly‹ wurden übelst beschimpft und erhielten schließlich Todesdrohungen wie der Autor auch. Aufgrund der brutalen verbalen Attacken zogen die Herausgeber den Artikel zurück und fünfzehn Mitglieder des ›Board of Editors‹ quittierten ihren Job. Immerhin wagte es die ›National Association of Scholars‹ (NAS) den Artikel im Sommer 2018 erneut vollständig zu veröffentlichen. Bis heute wogt der Streit hin und her (The Case for Colonialism by Bruce Gilley – https://www.nas.org/academic-questions/31/2/the_case_for_colonialism) Im Dezember 2019 beging Gilley die unverzeihliche Sünde, einen Vortrag über den deutschen Kolonialismus vor der Bundestagsfraktion der AfD zu halten. Er bescheinigte den Deutschen, sie müssten sich nicht für ›ihren‹ Kolonialismus entschuldigen oder gar Wiedergutmachung leisten. Sogleich wurde er von FAZ Redakteur Oliver Georgi als ›revisionistischer amerikanischer Professor‹ abgewatscht. ›Danke für die Unterdrückung‹ polemisierte der selbsternannte Kolonialismus-Experte noch bevor er Gilleys Vortrag überhaupt gehört hatte. Alles was Gilley behaupte, sei ›unwissenschaftlich‹ und rechtfertige die grausame Politik des deutschen Kolonialismus. Die von Gilley erhobenen Fakten zu seinen Thesen wurden nicht geprüft. Gilley hat inzwischen seine Analysen des deutschen Kolonialismus in dem lesenswerten Buch Verteidigung des deutschen Kolonialismus zusammengefasst (Edition Sonderwege, 2021). Das Kolonialismus Narrativ als ›schwarze Legende‹ bleibt Bestandteil der linksgrünen ›antirassistischen‹ und ›antifaschistischen‹ Agenda und wird immer wieder neu aufgeheizt.

Gilleys Beispiel demonstriert mit fataler Dramatik wie stark an den amerikanischen Universitäten, befeuert von den wichtigsten Leitmedien ›post-koloniale‹ Theorien, gepaart mit einer gegen Freiheit und bürgerrechtliche Gleichheit gerichteten ›Critical Race Theory‹, inzwischen dominieren. Der postmoderne Relativismus Foucaults und Derridas ist der Urboden auf dem auch Neubewertungen der vermeintlich permanenten Gewaltgeschichte des Kolonialismus gedeihen. Einer der Chefideologen der ›Critical Race Theory‹, obgleich nicht ihr ›Erfinder‹, ist der aus Jamaika stammende US-Amerikaner Ibram X. Kendi, der gegenwärtig an der University of Boston Geschichte und internationale Politik lehrt. An der Universität hat er das ›Center for Antiracist Research‹ aufgebaut und widmet sich nun seit Jahren dem Kampf gegen ›Rassismus‹. Sein internationaler Bestseller How to be an Antiracist (auf Deutsch, 2020) wurde weltweit rezipiert und gefeiert, gerade auch von deutschen Autoren (Alice Hasters, Mohamed Amjahid). Für Kendi gibt es buchstäblich nur ›schwarz‹ und ›weiß«. Mit religiösem Eifer verfolgt er, wie er bekennt, eine ›Mission‹: »A mission to uncover and critique America’s life of racist ideas turned into a mission to uncover and critique my life of racist ideas, which turned into a lifelong mission to be antiracist«.( How To be An Antiracist, S. 228). Er belehrt uns, dass in allen Sektoren der Gesellschaft und Lebenswelten der ›Rassismus‹ regiere: biologisch, ethnisch, kulturell. Wer in diesen gesellschaftlichen Feldern Unterschiede zwischen Individuen und Kollektiven zu konstatieren glaube, sei ›rassistisch‹ (How To be An Antiracist, S. 20f.). Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus, Diskriminierung, ja sogar der Klimawandel, alles ist das Werk des weißen Mannes. Die ›Whiteness‹ verkörpere das elementare Böse, gleichwohl trete es in sehr verschiedenen Dimensionen auf und betreffe Schwarze und Weiße sowohl offen als auch versteckt. Er vergleicht Rassismus mit einem sich rasch ausbreitenden Krebs, dessen zerstörerische Kraft er an sich und in seiner Familie in tragischer Weise selbst erfahren habe. Rassismus, so schlussfolgert er, »is one of the fastest-spreading and most fatal cancer humanity has ever known« (How To be An Antiracist, S.238). Es scheint ihm nicht aufzufallen, dass er mit diesem Biologismus seiner Grund-these, der Rassismus sei ein Machtkonstrukt, um die weiße Herrschaft zu befestigen, diametral widerspricht. Rassismus sei nur mit ›Antirassismus‹ zu bekämpfen, rassistische Diskriminierung nur mit antirassistischer Gegendiskriminierung. Er sympathisiert mit ›Black Lives Matter‹ und schlägt Maßnahmen gegen Rassismus vor, etwa durch ein ›Ministerium für Antirassismus‹, das, mit weitreichenden exekutiven Befugnissen ausgestattet, ›rassistische‹ Elemente in Recht, Politik und Alltagswelt eliminieren solle. Treffend schreibt René Pfister: »Es wäre die Abschaffung der Demokratie im Namen des Fortschritts – eine orwellsche Dystopie« (Ein Hauch von Nordkorea, SPIEGEL, Nr. 25, 18. Juni 2021).

Für unsere deutsche Debatte über den Holocaust, die ja, wie bereits erwähnt, in Fachwissenschaft und Öffentlichkeit nur schleppend in Gang kam, haben diese Entwicklungen überaus schwerwiegende Konsequenzen. Da werden (unbestrittene) brutale kolonialistische Herrschaftspraktiken, Gewaltaktionen und Vertreibungen zum Genozid erklärt und eine Kontinuität zum Holocaust konstruiert. Unvermeidlich habe der Kolonialismus Genozide generiert und die Leiderfahrungen der Betroffenen müssten in eine globale Perspektive gestellt werden. Mit einer solchen Begründung sollen Vergleiche ermöglicht und Gemeinsamkeiten von Gewalterfahrungen herausgearbeitet werden. Nun sind historische Vergleiche geschichtswissenschaftlich legitime Verfahren insofern der Versuch unternommen wird, das ›Besondere‹, ›Individuelle‹ und das ›Allgemeine‹ durch den Vergleich zu identifizieren. Und seit Beginn einer eigenständigen Geschichtswissenschaft geht der Streit darüber, ob und wie dieses ›Besondere‹, ›Individuelle‹ und ›Allgemeine‹ als ›historisches Faktum‹ erkannt, gedeutet und beschrieben werden kann (Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, S. 45ff.). So ist, streng methodologisch gesehen, eine ›Historisierung‹ des Holocaust nicht illegitim. Das Fatale des postmodernen Kolonialismus Diskurses ist nun allerdings, dass aus politischen Gründen eine historische Konstruktion aufgelegt wird, die letztlich dem Ziele dient, die begründbare Singularität des Holocausts zu verdunkeln und zu relativieren. Dazu werden häufig faktenresistente historische Vergleiche bemüht, die letztlich in Gleichsetzungen münden und der politischen Stigmatisierung dienen (Sack, Geschichte im politischen Raum, S. 136). So wird z.B. eine fatale Kontinuitätslinie vom Schicksal der Herero und Nama 1904 zum Holocaust behauptet. Die Singularität des von den Nazis systematisch und bürokratisch durchgeführten Holocaust wird ›postkolonialistisch‹ und ›antikolonialistisch‹ auch mit der Behauptung relativiert, »dass wesentliche Aspekte des NS Regimes und des Holocaust durch deren Beziehung zum imperialistischen Kolonialismus überhaupt erst erfassbar werden«. Der das schreibt ist der australische Historiker und Genozidforscher, A. Dirk Moses, derzeit Professor für ›Global Human Rights History‹ an der Universität North Carolina, Chapel Hill. Mit einem geradezu zynischen Artikel über den Katechismus der Deutschen verspottet er die Begründungszusammenhänge für die Singularität des Holocaust als ›Glaubensartikel‹, ›Heilsgeschichte‹, ›heiliges Trauma‹, ›Erlösungsnarrativ‹ und ›sakrale Erlösungsfunktion‹. (A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen. – https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/). Moses ist nur einer von einer ganzen Reihe von Historikern, die derartige Thesen vertreten, die im Lichte der Forschungen zum Verhältnis von Nationalsozialismus, Rassismus und Kolonialismus abwegig sind. Hitler hielt gar nichts von Kolonien und dem altbackenen Kolonialismus der Konservativen, sondern versuchte vermeintlich ›antikolonialistische‹, ›nationalistische‹ Bestrebungen in den Kolonien zu fördern und die alten Kolonialmächte zu bekämpfen. Ein prominentes Beispiel ist seine Kumpanei mit dem ›Mufti von Jerusalem‹, Mohammed Amin al-Husseini, dem er die Förderung palästinensischer Unabhängigkeit im Kampf gegen Briten und die Juden versprach. Al-Husseini sagte ihm im Gegenzug Unterstützung bei der Ausrottung der Juden zu (Mallmann/ Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz, 2006; Motadel, Für Prophet und Führer, 2017).

Ein wichtiger Stichwortgeber für die geschichtspolitische Relativierung des Holocaust ist auch der amerikanische Literaturwissenschaftler und ›Genozid-Forscher‹, Michael Rothberg, derzeit an der Universität von Los Angeles lehrend. 2009 veröffentlichte er dazu sein Buch Multidirectional Memory, in dem er dazu aufrief, den Holocaust im ›Age of Decolonization‹ neu zu bewerten und zu ›historisieren‹. In Rothbergs und Moses Fahrwasser schwimmen weitere akademische und politaktivistische ›Antikolonialisten‹ mit, wie z.B. an vorderster Font der Hamburger Historiker und Afrikaforscher Jürgen Zimmerer. Es ist fatal, dass sich hier eine Holocaust-Relativierung von links formiert hat.

Der deutsche Fall: Von den ›emanzipatorischen‹ Geschichtswerkstätten zur ›Cancel-Culture‹

Schauen wir in Deutschland zivilgesellschaftliche Aktivitäten in puncto Geschichtspolitik an, so wird deutlich, dass hier schon seit langer Zeit eine geschichtsdidaktisch-politische Lobby am Werke ist, die über die Fachwissenschaft hinaus sehr gut aufgestellt ist. Die Lobby repräsentiert ein breites Spektrum von Geschichtswerkstätten, Initiativen und Projekten. Diese verfolgten schon seit den achtziger Jahren eine ›politisch korrekte‹ Agenda, sodass wir hier, zugespitzt formuliert, eine ›political correctness‹-Agentur im Embryonalzustand erblicken könnten. Die Initiatoren wollten ›aufklären‹ und den Menschen ›richtige‹ Erkenntnisse über Geschichte vermitteln. Die Richtung des erinnerungspolitischen Lernprogramms war dabei ziemlich klar. Im Grundlagenpapier des 1983 gegründeten Zusammenschlusses der Geschichtswerkstätten e.V. heißt es z.B., dass die Geschichtswerkstatt

»insbesondere die Geschichte der Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Beherrschten erforschen und dabei die Zusammenhänge von Herrschaft, Unterdrückung und Widerstand zeigen« will (Schoßig/Strnad, Geschichtswerkstätten. In: Geschichtskultur, S. 381).

Die Schwerpunktsetzung dieser auch als ›Neue Geschichtsbewegung‹ bezeichneten Richtung verdankte sich u.a. den Ansätzen von Mikrohistorie, Alltagsgeschichte, Biografiegeschichte, ›Oral History‹, Arbeitergeschichte, Frauengeschichte und der Geschichte von Minderheiten, in jüngster Zeit vor allem der Migrantengeschichte. Bewusst wollte man ein Gegengewicht gleichermaßen zu den historistischen Traditionen und den strukturgeschichtlichen Ansätzen der sogenannten ›historischen Sozialwissenschaft‹ setzen. Zahlreiche Aktivisten waren politisch in den sogenannten ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ beheimatet und stehen heute vornehmlich im linksgrünen Spektrum der Politik, wobei fortschreitende Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse zur Integration von Einzelnen in akademische Laufbahnen führten und kleine Gruppen zu wichtigen Mitarbeitern regionaler und lokaler Kulturpolitik wurden. Die herrschaftskritische und basisdemokratische Orientierung blieb aber weitgehend erhalten, angereichert von postmodern-konstruktivistischen Ansätzen aus den Baukästen von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard. Das mündete u.a. in neue, bis heute aktuelle Beiträge zur ›Historischen Diskursanalyse‹ (Landwehr, Historische Diskursanalyse, 20182), was sicherlich eine diskussionswürdige Ergänzung des methodologischen Instrumentariums war. Gleichwohl schritt dadurch die Politisierung des Faches Geschichte voran, was, jedenfalls in der z.T. aggressiven Stoßrichtung der Aktivisten, in eine fatale Entwicklung mündete. Es ist höchst problematisch, wenn politische Zielsetzungen die Prinzipien sachgemäßen geschichtlichen Forschens überlagern, etwa wenn die Parole ausgegeben wird, dass Geschichte dazu da sei, den ›Herrschenden‹ ihren vermeintlich monopolistischen Anspruch auf Geschichtserinnerung, Darstellung und Präsentation zu entreißen. Diese Haltung zur Geschichte, die sich erinnerungspolitisch als ›alternativ‹ und ›von unten‹ spreizt, ist eine politisch-ideologische Anmaßung. Die Beschäftigung mit und die Präsentation von Geschichte wird zum Zensoren- und Richteramt im Kontext einer ›antirassistisch‹ und ›antifaschistisch‹ aufgeladenen Agenda. Parteilichkeit ist ausdrücklich erwünscht und wird als geschichtspolitisch-basisdemokratische Einmischung geadelt. So wurde vielerorts Geschichte zum Schauplatz heftiger politischer Auseinandersetzungen, die mit ›Sieg‹ oder ›Niederlage‹ einer Partei oder auch mit einem fragilen Kompromiss endeten. Letztlich entschied ein politischer Kampf Auswahl und Bewertung historischer Fakten.

Ein glänzendes Beispiel ist der jahrelange Streit an der Ernst-Moritz-Arndt Universität in Greifswald um die Streichung des Namens. Für die studentische Linke und die mit ihnen sympathisierenden Professoren war der als ›Antisemit‹ und ›Franzosenfresser‹ denunzierte Ernst Moritz Arndt als Namensgeber untragbar, das andere ›Lager‹ hielt den ehemaligen Professor Arndt der Universität für einen durchaus verdienstvollen Wissenschaftler und Kämpfer für die nationale Einheit der Deutschen. Auch in der DDR war er bis zur ›Wende‹ sehr geschätzt. So wurde er wegen seines Beitrags zum ›antiimperialistischen Befreiungskampf der Nation‹, zur ›Waffenbrüderschaft von Deutschen und Russen‹, seinem Kampf gegen ›Feudalismus und Junkertum‹, seinem Eintreten für eine demokratische Verfassung und seinem Einsatz für eine ›Volksarmee‹ ausdrücklich gelobt. (Siehe meinen Beitrag: Ernst Moritz Arndt (1769-1860) – ›Aufklärung‹ oder ›Damnatio Memoriae‹? Anmerkungen zu einem Dichter, zur Geschichtspolitik und Umbenennungsmanie.) Auch die Evangelische Ernst-Moritz-Arndt Kirchengemeinde in Berlin-Zehlendorf wollte von ihrem Namensgeber nichts mehr wissen. Seit dem Bau der Kirche im Jahre 1935 trug sie seinen Namen. Im Mai 2019 entschied der Gemeindekirchenrat mit knapper Mehrheit, den Namen abzulegen. Das passte zu der eifrigen Suche kirchlicher Beauftragter nach Überresten der nationalsozialistischen Vergangenheit in Namen und Artefakten. So sollten z.B. keine Kirchenglocken mehr läuten auf denen noch ein Hakenkreuz prangte.

Angriff auf stadtgeschichtliche Traditionen: Straßennamen im Fadenkreuz der ›Cancel-Culture‹

Jeden Bürger betrifft inzwischen ein genderideologisch aufgeladenes Sprachregime (Esders, Sprachregime, 2020). Höchst dominant in Forschung und Lehre, durchsetzt dieses inzwischen die gesamte öffentliche Kommunikation, bis hin zu den lächerlichen und absurden ›Knacklauten‹, deren sich ZDF-Moderator Claus Kleber bediente, wenn er das berühmte Gendersternchen * lautmalerisch umzusetzen sich bemühte. Doch das ist nur der sprachliche Aspekt der giftigen, destruktiven ›Cancel Culture‹, die inzwischen politische Symbolik, Artefakte öffentlicher Erinnerungskultur (Baudenkmäler z.B. Statuen berühmter Persönlichkeiten) und schließlich auch die Benennung von Straßen, Gebäuden und die Ausweisung von Erinnerungsorten erfasst hat. Zahlreiche Beispiele lassen sich dafür nennen: Die unsägliche Liste nicht genehmer Straßennamen in München, ermittelt von einer linksgrün gesteuerten ›Kommission‹ 2016, ist nur die Spitze des Eisberges. Angeregt von der SPD sollten Straßennahmen getilgt werden, die in einem ›chauvinistischen, extrem frauenfeindlichen, militaristischen, rassistischen oder antisemitischen, nationalsozialistischen Kontext‹ stünden. Unter die 320 gerügten Straßennamen fallen dann z.B. auch Kolumbus, Otto von Bismarck, Werner von Siemens, Heinrich Schliemann, Arthur Schopenhauer, Robert Koch, Gustav Stresemann, Franz-Josef Strauß, Erich Kästner, Ludwig Thoma und sogar Alt-Bundespräsident Theodor Heuss. In Düsseldorf soll die Ferdinand Porsche Straße weg, weil Porsche Hitlers Lieblingskonstrukteur war.

Längst hat die ›Cancel Culture‹ erfolgreich die Berliner Geschichtspolitik infiziert. Allen voran marschiert, was nicht erstaunlich ist, der linksgrün dominierte Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain. In der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) hält linksgrün eine satte Mehrheit (31 Linksgrün gegen 13 ›Andere‹, wobei DIE PARTEI (4) linksgrün sehr nahe steht!). Zielobjekte linksgrüner Geschichtspolitik sind Namen von Straßen, Plätzen, Gebäuden. Benennungen und Umbenennungen dieser sind nicht, was man beklagen kann, Ergebnis eines öffentlichen demokratischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesses mit Bürgerbeteiligung. Bürger, Heimatvereine und Initiativen haben lediglich ein Vorschlagsrecht. Es entscheiden parlamentarische Gremien, wie hier die BVV. Die grüne Bürgermeisterin Monika Herrmann und ihre Gefolgsleute sorgen seit Jahren dafür, dass erinnerungspolitisch alles ›politisch korrekt‹ abläuft, d.h. linksgrün imprägniert bleibt. Das Bezirksamt leistet sich eine ›Gedenktafelkommission‹, die für die Umsetzung einer ›antirassistischen‹ und ›feministischen‹ Gedenkarbeit wichtige Beiträge liefert. Schon 2005 beschloss das Bezirksamt bei

»(Um) Benennungen von Straßen, Wegen, Brücken etc. ausschließlich Frauen als Namensgeberinnen zu ehren, bis im Bezirk ein angemessener Proporz männlicher und weiblicher Straßennamen etc. gegeben ist« (Drucksache 1497/II).

Weitere Beschlüsse zielten auf Berücksichtigung »von Personen mit einem LSBTTIQ-Hintergrund« (Drucksache 0380/V).

Die Beschlüsse des Bezirksamtes zeigen sehr deutlich worum es Linksgrün bei der Bewertung der Vergangenheit geht. Hier herrscht ein geschichtsblinder politischer Dezisionismus zur Durchsetzung einer linksgrünen ›politisch korrekten‹ Agenda. Diese produziert ein höchst selektives Geschichtsbild, wobei sehr fraglich ist, ob eine geschichtswissenschaftlich verantwortbare Abwägung kontroverser Bewertungen von Personen und Ereignissen überhaupt stattgefunden hat. Es ist ein jahrhundertealter, bis heute geltender Konsens, dass bei Ehrungen von Personen mit Straßennamen stets die Leistung dieser für den Bezirk, das Land oder die Nation das entscheidende Kriterium sein sollte (Pöppinghege in: Frese, Fragwürdige Ehrungen?, 2012, S.26). In den weitaus meisten Fällen erfahren Personen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft solche Ehrung, weniger aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Eine Handreichung des Deutschen Städtetages vom März 2021 empfiehlt:

»Bei der Benennung nach Personen ist zu beachten, dass es sich um eine Person handelt, die es würdig ist geehrt zu werden, und ein gesamtstädtisches Interesse gegeben ist oder die Person in einem direkten räumlichen Bezug zu der zu benennenden öffentlichen Anlage steht« (Straßennamen in einer veränderten Wertediskussion, S. 19).

Dass es bei Benennungen und Umbenennungen häufig zu Streit kommt, ist den Städtetag-Autoren bewusst: »In gesellschaftlichen Deutungskämpfen treten die Ambivalenzen städtischer Erinnerungskulturen offen zutage« (Ebda., S. 6). So auch hier. Linksgrün ist darauf versessen, Straßenumbenennungen als Instrument politisch-korrekter Bildung zu nutzen. Das Bezirksamt Kreuzberg-Friedrichshain entscheidet aufgrund eines ideologisch aufgeladenen Gleichheitsprinzips nach Gender, Hautfarbe und sexueller Orientierung! Das wird in dem Grundsatzpapier des Bezirksamtes Gedenken neu denken (April 2021) sehr deutlich: Es geht um die Durchsetzung eines Programms der ›Diversität‹, um die »Umverteilung und gesellschaftliche Gleichheit im Gedenken«, daher sollen ›Ehrungen‹ vornehmlich »Kolonialismus, Frauengeschichte, queerpolitische Geschichte und Migration« berücksichtigen (S.6). Da hat sich die ›Gedenktafelkommission‹ ein gewaltiges Programm vorgenommen, denn in Kreuzberg-Friedrichshain finden sich immer noch eine ganze Reihe von Personennamen aus Monarchie, Adel und Militär: z.B. Adalbertstraße, Admiralstraße, Alexandrinenstraße, Blücherstraße/Blücherplatz, Falckensteinstraße, Friedrichstraße, Friedrichsgracht, Gneisenaustraße, Heinrichplatz, Manteuffelstraße, Mariannenplatz und die Nostitzstraße. Noch immer heißt die Prinzenstraße unverändert so, obwohl sie 1849 nach dem späteren Kaiser Wilhelm I. benannt wurde, der als Kronprinz von Preußen maßgeblich zur Niederschlagung der 1848er Revolution beigetragen hatte und im Volksmund der ›Kartätschenprinz‹ genannt wurde). In den Fokus der Umbenennungs-Eiferer könnten die Prinzessinnenstraße, Waldemarstraße, Wilhelmshöhe, Wilhelmstraße, Wrangelstraße und die Yorckstraße geraten. Auch die Arndt und Jahnstraße könnte der Bannfluch treffen, wird doch der ›Turnvater‹ Jahn und Streiter für Deutschlands Einheit als ›Chauvinist‹, ›Antisemit‹ und ›Rassist‹ verteufelt. Konsequent müsste die Kreuzberger Putzkolonne auch die Straßennamen tilgen, die nach berühmten Schlachten der Befreiungskriege 1812/1814 benannt sind: Großbeerenstraße, Hagelberger Straße, Katzbachstraße und Waterloo-Ufer. Das Nationaldenkmal auf dem Kreuzberg, das dem Bezirk 1821 seinen Namen gab und an die Befreiungskriege erinnert (1818 errichtet), ist allerdings als Denkmal geschützt und eine Umbenennung würde politisch höchst kontraproduktiv sein.

Bislang hat der linksgrüne Umbennungsfuror erfreulicherweise praktisch wenig bewirkt. Immerhin: Ein Teil der Kochstraße wurde 2008 zur ›Rudi-Dutschke-Straße‹ und am 27. Februar 2010 wurde das Gröbenufer mit den Stimmen der Grünen, der LINKEN und der SPD in ›May Ayim Ufer‹ umbenannt. Die ursprüngliche Benennung der Straße erfolgte im Jahre 1895 nach Otto Friedrich von der Gröben (1657-1728), ehemals Major der kurbrandenburgischen Armee, Kammerjunker des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688) und Leiter der brandenburgischen Kolonialexpedition 1682. Die linksgrünen Politiker folgten einem weitverbreiteten, gleichwohl höchst anfechtbaren, historischen Narrativ, das Kolonialismus mit Imperialismus gleichsetzt und damit alle Übel kolonialistischer Herrschaft zu erklären versucht. Somit war v.d. Gröben als Hauptakteur eines brandenburgischen ›Imperialismus‹ offensichtlich nicht mehr tragbar. Er wurde als ›Sklavenhändler‹ bezeichnet und die sehr bescheidene ›Kolonialherrenzeit‹ von Brandenburg-Preußen zwischen 1682 und 1717 zur ›deutschen Kolonie‹ und Beginn eines deutschen Kolonialismus aufgeblasen. Das Unternehmen wurde bereits damals von kurfürstlichen Räten wegen der zu erwartenden hohen Kosten kritisiert. Die finanziellen Mittel dazu beschaffte schließlich der kurfürstliche Rat Benjamin Raul, ein Reeder aus den Niederlanden. An der Goldküste in Westafrika wurde in Windeseile mit einer Truppe von Indigenen (Akan) und, modern ausgedrückt, multikulturellen Mannschaften ein Fort errichtet, das großspurig Großfriedrichsburg genannt wurde. In Kommentaren zur Umbenennung des Gröben Ufers wurde Großfriedrichsburg als ›Umschlagplatz‹ für Waffen und Sklaven (so seinerzeit die ›Amadeo-Antonio-Stiftung‹) stilisiert, eine gewaltige Übertreibung, denn die fragile deutsche ›Herrschaft‹ dauerte nicht lange. Der Schweizer Historiker Zaugg schrieb treffend:

»Eine ›Kolonie‹ war Großfriedrichsburg nie – obwohl sie seit dem späten 19. Jahrhundert im Narrativ der deutschen Kolonialpropaganda verzerrend als solche dargestellt und gar als ›erste deutsche Kolonie‹ in Afrika gefeiert wurde.« (Zaugg, Brandenburg in Afrika. In: Fahrmeier, Deutschland, S. 230f).

Sicherlich haben auch brandenburgische Schiffe am atlantischen Sklavenhandel teilgenommen, jedoch in geringem Umfang. In den Anti-Kolonialismus-Narrativen wird auch, was bezeichnend ist, die bedeutende Rolle der afrikanischen lokalen Stammesherrscher im Sklavenhandel heruntergespielt. Ohne diese hätte es keinen Sklavenhandel in dem stets beklagten Umfang gegeben. Spätestens um 1717 wurde das Gebiet Großfriedrichsburg von Holländern und Briten besetzt. Ab 1874 dominierte Großbritannien und stabilisierte die Kolonie Ghana bis zur Unabhängigkeit des Landes 1957.

Aber wer war und wer kennt Maya Ayim? 1960 in Deutschland als Tochter eines Ghanaers und einer Deutschen geboren, in einer Pflegefamilie aufgewachsen, arbeitete sie sich, dank des guten deutschen Bildungssystems, rasch empor, legte das Abitur ab und studierte Psychologie und Pädagogik. Seit 1984 in Berlin, engagierte sie sich gegen ›rassistische‹ Diskriminierung, war Gründungsmitglied der ›Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland‹. In ihren Schriften (Prosa und Lyrik) wandte sie sich scharf gegen Bezeichnungen wie ›Neger‹, ›Besatzungskind‹ und ›Mischling‹. In Berlin war sie in den entsprechenden ›antirassistischen‹ Kreisen wohlbekannt und auch als Wissenschaftlerin in der sogenannten ›Kritischen Weißsein-Forschung‹ geschätzt. Das ist jener ›wissenschaftliche‹ Forschungszweig, der ›Weißsein‹ als hegemoniales Konstrukt begreift und darin den Kern aller Übel der Welt erblickt. Maya Ayim reiste einst nach Ghana, um ihren Vater zu treffen und, wie sie bekundete, ihr ›Vaterland‹ zu finden. Bis auf die Tatsache, dass zahlreiche Ghanaer nach Deutschland kamen und viele deutsche Autos importierten, war vom einstmaligen deutschen ›Kolonialismus‹ nichts zu spüren. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse waren auch nicht so ersprießlich wie sich Ayim das vorgestellt hatte. Nachdem auch eine Begegnung mit ihrem leiblichen Vater unbefriedigend verlief, kehrte sie enttäuscht Afrika den Rücken. Schon seit Jahren mit psychischen Problemen kämpfend, nahm sie sich 1996 das Leben.

Wie gerechtfertigt ist diese Umbenennung? Für die Vertreter von Genderismus und Postkolonialismus ist das im Sinne von ›Gleichheit‹ und ›Quote‹ natürlich klar. Warum sollte im ›Multi-Kulti‹-Kreuzberg eine Straße nicht nach einer afrikanischen Wissenschaftlerin und Künstlerin benannt werden? Doch wenn, wie in der Handreichung des Deutschen Städtetages vorgeschlagen, die Leistung einer Person ein zentrales Kriterium für die Ehrung bilden sollte, dann sind hier Fragezeichen angebracht. Zunächst einmal hat der deutsche Staat etwas für Ayim geleistet, durch sein Bildungswesen und Aufstiegsmöglichkeiten. Was tat sie nach Erlangung akademischer Ehren? Sie kämpfte für ihre eigenen Interessen, für ihre Identität als Farbige – mit ostentativer Abgrenzung von den ›Weißen‹, die sie als ›rassistisch‹ verachtete. Sie leistete nichts für, sondern alles gegen Deutschland. Sie blieb in selbstgewählter Vaterlandlosigkeit, was tragisch ist, sie aber nicht als ›Opfer‹ weißen Rassismus für eine Ehrung mit einem Straßennamen qualifiziert.

In anderen Bezirken gibt es ähnliche Bestrebungen wie in Kreuzberg. Im April 2021 wurde die Wissmann Straße in Neukölln in ›Lucy-Lameck-Straße‹ umbenannt. 1898 hatte der Bezirk eine Straße nach Hermann von Wissmann, Afrikaforscher und späterer Reichskommissar für Ostafrika, benannt. Im postkolonialen Narrativ wird Wissmann die Rolle des erbarmungslosen Imperialisten und brutalen Militaristen zugewiesen. Wissmann sei für die Niederschlagung des sogenannten ›Araber-Aufstands‹ im Jahre 1889 verantwortlich und habe in Ostafrika eine ›Militärdiktatur‹ errichtet. Es besteht kein Zweifel, dass Wissmann eine Reihe fragwürdiger Gewaltaktionen zu verantworten hat, aber es ist nur die eine dunkle Seite der Medaille. Verschwiegen wird meistens, dass Ostafrika seit Jahrhunderten das Zentrum islamischen Sklavenhandels war (v.a. Sansibar) und die muslimische Herrschaft mit Fug und Recht als ›Imperialismus und Kolonialismus‹ bezeichnet werden kann. Die Wut der arabischen Sklavenhändler richtete sich gegen die Europäer, weil diese auf Abschaffung der Sklaverei drängten. Sie wurden verdächtigt, allein die arabische Konkurrenz im Sklavenhandel vernichten zu wollen, um selbst im großen Stil den Sklavenhandel zu expandieren. In der postkolonialen Sichtweise wird der Aufstand der Sklavenhändler zum ›antikolonialen Aufstand‹ umgedeutet. Dagegen war die deutsche Kolonialverwaltung bestrebt, den Sklavenhandel einzudämmen. So fiel die Zahl der Sklaven während der deutschen Kolonialverwaltung von einer Million im Jahre 1890 auf 200.000 im Jahre 1914 (Gilley, Verteidigung des deutschen Kolonialismus, S: 58). Dies berücksichtigend und wegen der Verdienste Wissmanns um die Erforschung Afrikas, gab es keinen zwingenden Grund, die Straße umzubenennen.

Und wer war Lucy Lameck? Eine tansanische Politikerin, die sich gegen Kolonialismus und Rassismus stark machte. Sie verdankte dem (weißen!) britischen gewerkschaftsnahen Ruskin College in Oxford ihr Politikstudium. Später machte sie in der Administration Tansanias Karriere. Genaues ist nicht bekannt. Was hat sie bewirkt? Welche Maßnahmen zeichneten sie in ›Community Development‹ und ›Health Care‹ aus? Für die Umbenennungs-Fraktion schien das nicht relevant zu sein, jedenfalls wird dazu nichts gesagt. Wieder geht es nicht um ›Leistung‹ und schon gar nicht für Deutschland! Es geht nur darum, einen anrüchigen ›Kolonialisten‹ durch eine ›Person of Colour‹ zu ersetzen. Hautfarbe vor Leistung.

Bislang gingen die meisten Umbenennungen ohne große öffentliche Proteste über die Bühne, die Initiatoren fühlten sich offenbar sehr ermutigt. Nicht so im Falle der ›Mohrenstraße‹ und der gleichnamigen U-Bahn-Station in Berlin Mitte. Die Straße heißt seit 330 Jahren so. Über die Gründe der damaligen Benennung gibt es zwei verschiedene Versionen, beide verweisen auf einen kolonialen Hintergrund (Thomas Lackmann: Streit um Straßennamen: Warum heißt die Mohrenstraße Mohrenstraße? – https://www.tagesspiegel.de/berlin/streit-um-strassennamen-warum-heisst-die-mohrenstrasse-mohrenstrasse/7332938.html). Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) preschten im Juli 2020 vor und kündigten an, die U-Bahn Station umbenennen zu wollen. Die Straße wäre damit natürlich auch betroffen gewesen. Man fürchtete mit dem ›Mohren‹ nicht mehr ›weltoffen‹, ›bunt‹ und ›divers‹ zu sein. In vorauseilendem Gehorsam gegenüber den lautstarken ›antikolonialistischen‹ Kleingruppen wollte man den Namen einer stadtgeschichtlich bedeutenden Straße tilgen. Die Station sollte künftig ›Glinka‹-Straße heißen, nach dem bekannten russischen Komponisten Heinrich Iwanowitsch Glinka. Was man offensichtlich nicht wusste: Glinka war durch verschiedene antisemitische Operntexte aufgefallen und nun auch nicht gerade der lupenreine Namensgeber. Doch gegen die ganze BVG-Aktion erhob sich Bürgerprotest und die Medien berichteten breit darüber. Das konnte dem Berliner Senat, immer um Wählerstimmen besorgt, nicht gleichgültig sein und die zuständige Senatorin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende des Aufsichtsrats der BVG, stoppte erst einmal die Eiferer und verwies auf den Amtsweg, d.h. die BVV des Bezirks Mitte und das Bezirksamt. Diese wurden nun aktiv. Die Bezirksverordneten beschlossen am 21. August 2020 (auf Antrag der SPD, DS 2586/V) mit der Mehrheit von linksgrün die Umbenennung der Mohrenstraße in ›Anton Wilhelm Amo‹-Straße. Amo (1703-1753) war der erste Akademiker afrikanischer Herkunft an einer preußischen Universität. Unbeirrt dem linken antikolonialistischen Narrativ folgend, wurde unterstellt, der Name Mohrenstraße habe einen ›rassististischen Kern‹ und schade dem ›nationalen und internationalen Ansehen Berlins‹. Eine Begründung wurde dafür nicht gegeben, allein der behauptete ›Bezug‹ zu ›rassistisch-imperialistischen Ideologien‹ erübrigt offenbar jede inhaltliche Debatte und Bürgerbeteiligung. Besonders absurd war die Einlassung der grünen Fraktionsvorsitzenden Antje Kapek, die bekundete, dass sie sich stets darum sorge, dass ›schwarze Anwohnerinnen und Anwohner sowie Besucherinnen und Besucher‹ diesem Straßenrassismus ›täglich ausgesetzt‹ seien. Sie schlug u.a. die Umbenennung in ›George Floyd Straße vor‹! Es ist geradezu rührend, wie sich die ›antirassistisch-antikolonialistische‹ Linke um das Seelenheil der Bürger Berlins kümmert, d.h. sie bevormundet. Um alle Kinder Berlins vor ›Rassismus‹ zu schützen, müsste dann auch konsequent Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1844) aus dem Verkehr gezogen werden, heißt es doch da an einer Stelle: »Es ging spazieren vor dem Tor - Ein kohlpechrabenschwarzer Mohr« .Eine auf geschichtswissenschaftlichen Quellen beruhende Darlegung der Sachlage fand genauso wenig statt, wie ein öffentlicher Bürgerdialog. Die Bürger konnten ihre Meinung ausschließlich per Brief an das Bezirksamt kundtun, wozu der Historiker Götz Aly ausdrücklich aufgerufen hatte. Trotz des kolonialen Hintergrundes sah Aly den Namen in seinem historischen Kontext ›nicht als herabsetzend‹ an, zumal das Wort ›Mohr‹ schon lange nicht mehr in Gebrauch sei und auch nicht als Schimpfwort verwendet werde (Rettet die Berliner Mohrenstraße! – https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/rettet-die-berliner-mohrenstrasse-li.159438). Genutzt hat das alles nichts, zum 1. Oktober 2021 werden die Straße und die U-Bahn Station umbenannt.

Es wird so weiter gehen in Berlin. Schon 2008 hat ein Konsortium verschiedener NGOs, darunter die ›Initiative Schwarze Menschen in Deutschland‹, ›Africa Avenir International‹, die ›Werkstatt der Kulturen‹ u.a. ein ›Dossier‹ veröffentlicht, das auf die Notwendigkeit verweist, auf zahlreiche kritikwürdige Straßennamen aufmerksam zu machen bzw. sie umzubenennen, da diese im Kontext des ›brandenburgischen Sklavenhandels‹, des Kolonialismus des Kaiserreiches und des Rassismus des Nationalsozialismus stünden (Straßennamen mit Bezügen zum Kolonialismus, 2008, S. 1). Es wird sodann eine Liste von Straßennamen für alle Bezirke präsentiert, die entweder mit Erläuterungstafeln versehen oder umbenannt werden sollen. Die Kriterien werden aus Sicht ›postkolonialer Theorie und Praxis‹, des ›Antirassismus‹, der Perspektive von ›Flüchtlingsselbstorganisationen‹ und der ›Critical Whiteness Studies‹ formuliert. Es findet sich kein Hinweis auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten, gleichviel welcher Ausrichtung. Es werden über 80 Straßen genannt (in verschiedenen Bezirken gleiche Namen) von ›Adenauer‹ bis ›Wilhelm‹. Unbedingt umbenannt werden sollten die Wissmannstraße, Lüderitzstraße, Petersallee, der Nachtigalplatz, das Gröbenufer, die Mohrenstraße, die Woermannkehre, die Lans- Iltisstraße (Boxerbewegung) und der Maerckerweg. Vor allem das ›Afrikanische Viertel‹ in Wedding stand unter Beschuss. Selbst Länder-, Regionen und Stadtnamen wie Togo, Ghana, Transvaal, Swakopmund und Windhuk wurden als offenbar kolonialistisch verseucht betrachtet und zur Markierung empfohlen.

Einige Aktivisten wollten parlamentarische Debatten gar nicht erst abwarten, sondern legten gleich selbst Hand an. Mehrfach wurde das Straßenschild der Lüderitzstraße mit roter Farbe beschmiert. Der Bannstrahl der Dossier-Kommission traf auch den verdienstvollen ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. Der 1973 nach ihm benannte Platz schien nicht mehr tragbar, da Adenauer von 1931-1933 Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft gewesen sei. Nun hat Adenauer in der Tat in der Zwischenkriegszeit 1918-1933 den (Wieder-)Besitz deutscher Kolonien befürwortet, wobei er zunächst Kolonialmandatare anstrebte. 1933 war dieses Kapitel für ihn beendet. Vor dem Hintergrund seines Einsatzes für Dekolonisierung seit 1955, der aktiven Förderung der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien und großzügiger entwicklungspolitischer Unterstützung der jungen Staaten ist es geradezu grotesk, Adenauerstraßen und -plätze wegen einer kurzen ›kolonialistischen‹ Episode in Adenauers politischem Wirken umbenennen zu wollen. Ähnliches gilt für Bismarck, der Koloniebesitz im Prinzip für ein Verlustgeschäft hielt, aber wenn es um deutsche Interessen in Übersee ging durchaus rasch und hart zu reagieren wusste (Sansibar). Aber auch die zahlreichen Kaiserstraßen, -dämme und -plätze standen unter Beschuss. Es ist völlig unsinnig, diese umbenennen zu wollen, weil Kaiser Wilhelm II. gelegentlich zu hochfahrenden, arroganten und martialischen Reden neigte. Immer wieder wird ihm seine sogenannte ›Hunnenrede‹ vorgehalten (Zitat im ›Dossier‹, S. 2), die er am 27. Juli 1900 bei der Verabschiedung eines Truppenkontingentes nach China in Bremerhaven gehalten hatte. Der genaue Wortlaut ist bis heute umstritten (es gab mindestens drei Versionen), gleichwohl war die Empörung über den angeblich ›kriegslüsternen‹ Kaiser schon damals in liberalen und sozialdemokratischen Kreisen groß. Zweifellos hatte der Monarch mit seinem Pardon wird nicht gegeben eine aggressive Sprache verwendet, selbst erregt über die Gräueltaten der chinesischen ›Boxer‹. Wollte man aber alle historischen Artefakte in Europa tilgen, die sich auf Militärpersonen beziehen, die diesen Ausspruch in hunderten, ja tausenden von Reden verwendet haben, so würden ganze Stadtviertel umbenannt werden müssen. Es ist gerade ein Charakteristikum der ›Cancel-Culture‹ solange in der Vergangenheit von Personen zu stochern, bis man das berühmte ›Haar in der Suppe‹ gefunden hat, um es dann als typisch für die beklagte Person vorzuführen. Die politische Denunziationsabsicht steht im Vordergrund, nicht eine geschichtswissenschaftlich verantwortbare Prüfung. Gäbe es eine solche, so müssten die Ambivalenzen z.B. der Person und Politik Kaiser Wilhelms stehenbleiben und in einem streitigen Diskurs von Fachwissenschaftlern offengelegt werden. Tatsächlich wird nur eine politisch motivierte Bewertung zugelassen, mit der die Umbenennung gerechtfertigt werden soll. Der Historiker Christopher Clark hat W Zwo differenziert und treffend charakterisiert. Dieser sei

»ein intelligenter Mensch« gewesen, »ausgestattet allerdings mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Ausbrüchen und kurzlebigen Begeisterungen tendierte, eine ängstliche, zur Panik neigende Gestalt, die häufig impulsiv aus einem Gefühl der Schwäche und Bedrohung heraus handelte«. (Clark, Wilhelm II., 2000, S. 334).

Bedrohte Wissenschaftsfreiheit

Vor allem an den Universitäten breitet sich ein ›politisch-korrektes‹ Meinungsklima aus und die ›Cancel-Culture‹ fegt durch die Hörsäle und Seminarräume. Wissenschaftsfreiheit und freie Meinungsäußerung sind deutlich gefährdet. Eine Fülle von Beispielen hat der kanadische Politikwissenschaftler Eric Kaufmann vom ›Center for the Study of Partisanship and Ideology‹ (CSPI) in einer bemerkenswerten Studie im März 2021 zusammengetragen: Academic Freedom in Crisis: Punishment, Political Discrimination, and Self-Censorship (AcademicFreedom.pdf – cspicenter.orghttps://cspicenter.org/wp-content/uploads/2021/03/AcademicFreedom.pdf ). Wer gegen die dominierende ›Political Correctness‹ Agenda aufmuckt, hat im mildesten Falle böse Kritik, Shitstorms und Ächtung zu ertragen, im schlimmsten Falle Berufsverlust, Verlust von Ämtern etc. Besonders erschreckend ist, in welchem Ausmaß Studenten der Einschränkung von Meinungsfreiheit zustimmen und Selbstzensur verbreitet ist. Das lässt besorgt erahnen, wie der Wissenschaftsbetrieb der Zukunft aussehen wird.

Auch hierzulande gibt es bedenkliche Entwicklungen. In den letzten Jahren häuften sich Vorfälle, die eine Gefährdung von Wissenschaftsfreiheit anzeigten. Über 500 Wissenschaftler haben inzwischen eine Selbsthilfeorganisation gegründet: das ›Netzwerk Wissenschaftsfreiheit‹. Auch eine Reihe von Historikern sind daran beteiligt. Das ›Netzwerk‹ hat zahlreiche Beispiele für empörende Einschränkungen von Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten veröffentlicht (Dokumentation Netzwerk-Wissenschaftsfreiheit – https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/dokumentation/). Egon Flaig, emeritierter Althistoriker, selbst auch Opfer von ›Cancel-Culture‹, sieht die Freiheit der Wissenschaft ›von pseudo-wissenschaftlichen Strömungen‹ bedroht, vor allem in den Kulturwissenschaften von ›Genderismus, Postkolonialismus, Antirassismus, Diversity‹. Wenn gar Immanuel Kant in einer ›wissenschaftlichen‹ Zoom-Konferenz als ›Rassist‹ entlarvt wird, ist für Flaig das Maß voll. Er habe ›nie zuvor, eine solche Ansammlung von habilitierter Ignoranz und purgatorischem Fanatismus‹ gesehen. Es ist kein Zufall, dass sich die Wut der Politkorrekten stark auf die Geschichtswissenschaft richtet, denn – um noch einmal Michael Stürmer zu zitieren – ›daß in einem geschichtslosen Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet‹. Die Behauptung der politkorrekten Aktivisten, man wolle den Verfolgten, Unterdrückten, Diskriminierten des Globus zu ›Identität‹ und ›Widerstandsgeist‹ verhelfen und müsse deshalb eine ›hegemoniale‹ Geschichtswissenschaft bekämpfen, ist nichts als selbstgerechtes ideologisches Geschwurbel. Es ist richtig und wichtig, dass sich gegen diesen Ungeist eine Front namhafter Historiker formiert. Eine methodologisch ausgewiesene, quellenkritisch angelegte, im streitigen Fachdiskurs geprüfte Geschichtswissenschaft ist nötiger denn je!

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