von Herbert Ammon

Der 6. Januar 2021 wird als Merkdatum in die amerikanische Geschichte eingehen. An jenem winterkalten Donnerstag gipfelte die von dem Wahlverlierer Donald Trump nach den Präsidentschaftswahlen am 3. November 2020 angefachte Kampagne gegen die ›gestohlene Wahl‹ in den Sturm radikaler Aktivisten auf das Kapitol, das legislative Zentrum der Republik. Die Gewaltszenen, die fünf Menschen das Leben kosteten, sowie der massenhafte Protest von Trump-Anhängern machten vor aller Welt die seit langem bestehende – und nicht erst wegen der Persönlichkeit und des Regierungsstils des 2016 als republikanischer Außenseiter ins Weiße Haus gelangten Donald Trump aufgebrochene – Spaltung der amerikanischen Gesellschaft sichtbar.

Wie tief die Kluft zwischen alten, gemäßigt konservativen und neuen ›progressiven‹ Eliten, zwischen conservatives und liberals ist, ob die im Zeichen von French theory, identity, LGBTQ, wokeness, etc. zunehmend ideologisierte, am linken und rechten Rand radikalisierte amerikanische Gesellschaft sich tiefer in ethnisch-sozial und kulturell-religiös getrennte Lager aufspaltet, wird sich in den kommenden Jahre erweisen.

Der Kampf um das ›richtige‹ Wahlergebnis, beendet mit der noch am Spätabend des 6. Januar im Kongress bestätigten Stimmenmehrheit im Electoral College für den Demokraten Joe Biden, hat zwei historische Vorläufer. Der erste liegt zwanzig Jahre zurück, als der Demokrat Al Gore im Bundesstaat Florida das – mit 537 Stimmen Mehrheit zugunsten des Republikaners George W. Bush ausgefallene – Ergebnis anfocht und das Oberste Gericht des Bundesstaats Nachzählungen in mehreren Bezirken (counties) anordnete. Wenige Tage später, am 12. Dezember 2000, stoppte der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) in Washington die Nachzählung und sicherte – dem in der nationalen Gesamtstimmenzahl unterlegenen – Bush Jr. die Präsidentschaft. Dessen Name ist verknüpft mit dem islamistischen Anschlag vom 11. September 2001, mit der Intervention und dem nicht endenden Krieg gegen die Taliban in Afghanistan, nicht zuletzt mit dem den Nahen Osten ins Chaos stürzenden zweiten Irak-Krieg 2003. Man darf spekulieren, ob unter einer Regierung Gore die Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen anderen Lauf genommen hätte.

Der andere ehedem historisch bedeutsame Streit um einen ›gestohlenen Sieg‹ führt zurück in die Ära der so genannten Reconstruction (Wiedereingliederung des abgefallenen Südens in die Union) nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Er entzündete sich am Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Jahr 1876 und mündete in den Compromise of 1877.

Vor den Wahlen von 1876

Die Wahlen fielen in das Ende der zweimaligen Amtszeit (1869-1877) des Republikaners Ulysses S. Grant, des Oberbefehlshabers der Nordstaaten-Armee im Bürgerkrieg. Der Name seines Vorgängers Andrew Johnson(1865-1869), der nach der Ermordung Abraham Lincolns ins Weiße Haus gelangt war, ist verknüpft mit einem gescheiterten Impeachment sowie allgemein mit der Nachkriegsperiode der Reconstruction.

Im besiegten Süden waren seit Kriegsende 1865 von den Weißen alle Ansätze zur politischen und sozialen Emanzipation der durch Lincolns Emanzipationsedikt von 1863 aus der Sklaverei befreiten schwarzen Bevölkerung von vier Millionen ins Gegenteil verkehrt worden.

Unter Duldung des Präsidenten Johnson führten alle Südstaaten – mit Ausnahme von Tennessee – sogenannte Black Codes ein, welche die Afroamerikaner nicht nur des Wahlrechts beraubten, sondern sie – auf formalrechtlicher Basis – neuerlicher Repression aussetzten. Blutiger Terror war an der Tagesordnung.

Diese Zustände riefen die Empörung der unter den Republikanern einflussreichen Radicals hervor, die als leidenschaftliche Abolitionisten bereits gegen Lincolns auf Versöhnung mit dem Süden zielende Politik opponiert hatten. Führungsfiguren der Radicals waren Thaddeus Stevens (1792- 1868) im Repräsentantenhaus und Charles Sumner (1811-1874) im Senat. Ihnen gelang es1867, im Kongress ihr radikales Konzept der Reconstruction durchzusetzen. Zehn Südstaaten wurden in fünf Militärbezirke eingeteilt, in denen die mit Exekutivgewalt ausgestatteten Militärregierungen die Emanzipation der schwarzen freedmen erzwingen sollten. Während über 700 000 Afroamerikaner jetzt mit Wahlrecht ausgestattet wurden, verloren an die 627 000 weiße ›Rebellen‹ ihre Bürgerrechte. Die Radicals setzten Gouverneure ab, entließen Tausende von Beamten, intervenierten in Gerichtsverfahren und verletzten die Rede- und Pressfreiheit. (Woodward I, 14f.)

Zur Unterdrückung der Gewalt im Süden und zur Sicherung der in Verfassungszusätzen (13th, 14th, 15th Amendment) von 1865-1870 niedergelegten Freiheitsrechte der Schwarzen wurden unter Grants Präsidentschaft Gesetze wie die sogenannten Ku Klux Acts (1870/71) sowie das Civil Rights Act of 1875 beschlossen (Franklin, 166f.; https://history.house.gov/Exhibitions-and-Publications/BAIC/Historical-Data/Constitutional-Amendments-and-Legislation/). Unzweideutig verurteilte Grant die anhaltenden Gewalttaten. Gleichzeitig zeigte er sich nachsichtig gegenüber früheren Sezessionisten, die politische Machtpositionen zurückgewannen, zumal durch ein Amnestiegesetz von 1872 fast alle früheren Konföderierten wieder volle Bürgerrechte erlangt hatten (Franklin, 202f.; Morison - Commager, 33). Während zudem Bundesgerichte die fortdauernde Missachtung der Bürgerrechte für Afroamerikaner vielfach tolerierten (Kilgore), ging Grant daran, das Militärregime wieder abzubauen, so dass zum Zeitpunkt der Wahlen nur noch in drei Südstaaten (Louisiana, South Carolina und Florida) Bundestruppen standen.

Spektakuläre Skandale, die er persönlich nicht zu verantworten hatte, kennzeichneten Grants Präsidentschaft. Eine weitere Kandidatur und Amtszeit des Generals wurde im Repräsentantenhaus durch eine mit überwältigender Mehrheit angenommenen Resolution verhindert, die auf das Vorbild des ersten Präsidenten George Washington verwies. Gegen eine dritte Kandidatur Grants stimmten die Abgeordneten seiner eigenen Partei. (https://en.wikipedia.org/wiki/1876_United_States_presidential_election#Republican_Party_nomination)

Zu ihrem Kandidaten für die Wahlen 1876 machten die Republikaner, in deren Reihen die auf einen harten Kurs gegenüber dem Süden eingeschworenen ›Radikalen‹ gegenüber den auf Geschäftsinteressen ausgerichteten ›Liberalen‹ an Einfluss verloren hatten, Rutherford B. Hayes, dreimaliger Gouverneur von Ohio. Hayes trat als Befürworter einer restriktiven Geldpolitik sowie von Reformen im Staatsdienst (Civil Service) hervor, wo nach etabliertem Patronagesystem jeweils nach den Wahlen Stellen mit eigenen Parteigängern besetzt wurden. Im engeren Vertrautenkreis sprach sich Hayes, ehedem auf Seiten der Radicals, für eine nachsichtigere Politik gegenüber dem Süden aus. (Dehler; Kilgore)

Mit dieser Programmatik unterschied sich Hayes nur wenig von dem von den Demokraten nominierten Samuel J. Tilden, Gouverneur des Staates New York. Vor und während des Bürgerkriegs ein Verteidiger der Union, hatte sich Tilden als erfolgreicher Kämpfer gegen Korruption, zentriert um den Parteiboss William Tweed in der Tammany Hall, einen Namen gemacht. Jetzt trat er – wie Hayes – für Reformen im Staatsdienst auf Bundesebene ein. Außerdem war auch Tilden bekannt als Verteidiger einer harten Goldwährung, die 1875 vom Kongress beschlossen wurde. Vorhergegangen war 1873 ein Gesetz, das die Prägung von inflationsverdächtigen Silbermünzen beendete und einen Protestschrei (›Crime of 1873‹) nach sich zog.

Im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1873 sowie des erwähnten Währungsgesetzes hatten die Demokraten in den Zwischenwahlen von 1874 die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewonnen. Zum Wahlsieg trugen nicht zuletzt die Zustände in den Südstaaten bei. Dort war die forcierte Reconstruction von einer als Redeemers (Erlöser) auftretenden weißen Führungsgruppe zurückgedrängt worden. Ihre Parole war ›Selbstverwaltung‹ (Home rule). Anfangs firmierten die Redeemers, meist ehemalige Offiziere der Konföderation, häufig noch als Conservatives, alsbald jedoch unter dem Etikett ihrer einstigen südstaatlichen Gegner als Democrats. Es handelte sich um frühere Sklavenhalter, vor allem aber um Geschäftsleute, die der Historiker C. Vann Woodward als Nachfahren der südstaatlichen Whigs, Befürworter von industrieller Entwicklung und Schutzzoll, klassifizierte. (Woodward I, 23-53; Woodward II, 1-22).

Äußerlich auf Distanz zu den Terrormethoden der weißen Geheimbünde, empfahlen sie sich für die ›Erlösung‹ des Südens aus allem vermeintlich unverschuldeten, in Krieg und Niederlage begründeten Unglück. Verantwortlich für die Misere des Südens waren demnach allein die in der Reconstruction etablierten republikanischen ›radikalen‹ Regierungen mit den aus dem Norden eingefallenen Carpetbaggers (Geschäftemachern) an der Spitze, gestützt auf kollaborierende Scalawags (Taugenichtse) sowie auf die von den Republikanern als freedmen mobilisierten Schwarzen.

Unübersehbar existierte in weiten Teilen der Südstaaten bitteres Elend, verursacht durch Krieg, Zerstörungen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Auch Bereicherung, Postenschacher, Korruption sowie Manipulation der schwarzen Wähler gehörten zum Bild der Nachkriegsära, wenngleich nicht in dem von den Redeemers behaupteten – und von manchen Südstaatlern bis weit ins 20. Jahrhundert geglaubten – Maße.

Konflikt und Krise

Die Wahlen im amerikanischen Jubiläumsjahr 1876 fanden in aufgeheizter Atmosphäre statt. Die Demokraten agitierten gegen die republikanische Korruption, die Republikaner revanchierten sich mit Anklagen gegen die Bürgerkriegspartei, was wiederum die Demokraten als Propaganda, als ›Schwenken des blutigen Hemdes‹ (der ehedem gepeinigten Sklaven) zurückwiesen. Tatsächlich lag 1876 die Wahlbeteiligung mit 82 Prozent der (männlichen) Wahlberechtigten in den damals 38 Bundesstaaten (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 45 Millionen, geschätzter Mittelwert zwischen dem US Census 1870 [38,6 Mill.] und 1880 [50,2 Mill.]) so hoch wie seither nie wieder.

Bereits am Tag nach dem 7. November 1876 verkündeten die Zeitungen den Wahlsieg Tildens. Im Norden hatte er im Heimatstaat New York, in Connecticut, in New Jersey sowie in Indiana gewonnen. Zusammen mit den aus den Südstaaten eingehenden Ergebnissen schien dem Demokraten Tilden – mit vermeintlich 204 gegen 165 Stimmen für Hayes – eine klare Mehrheit im Electoral College und damit die Wahl zum Präsidenten sicher. (Jones – Freedman, 218).

Unverzüglich verweigerten die Republikaner die Anerkennung dieses Ergebnisses. Tatsächlich operierten beide Seiten mit zweifelhaften Methoden. (Blakemore) Zweifelhaft waren vor allem die Wahlergebnisse im Süden. Belegen konnten die Republikaner ihr Fälschungsargument mit Einschüchterungen und gewaltsamen Übergriffen auf schwarze Wähler in den bis dato von ihnen kontrollierten, noch unter Militärregime stehenden Staaten Louisiana, South Carolina und Florida. Gleichzeitig erklärte der von Republikanern besetzte Wahlausschuss in Louisiana 13000 Stimmen der Demokraten und 2000 der Republikaner für ungültig, was Hayes eine deutliche Mehrheit sicherte. (Woodward I, 19) In den drei umstrittenen Südstaaten wurden gleichzeitig die jeweiligen Gouverneurs- und Kongresswahlen angefochten.

Vor diesem Hintergrund gingen aus South Carolina – dort hatte man anfangs gar die Stimmen von 101 Prozent aller Wahlberechtigten ausgezählt – sowie aus Florida zwei gegensätzliche Wahlmännerlisten in Washington ein. Zusammen verfügten die betreffenden drei Staaten über 19 Wahlmännerstimmen, die nunmehr den Republikanern zugerechnet werden sollten. Außerdem beanspruchten sie alle Stimmen für Oregon, wo in eigenwilliger Auslegung der Verfassung der demokratische Gouverneur einen der drei Wahlmänner – einen Demokraten – benennen wollte. Ohne die entsprechenden Stimmen fehlte Tilden mit seinen 184 Wahlmännern eine Stimme zur Präsidentschaft. Mit den umstrittenen zwanzig Stimmen kam hingegen Hayes auf die benötigte Mehrheit von 185.

Die Empörung über ›Wahlbetrug‹ schlug jetzt bei den Demokraten hoch. Als Argument diente auch die Auszählung der – für die Präsidentenwahl unerheblichen – absoluten Stimmenzahl auf Bundesebene, bei der Tilden mit mehr als 250 000 Stimmen (gleich drei Prozent) Mehrheit vor Hayes lag.

Der Konflikt spitzte sich seit Dezember 1876 zu, als es im Kongress zu Washington um die Auszählung und Bestätigung der Stimmen des Electoral College ging. Hier tat sich eine Unklarheit in der Verfassung auf. Die Republikaner erklärten, die Entscheidung über die Gültigkeit der eingereichten Listen falle dem Vorsitzenden des Senats zu. Die Demokraten forderten gemäß ihrer Auslegung des entsprechenden zwölften Verfassungszusatzes, angesichts der Unklarheit im Electoral College habe die Präsidentschaftswahl im Repräsentantenhaus zu erfolgen. (Woodward I, 21)

Im Januar 1877 erreichte die Spannung einen ersten Höhepunkt, als die Demokraten ihre Forderung umzusetzen gedachten. (Kilgore) Es drohte eine Doppelwahl. Schließlich schlugen Präsident Grant und die Republikaner die Einrichtung einer aus Vertretern beider Parteien zusammengesetzten Kommission zur Überprüfung der angefochtenen Wahlergebnisse vor. Der Vorschlag fand die Zustimmung der Demokraten im Kongress. Etabliert wurde eine 15köpfige Wahlkommission, gemäß den Mehrheitsverhältnissen in den beiden Kammern zusammengesetzt aus je fünf Republikanern und fünf Demokraten sowie aus fünf Richtern des Obersten Bundesgerichtes, von denen wiederum je zwei den Republikanern und den Demokraten zuzurechnen waren und einer als Unabhängiger fungieren sollte.

Laut dem Hayes-Biografen Ari Hogenboom verdankte der Republikaner seine Wahl letztlich einem von Tildens ›korruptem Neffen, Colonel William T. Pelton‹ eingefädelten Manöver (zit. in: Kilgore). Am 25. Januar 1877 wurde der als Unabhängiger für die Kommission vorgesehene Richter David Davis, dessen Stimme mutmaßlich den Ausschlag für Tilden gegeben hätte, von der Legislative des Bundesstaates Illinois – nach dem bis 1913 bestehenden Senatswahlmodus – mit Unterstützung der Demokraten zum Senator gewählt. Damit schied er aus der Kommission aus. Er wurde von dem als ›unabhängig‹ geltenden Republikaner Joseph P. Bradley ersetzt, der die Mehrheit mit 8:7 zugunsten von Hayes kippte, wie sich bereits bei der ersten Entscheidung am 8. Februar im Disput über Florida erwies. ›Bradley hatte zwar eine unabhängige Ader‹ (did have an independent streak), aber er votierte dreimal gemäß Parteilinie. (Hogenboom, zit. ebda.)

Unmittelbar nach der ersten Entscheidung der Wahlkommission über Florida entzündete sich der Parteienstreit aufs neue. In der Presse steigerte sich die Rhetorik zu Warnungen vor einem neuerlichen Bürgerkrieg. Tatsächlich kam es vereinzelt zu Gewalttaten. Eine Kugel durchschlug das Fenster des Hauses von Hayes in Columbus Ohio, als dieser mit der Familie zu Abend speiste. In New Orleans wurde Stephen B. Packard, der republikanische Anwärter auf das Gouverneursamt, durch den Schuss eines Demokraten aus Pennsylvania verletzt, der gestand, einer Verschwörergruppe anzugehören. (Woodward I, 176)

Im Zentrum des Konflikts stand das Repräsentantenhaus. Hier inszenierten die Demokraten einen mehrwöchigen Filibuster, indem sie wiederholt die Vertagung der Kammer durchsetzten oder über die Geschäftsordnung die Auszählung der Wahlmännerstimmen verhinderten. (Woodward I, 191, 205-218) Erneut stand die gemäß Verfassung auf den 5. März terminierte Amtsübernahme in Frage.

Die Bedeutung der Wormley-Konferenz

Nach lange vorherrschender Deutung gelang der Ausweg aus der Sackgasse schließlich nach mehreren geheimen Treffen von republikanischen Hayes-Freunden und einer Gruppe von südstaatlichen Demokraten im Wormley Hotel zu Washington. Demnach kam in rauchgeschwängerten Konferenzen am 26. und 27. Februar der ›Kompromiss von 1877‹ zustande. Die Südstaatler sicherten für eine relevante Minderheit von Demokraten das Ende des Filibuster zu, was den Weg für die Wahl von Hayes öffnen sollte.

Das – nirgendwo formalisierte – quid pro quo umfasste folgende Punkte:
1) Abzug der Bundestruppen aus den drei umstrittenen Staaten sowie Übernahme der Regierung in Louisiana und South Carolina durch die Demokraten
2) Bau einer Eisenbahnlinie von Texas zum Pazifik mit Bundessubventionen für die 1871 gegründete Texas & Pacific Railway Company
3) die Ernennung eines Südstaatlers zu dem patronagereichen Amt des Postmaster General (Postminister)
4) Bundesmittel für Wiederaufbau- und Ausbau der Infrastruktur („internal improvements“) im Süden
5) das Versprechen der Südstaatler, bei Nichteinmischung aus dem Norden die Rechte der Schwarzen fortan zu gewährleisten.
Außerdem gehörte zu dem im Wormley Hotel abgeschlossenen Geschäft noch die Zusage, mit einigen demokratischen Stimmen die Wahl des Republikaners James A. Garfield zum Speaker im Repräsentantenhaus zu ermöglichen. (Woodward I, 6-7, 212-214; Peskin, 64; Palen, 417)

C. Vann Woodward, im vergangenen Jahrhundert der führende Historiker des Südens, bezeichnete das Wormley-Abkommen als ›eines der seltsamsten Geschäfte in den Annalen des Kuhhandels‹ (»It was, on the whole, one of the strangest bargains in the annals of horse-swapping.« (Woodward I, 9). Zugleich zielte er mit seinem 1951 erstmals veröffentlichtes Buch Reunion and Reaction auf eine Entdramatisierung der auf die Wormley-Konferenz zugespitzten Krise von 1876/77. Er machte deutlich, dass der vermeintlich in letzter Minute erzielten Übereinkunft über Monate hin Verhandlungen zwischen Republikanern und Südstaatlern vorausgegangen waren, in denen es vorrangig um Geschäftsinteressen ging. Nach der Krise von 1873 war der Norden an neuerlicher industriekapitalistischer Expansion interessiert, dem darniederliegenden Süden ging es um Kapital für Wiederaufbau und Entwicklung.

Die Initiative zu einer Allianz von Hayes-Republikanern und kompromissbereiten Südstaatlern ging im Dezember 1876 von Vertretern der Western Associated Press aus, einem Nord-Süd-Zusammenschluss führender Zeitungsleute im Mississippi-Tal. (Woodward I, 27-29, 72) Eine zentrale Rolle in dem politisch angelegten Geschäftsmodell spielte Thomas A. Scott, Präsident der erwähnten Texas & Pacific Railway, zugleich Präsident der Pennsylvania Railroad, dem damals größten Frachtunternehmen weltweit. (Woodward II, 31) Das Texas-Pazifik-Projekt, das – wie allgemein der transkontinentale Eisenbahnbau – mit lukrativen Übereignungen von Staatsland an die Eisenbahngesellschaften verbunden war, sagte den Südstaatlern auch deshalb zu, weil es Anschlusslinien für drei Städte im Süden (New Orleans, Vicksburg und Memphis) vorsah. Allgemein erhofften sich die mit den Redeemers liierten konservativen Demokraten durch Öffnung hin zu den republikanischen Yankees Unterstützung für den Aufbau des ›Neuen Südens‹.

Zwei Tage nach der Wormley-Konferenz, am Ende einer langen Sitzung des Repräsentantenhauses am 1. März, wurde das Abkommen hinsichtlich der Präsidentenwahl offenbar eingelöst. Nachdem der Abgeordnete William M. Levy aus Louisiana eine gezielte Äußerung von Hayes bezüglich der Versöhnung mit dem Süden und des Truppenabzugs aus Louisiana vorgetragen hatte, kollabierte der Filibuster. (Woodward I, 218) Dazu trugen jedoch, so der auf komplexere Parteiungen verweisende Historiker Allan Peskin, mehr Demokraten-Stimmen aus dem Norden als aus dem Süden bei. (Peskin, 66) Jedenfalls wurde die Zählung der Wahlmännerstimmen im Repräsentantenhaus vollendet. In den frühen Morgenstunden des 2. März 1877 verkündete sodann der Präsident des Senats die Wahl des Republikaners Hayes zum Präsidenten mit einer Stimme Mehrheit. (Woodward I, 216-218)

Am 3. März 1877 besannen sich die Demokraten im Repräsentantenhaus wieder anders und stellten in einer Resolution fest, dass vom 4. März 1877 an Tilden als ›ordnungsgemäß gewählter Präsident‹ das Amt auszuüben habe (als »duly elected President of the United States for the term of four years, commencing on the 4th Day of March, A.D., 1877«, zit. in Woodward I, 219). Am selben Tag, einem Samstag, wurde Hayes in einer privaten Zeremonie im Weißen Haus als Präsident vereidigt. Am 5.März fand die Amtseinführung öffentlich statt, ohne dass es zu Protesten oder Aufruhr kam.

Wenige Wochen nach Amtsantritt löste Hayes die wichtigste seiner im Umfeld der Wormley-Konferenz gegebenen Zusagen ein: Er zog die Bundestruppen von den Staatsgebäuden in South Carolina und Louisiana ab, was das Ende der dortigen Doppelwahl bedeutete und den Demokraten die Machtübernahme in den beiden Staaten sicherte. Er ernannte den einstigen Konföderierten-General David M. Key aus Tennessee zum Postmaster General und besetzte weitere Ämter mit Südstaatlern. Auch flossen Gelder, bereitgestellt vom Finanzministerium (Federal Treasury), zur Verbesserung der Infrastruktur in den Süden, insbesondere nach Louisiana, wenn auch bei weitem nicht in dem von den Südstaatlern erhofften Maße. (Woodward I, 235-251)

Auf der anderen Seite hielten sich die Südstaatler-Demokraten nicht an die Absprache, den Republikaner Garfield zum Speaker zu machen. (Anm.: Garfield wurde 1880 zum Präsidenten gewählt und starb 1881 an den Folgen des Attentats eines Geisteskranken.) Sie wählten einen Demokraten. (Peskin, 71) Dies verärgerte die Republikaner, die im Gegenzug Subventionen für das von Scott und seiner südstaatlichen Lobby ventilierte Eisenbahn-Projekt verweigerten. Scott sah sich genötigt, seine Gesellschaft an den Eisenbahnkönig Jay Gould zu verkaufen, der in Geschäftsliaison mit dem von Kalifornien aus operierenden Unternehmer Collis P. Huntington die südliche Interkontinentalbahn anno 1883 vollendete. (Woodward I, 251-3, 257).

›Solid South‹ – die Afroamerikaner als Verlierer

Das von Hayes und seinen Republikanern verfolgte Ziel, durch Beendigung der Reconstruction und Kooperation mit den Redeemers eine neue Parteibasis zu etablieren, scheiterte an den Realitäten des Südens. Die Redeemers, Repräsentanten der alsbald als Bourbons titulierten dünnen südstaatlichen Oberschicht, mussten befürchten, durch politische Nähe zu den Yankees sowie durch – wenn je ernstgemeinte – Rücksichtnahme auf die schwarze Bevölkerung an Einfluss und Stimmen zu verlieren. Die Bourbons zogen es vor, innerhalb der demokratischen Partei sich mit deren oft offen rassistischen Wortführern zu arrangieren – ein Zweckbündnis, das durch den aufkommenden Protest der weißen Landbevölkerung im Zeichen des Populismus lange gefährdet, letztlich befestigt wurde. (Ammon) Mit der Entrechtung der Afroamerikaner, den Parteigängern der Republikaner während – und als verschwindende Minderheit noch nach – der Reconstruction, ging die Errichtung der faktischen Einparteienherrschaft der Demokraten im Süden einher. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Parteienlandschaft der USA geprägt vom Bild des ›Solid South‹.

Bei dem Konflikt um die Wahlen von 1876, der seine Lösung in letzter Minute im Wormley Hotel gefunden haben soll, handelt es sich um eine nahezu vergessene Episode der amerikanischen Geschichte. Die eigentliche Bedeutung des Compromise of 1877 liegt darin, dass er den Süden sich selbst überließ. Die Verlierer des Bargain of Wormley waren so die Afroamerikaner. Bereits 1883 erklärte der Oberste Gerichtshof in Washington das Bürgerrechtsgesetz von 1875, das Diskriminierung in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie bei der Besetzung von Geschworenengerichten unterbinden sollte (https://history.house.gov/Exhibitions-and-Publications/BAIC/Historical-Data/Constitutional-Amendments-and-Legislation/ ), für verfassungswidrig. In der Folge – bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts – erließen die von den Demokraten beherrschten Südstaaten die sogenannten ›Jim-Crow‹-Gesetze, welche durch diverse Klauseln die Schwarzen von den Wahlen ausschlossen, Segregation und Erniedrigung festschrieben. Lynchterror tat das übrige. Im Jahr 1896 erklärte der Oberste Gerichtshof die Rassentrennung unter der Maßgabe ›Separate but equal‹ für verfassungsgemäß.

Die Verwandlung der Parteienlandschaft und die milde Ironie eines alten Wahlgesetzes

Erst achtzig Jahre später, mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und der maßgeblich unter Präsident Lyndon B. Johnson beschlossenen Bürgerrechtsgesetze kam es zu einem grundlegenden Wandel der seit 1877 institutionalisierten Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung. Mit den Bürgerrechtsgesetzen änderte sich auch das Bild der amerikanischen Parteienlandschaft. Schon vor den Präsidenten Kennedy und Johnson hatten sich progressive Demokraten zu Fürsprechern der Afroamerikaner gemacht. Die Bürgerrechts- und Antidiskriminierungsgesetze bewirkten, dass die schwarzen Wähler in den USA, nunmehr auch im Süden, sich den Demokraten zuwandten. Auf diese Entwicklung reagierte der 1968 gewählte Richard Nixon mit seiner ›Southern strategy‹, d.h. der Gewinnung der weißen Wählerschaft im Süden für die Republikaner.

In der Folge nahm die republikanische Partei, in deren Reihen bis dahin der an der Ostküste verankerte liberale Flügel einflussreich war, zusehends konservative Züge an. Im Süden beerbte sie die Demokraten. Mit dem Aufkommen der stark von ›evangelikalen‹ Tendenzen – meist bezeichnet als ›christliche Rechte‹ – getragenen Tea-Party-Bewegung und deren gegen alle liberals (gleich ›Linke‹) gerichteter Stoßrichtung bekam die Partei einen noch ›konservativeren‹ Charakter. Auf diese nicht nur stark im Süden verankerte Bewegung stützte sich Donald Trump in den republikanischen Vorwahlen, die ihm – in Konkurrenz mit teils konservativen, teils liberaleren Mitbewerbern – zur Kandidatur (und zur Präsidentschaft) verhalfen. Zu seinem unvorhergesehenen Wahlsieg 2016 trug schließlich die vom liberal establishment vernachlässigte, als deplorables (Hillary Clinton) verächtlich gemachte weiße Arbeiterschicht, bis dato verlässliches Reservoir der Demokraten, bei.

Es ist keine gänzlich abwegige Hypothese, dass Trump ohne die Corona-Krise die Wahl 2020 gegen Joe Biden gewonnen hätte. Was die von ihm vor und nach der Wahl am 3. November 2020 erhobenen Vorwürfe der Wahlmanipulation betrifft, so setzte er Nachzählungen in mehreren Wahlbezirken durch. Er verband damit die Hoffnung, dass die Endergebnisse nicht zu dem rechtlich gebotenen Termin des 12. Dezember im Kongress eingehen würden, so dass eine Auszählung der Stimmen des Electoral College nicht termingerecht erfolgen könne. In diesem Falle könnten in den noch umstrittenen Staaten die Legislativen – entsprechend den dortigen Mehrheiten – die Wahlmänner und/oder Wahlfrauen benennen. (Dovere) Die von manchen Trump-Republikanern herbeigewünschte Verzögerung trat nicht indes nicht ein, auch der Oberste Gerichtshof wies die von Republikanern eingereichten Klagen ab. In der von spektakulären Gewaltakten begleiteten Sitzungen des Kongresses wurde der Wahlsieg des Demokraten Joe Biden bestätigt.

Es ist eine milde Ironie der Geschichte, dass Trumps gescheiterte Strategie, den Termin des 12. Dezember zu unterlaufen, auf den Konflikt um die ›gestohlene Wahl‹ von 1876 zurückweist. Um einen erneuten Disput um die Präsidentenwahl zu vermeiden, verabschiedete der Kongress 1887 das sogenannte Electoral Count Act. Das Gesetz sieht vor, dass spätestens 41 Tage nach dem Wahltag die Wahlmännerstimmen der Bundesstaaten im Kongress vorliegen müssen. Zugleich wurde festgelegt, dass die die von den Einzelstaaten eingereichten Listen als bindend akzeptiert würden, sofern sie rechtzeitig im ›sicheren Hafen‹ (safe harbor) eingegangen seien. Im Falle des von Trump bestrittenen Wahlergebnisses war der Termin der 12. Dezember 2020. Eine erfolgreiche Verzögerung hätte neue Konfliktmomente eröffnet, die in der Komplexität des bestehenden amerikanischen Wahlsystems begründet liegen. (Ebda.; siehe auch: https://www.eac.gov/sites/default/files/eac_assets/1/28/The%20Electoral%20College%20(Jan.%202011).pd f https://en.wikipedia.org/wiki/1876_United_States_presidential_election) Stattdessen wurde die Welt Zeuge der Gewaltszenen am 6. Januar 2021.

Literatur:

AMMON, Herbert: Die Ära des Populismus – Umrisse eines Begriffs, in: Iablis 2017
BLAKEMORE, Erin: The 1876 election was the most divisive in U.S. history. Here’s how Congress responded, in: National Geographic, Jan. 6, 2021 https://www.nationalgeographic.com/history/article/1876-election-most-divisive-united-states-history-how-congress-responded
DEHLER, Gregory: Everything Wrong With the Hayes Administration, in: Libertarianism 27.April 2020, https://www.libertarianism.org/everything-wrong-presidents/everything-wrong-hayes-administration
DOVERE, Edward-Isaac: The Deadline That Could Hand Trump the Election, in: The Atlantic September 9, 2020; https://www.theatlantic.com/politics/archive/2020/09/trump-biden-electoral-count-act-1887/615994/
FRANKLIN, John Hope: Reconstruction After the Civil War, Chicago & London, 1966
JONES, Stephen A. - Freedman, Eric: Presidents and Black America. A Documentary History, Los Angeles, etc. 2012
KILGORE, Ed: The Last Time a Contested Presidential Election Nearly Tore the Country Apart, in: New York Magazine Sept. 7, 2020, https://nymag.com/intelligencer/2020/09/the-last-time-a-contested-election-tore-the-country-apart.html
LESLIE, J. Ppaul: Compromise of 1877, in: 64 Parishes, https://64parishes.org/entry/compromise-of-1877
MORISON, Samuel Eliot - Commager, Henry Steele.: The Growth of the American Republic, Bd. II, New York 1962
PALEN, Marc William: The Election of 1876 / The Compromise of 1877, in: Edward O. Frantz: A Companion to the Reconstruction Presidents 1865-1881, Oxford 2014, 415-430
PESKIN, Allan: Was There a Compromise of 1877?, in: The Journal of American History 60,1 /June 1973), 63-75
SIMKINS, Francis Butler: A History of the South, 3rd ed. New York 1963
TEMPERLEY, Howard: Regionalismus, Sklaverei, Bürgerkrieg und die Wiedereingliederung des Südens, 1815-1877, in: Die Vereinigten Staaten von Amerika (Fischer Weltgeschichte 30), hrsg. von Willi Adams u.a., Frankfurt am Main 1977, S. 71-124
WOODWARD, C. Vann: Reunion and Reaction, 2nd ed. Garden City, N.Y. 1956 (= Woodward I)
WOODWARD, C. Vann: The Origins of the New South 1877-1913, Baton Rouge 1966 (= Woodward II)

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