Das dreißigste Jubiläumsjahr des Mauerfalls wurde spürbar anders intoniert als die vorigen Jubiläen. Im Vordergrund stand diesmal die sog. Nachwendezeit, dargestellt als ostdeutsche Leidensgeschichte. Das hing mit den drei ostdeutschen Landtagswahlen zusammen und mit der Überzeugung vieler Wahlkämpfer, dass sich mit dieser Tonart die Sympathie Ostdeutscher besonders gut gewinnen lasse.

Ob sich das im dreißigsten Jahr der deutschen Vereinigung so fortsetzt, ist offen. Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat mit seinem Buch Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde eine Vorlage geliefert. Es ist die erste umfassende Darstellung der sogenannten Nachwendezeit, kenntnisreich und materialreich. Aber es hat zwei schwerwiegende Mängel. Kowalczuk unterstellt, der Westen habe im Zuge der ›Übernahme‹ die Ostdeutschen gezielt und absichtlich gedemütigt. »Herabwürdigung als Staatsraison« heißt es einmal. Im Interesse dieser These werden mehrfach gewichtige Sachverhalte verzerrt oder gar richtiggehend falsch dargestellt.

Nach dreißig Jahren sind viele Details jener Zeit weithin vergessen. Die Erinnerung kann so oder so neu justiert werden. Es wäre fatal, wenn sich jene unkorrekten Skandalisierungen nun, vom Fachmann geadelt, als blinde Passagiere in die kollektive Erinnerung hineinschmuggeln. Denn sie kursieren ja längst. Deshalb werden im folgenden einschlägige Zitate aus Kowalczuks Buch kritisch kommentiert.

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Wolfgang »Schäuble, der eine tabula rasa anstrebte: Nichts im Osten sollte bleiben wie bisher; alles sollte zur bloßen Kopie des Westens werden.«

Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte 1990 der Bundesrepublik beitreten, also ihre Ordnungen übernehmen. Wolfgang Schäuble wollte aber zum Übergang z.B. möglichst viel von der ostdeutschen Rechtsordnung erhalten sehen. Beide Justizministerien haben widersprochen. Das Zivilgesetzbuch der DDR sei zwar kürzer und übersichtlicher als das BGB, aber zu kurz für Gewerbefreiheit und Marktwirtschaft, weil es zu wenig regele. Eine Übergangsphase verdopple zudem die Umstellungslasten und beeinträchtige die Planungssicherheit. Dasselbe Argument ist von östlicher Seite auch gegen eine Übergangsphase ohne Privatisierung, also Marktwirtschaft mit Staatsbetrieben, vorgebracht worden. Und die Idee: »erst sanieren, dann privatisieren« scheiterte, weil sich gar nicht genug Übergangsmanager auftreiben ließen und wieder das Problem der Doppelumstellung entstand. Außerdem hätte der Staat sämtliche Sanierungskosten zahlen müssen und nicht der Käufer.

Zu den Vertragsverhandlungen zur deutschen Einheit: »Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesen Vorgängen war der Umstand, dass die wichtigsten Nachkriegsverträge fast unter Ausschluss der Parlamente und ihrer Ausschüsse zustande kamen.« … »letztlich waren diese wichtigen Verträge Sache von wenigen Spitzenpolitikern um Schäuble und Krause sowie der Bonner Ministerialbürokratie.«

Hier wird das Übliche zum Skandal stilisiert. Staatsverträge werden zwischen den Regierungen ausgehandelt und paraphiert, danach von den Parlamenten ratifiziert. Bei allen Vertragsverhandlungen werden die Details zunächst auf der unteren Ebene verhandelt und nur das, worüber keine Einigung erzielt wird, wird den ›Spitzenpolitikern‹ vorgelegt. So war es auch beim Einigungsvertrag. Zur Unterrichtung des Parlaments wurden zudem in Bundestag und Volkskammer je ein ›Ausschuss deutsche Einheit‹ gebildet, die auch gemeinsam getagt haben. Regierungen sind allerdings aus verhandlungstaktischen Gründen zurückhaltend bei der Weitergabe von Entwürfen für laufende Verhandlungen. Übrigens gab es auch Fragen, für die auf höchster Ebene keine Einigung erzielt wurde, wie die Fragen des zukünftigen Regierungssitzes, des Schwangerschaftsabbruchs und der Überarbeitung des Grundgesetzes. Sie wurden dem ersten gesamtdeutschen Bundestag aufgegeben. Wenn die westdeutsche Seite hätte diktieren können und, wie Kowalczuk Habermas zitiert, den Einigungsvertag mit sich selbst abgeschlossen hätte, wären keine Fragen offen geblieben. Viele Fragen waren zudem auch innerhalb der Bundesrepublik umstritten. Weil die Bonner Koalition am 13. Mai ihre Mehrheit im Bundesrat verlor, brauchte sie die Zustimmung der West-SPD zu den Staatsverträgen und hat sie deshalb einbezogen. Zudem haben die Parteien in Ost und West fortwährend öffentlich Forderungen zum Einigungsvertrag erhoben und oft von deren Erfüllung ihre Zustimmung abhängig gemacht.

»Schäuble brachte es in der ihm eigenen entwaffnenden Ehrlichkeit auf den Punkt: ›Die Ratifizierung in den Parlamenten war eigentlich nur noch eine Formsache.‹ Das spitzt zu, wie die Technokraten der Einheit die Sache angingen: es war eine Formsache.«

Bei Staatsverträgen muss die Zustimmung der Parlamente nach der Paraphierung Formsache sein, andernfalls ist der Vertrag gescheitert. Einseitige Änderungen des paraphierten Textes durch eines der Parlamente lässt sich die andere Seite natürlich nicht bieten.

»Der Molekularbiologe Jens Reich … drückte aus, worunter diese Einigungsdebatte litt: ›Wissen wir, was wir da alles unterschreiben…? ... Der Zeitdruck, unter dem das Ganze abläuft, ist unerträglich…‹«

Ein Wissenschaftler hat meist viel Zeit, jeden Satz seines Textes zu prüfen. Wenn es um Entscheidungen geht, etwa eines Chirurgen im OP, ist die Zeit immer knapp. So auch bei der Ratifizierung eines Vertrages. Parlamentarier sind keine Universalgenies. Sie müssen sich auf das Urteil ihrer spezialisierten Fraktionskollegen und Mitarbeiter verlassen und können nicht beliebig viel Zeit bis zur Entscheidung fordern.

»Mit der Vereinigung von 1990 holte sich die Bundesrepublik, zynisch gesprochen, die ›Anderen‹, die man zur Selbstbestätigung (und zum Selbstbetrug) benötigt, ins eigene Haus. ›Ossi‹ und ›Wessi‹ wurden erfunden.«

Es gibt Menschen, die Beziehungen zu anderen nur zu dem Zweck pflegen, sie zu demütigen. Dies ›der Bundesrepublik‹ zu unterstellen ist gehässige Küchenpsychologie.

»Der Subtext des ›Einigungsprozesses‹ … lautet: Wir, die Westler, haben ein siegreiches, ein überlegenes System und zwar in jeder Hinsicht. Nicht nur wirtschaftlich, politisch, kulturell, nein, auch die Menschen sind Euch überlegen. Ihr könnt zwar nichts dafür, Ihr seid gezwungen worden, so ›verzwergt‹ (Baring) zu werden, nun müssen Wir Euch halt umerziehen.«

Subtexte sind Konstrukte auf Verdacht, Mutmaßungen. Sie verraten manchmal mehr über den Mutmaßenden als über den Bemutmaßten. Nur Verrückte behaupten, dass Westdeutsche Ostdeutschen ›menschlich‹ überlegen seien oder umgekehrt.
1989 hat sich tatsächlich ein massives Systemversagen offenbart, nämlich ganz einseitig das des ›sozialistischen‹ Systems in der DDR – und zwar in den Augen der DDR-Bürger, die massenhaft flohen, demonstrierten und den Parteien des Beitritts die meisten Stimmen gaben.

Zur frei gewählten Volkskammer: »Natürlich wäre es nicht völlig absurd gewesen, zu schauen, ob dort Mechanismen und Verfahrensabläufe zu beobachten seien, die für den deutschen Parlamentarismus insgesamt eine Bereicherung darstellen könnten. Nichts da. Das Urteil stand schneller fest als die Ergebnisse der Volkskammer: ›Laienspieler‹, ›Laienparlament‹ titulierten amüsiert und arrogant die Profis aus dem Bonner Wasserwerk. Herabwürdigung als Staatsraison.«

Ich habe damals auf Max Streibls Ausrutscher über die »Laienspieler« geantwortet: es stimmt, wir sind Laienspieler, weil die Profis der SED durch Revolution und freie Wahlen abgelöst worden sind.
Es gibt drei Arten von Herabwürdigungen oder Demütigungen: die absichtlichen, die unbeabsichtigten aus mangelnder Kenntnis oder Sensibilität und die eingebildeten, wozu besonders Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl und solche mit einem übersteigerten neigen. Beides tritt oft verbunden auf. »Herabwürdigung als Staatsraison« behauptet, der westdeutsche Staat habe Ostdeutsche absichtlich gedemütigt. Dies aus Streibls dummem Spruch zu folgern ist ein Auswuchs eingebildeter Demütigung.
Parlamente sind frei. Sie übernehmen, was sie übernehmen wollen. Auch alle ostdeutschen Landesparlamente können jederzeit aus der DDR übernehmen, was ihnen gut dünkt, sofern es sich mit dem Grundgesetz verträgt. Sachsen hat das mit zwölf Schuljahren bis zum Abitur vorgemacht. Brandenburg hat Geldprämien zur Geburt eingeführt, dann wieder abgeschafft.

»Lothar de Maizière vermittelte zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, etwas anderes zu wollen, als ihm seine Vorgesetzten in Bonn vorschrieben.« (104)

Helmut Kohl als »Vorgesetzter« Lothar de Maizières dient wohl nur der »Herabwürdigung«. Das Verhältnis zwischen beiden war extrem gespannt. De Maizière hat für eine Reihe von Zielen zugunsten der Ostdeutschen bis zur Erschöpfung gekämpft: gegen die Rückabwicklung der Bodenreform, für den Schutz des »redlichen Erwerbs« von enteigneten Grundstücken, für den Umtausch 1:1 bei Löhnen und Renten, für eine Rentenerhöhung vor der Währungsunion als »Teuerungszulage« wegen des Wegfalls der Subventionen bei Grundnahrungsmitteln und Mieten zum 1.7.90, für die Anerkennung ostdeutscher Berufsabschlüsse, für Berlin als Regierungssitz. In diesen Fragen war zwar Helmut Kohl nicht persönlich der Gegner, aber auch nicht der Auftraggeber. Es gab Widerstand aus dem Westen.

»Aber nicht nur die neue Regierung verhielt sich wenig souverän. Die Menschen im Osten selbst hatten sie mit überwältigender Mehrheit gewählt, weil sie genau eine solche haben wollten: keine Experimente, sondern alles dafür tun, um im Osten endlich den Westen als Kopie zu haben. Wer sich so aufgibt, bekommt noch weniger als nur eine zertrampelte Würde.«

Diejenigen Ostdeutschen, die leben wollten wie in der Bundesrepublik, haben also selbst ihre Würde zertrampelt? Und diejenigen, die sich denselben Wunsch durch Flucht oder Ausreise in den Westen erfüllt haben, auch? Es waren von 1949 bis 1989 ca. vier Millionen.

Zum Umtauschkurs 1:1 / 1:2: »Die Ostdeutschen verloren insgesamt etwa ein Drittel ihres Finanzvermögens.«

Im Außenhandel der DDR mit der Bundesrepublik mussten 1989 im Durchschnitt 4,50 Ostmark für den Erwerb einer D-Mark eingesetzt werden. Da war 1:2 eine Wertverdopplung der Ostmark und der begrenzte Umtausch 1:1 eine Vervierfachung.

»Mussten tatsächlich alle ›roten Manager‹ wie das Leitungspersonal in Staat und Justiz mehr oder weniger beiseitegeschoben und entlassen werden? Waren deren Erfahrungen nichts wert?«

Ein U-Boot-Kapitän kann nicht ab morgen Flugzeugkapitän sein oder umgekehrt. Wie schwierig für DDR-Wirtschaftskapitäne die Orientierung in der Marktwirtschaft war, hat Hans-Ulrich Zöfeld beschrieben, der ostdeutsche Chef der Erfurter Treuhandniederlassung nach dem Modrow-Gesetz. Er wurde dreimal wöchentlich nach Berlin zu achtstündigen Vorlesungen westdeutscher Lehrkräfte über Marktwirtschaft geschickt und schreibt dazu: Das war »wie der Beginn des Erlernens einer Fremdsprache«. Er berichtet auch von seinen Erfahrungen mit seinen Betrieben. Von denen kamen keine Analysen über die Chancen ihrer Produkte auf dem Weltmarkt, keine Vorschläge, wie man auf die veränderten Marktbedingungen reagieren wollte, und nichts über die zukünftige Finanzierung. Sie machten einfach weiter wie bisher, Planwirtschaft ohne Plan und der Staat bezahlt Defizite. Erst die Treuhand nach Volkskammergesetz (ab 1.7.90) hat die Stagnation beendet.

Zu den ›Betriebsschulden‹ oder ›Altschulden‹.

»Erst durch die Veräußerung der Staatsbank der DDR und anderer DDR-Banken an bundesdeutsche Geldhäuser sind Buchkredite in reale Kredite umgeschrieben worden.« »Das war ein zentraler Grund dafür, dass die ostdeutschen Betriebe verschuldet, ohne Kapital dastanden und auch keine Kredite bewilligt bekamen – die sie erhielten, benötigten sie meist für die Begleichung laufender Kosten, ein Zusammenbruch war also kalkulierbar, wenn nicht sogar einkalkuliert.« »Es hätte niemandem geschadet, diese Buchungswerte als das zu behandeln, was sie waren: nichts wert. Stattdessen verkaufte man Schulden, die nicht existierten.«

Solange die Betriebe Treuhandbetriebe waren, konnten sie gar nicht aufgrund der Betriebsschulden zusammenbrechen, da für ihre Defizite die Treuhand als Eigentümerin aufkommen musste. Beim Verkauf aber hat die Treuhand die Betriebsschulden zum allergrößten Teil übernommen, insgesamt ca. 100 Mrd. DM, also 200 Mrd. Ostmark. Manchmal wurden Betriebsschulden vom Käufer (anteilig) zur Minderung des Kaufpreises übernommen, weil das einem Kredit entsprach, aber ohne Verpfändung einer Sicherung, was bei Ostdeutschen ja nur das Eigenheim sein konnte. Kauf ist bekanntlich freiwillig. Niemand kauft ein Unternehmen, dessen Verschuldung den Zusammenbruch kalkulierbar macht. Noch abwegiger ist die Unterstellung, die Treuhand habe den Zusammenbruch ›einkalkuliert‹, also beabsichtigt.
Diese Betriebsschulden waren tatsächlich keine Betriebsschulden im marktwirtschaftlichen Sinne und hatten mit der Betriebsführung nichts zu tun. Insofern waren sie ›fiktiv‹. Aber für das staatliche Kreditwesen waren sie Guthaben, die den Verbindlichkeiten gegenüberstanden. Um trotz der gewaltigen Kosten von Honeckers Neubauprogramm einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorlegen zu können, wurden die bereits abgeschriebenen (und verschlissenen!) Industrieanlagen einer Neubewertung unterzogen (sie liefen ja noch irgendwie) und dieser fiktive Restwert dann ›beliehen‹ – ein abenteuerliches Verfahren des Selbstbetrugs.
Es ist aber ein Fehlschluss, dass deshalb diese Schulden hätten folgenlos gestrichen werden können. Denn die Schulden des einen sind immer die Guthaben eines anderen. Fiktiven Schulden entsprechen fiktive Guthaben. Die Sparguthaben der DDR-Bürger gehörten zu den Verbindlichkeiten des staatlichen DDR-Kreditsystems. Sie waren auch ›fiktiv‹, denn sie lagen ja nicht als Goldbarren im Tresor. Die DDR-Bürger wollten sie aber in DM umgetauscht bekommen. Wenn die Verbindlichkeiten des DDR-Kreditsystems in harte Devisen umgestellt werden sollten, konnte man die entsprechenden Guthaben des Kreditsystems, die Betriebsschulden, nicht ersatzlos streichen, ohne zu klären, aus welchem Topf dann die DDR-Sparguthaben in D-Mark ausgezahlt werden sollten. Dafür gab es mehrere Lösungen. Die Auskunft: »soll doch der westdeutsche Bundeshaushalt die ostdeutschen Sparguthaben auszahlen« wäre nicht nur allzu simpel, sondern auch peinlich gewesen.

»Hinzu kam, dass westlichen Käufern die ›Altschulden‹ oft einfach erlassen worden sind. Ostdeutsche Investoren hatten das Nachsehen – sie verfügten über nichts. Und ihnen wurde auch nichts erlassen.«

Käufern sind die Altschulden dann erlassen worden, wenn sie Investitionen in erheblicher Millionenhöhe verbindlich zugesagt haben, wozu Ostdeutsche nach 40 Jahren Reichtumsvermei­dungspolitik allerdings nie in der Lage waren. Die Treuhand hat aber den Erwerb von mittleren Unternehmen durch die ostdeutschen Betriebsleiter (MBO, Management buy out) ausdrücklich gefördert, nämlich durch MBO-Messen und Erleichterungen bei der Finanzierung. Die Bezirksniederlassungen haben kaufwilligen ostdeutschen Geschäftsführern bis zu 40 Prozent Rabatt gewährt. Die Zentrale sah das nicht gern, weil sie befürchtete, Westdeutsche würden Ostdeutsche als Strohmänner vorschieben, um ebenfalls den Rabatt zu kassieren. Sie empfahl andere Instrumente der Förderung Ostdeutscher. (Vgl. N. Pötzl, Der Treuhandkomplex)

»Von den mittleren oder großen Privatisierungen gingen etwa 85 Prozent an westdeutsche und zehn Prozent an ausländische Investoren sowie ganze 5 Prozent an ostdeutsche Optimisten. Lediglich bei ›Kleinprivatisierungen‹ dominierten Ostdeutsche. Im Ergebnis gingen die ostdeutschen Unternehmen zum Großteil in den Besitz ortsfremder Investoren über.«

Es geht bei diesen Zahlen um die Anteile am Gesamtverkaufsertrag der Treuhand und nicht um die Anzahl ostdeutscher und westdeutscher Käufer.
Die größten DDR-Unternehmen sind gar nicht an natürliche Personen (›Westdeutsche‹) verkauft worden, sondern an (in- und ausländische) Kapitalgesellschaften oder Konzerne, wie Siemens, Bombardier oder BASF. Es gab aber im Osten keine Konzerne, die als Käufer hätten auftreten können.
Im Zuge der sog. kleinen Privatisierung von Einzelhandelsgeschäften, Apotheken, Gaststätten, Hotels sind 22 340 Einheiten an Ostdeutsche gegangen, zumeist an die bisherigen Leiter der Einrichtungen.
Bei der großen Privatisierung (11 000 Unternehmen) sind ca. 25 Prozent durch MBO privatisiert worden (ca. 3000 Unternehmen). Dabei hat oft ein ostdeutscher Geschäftsführer oder Betriebsleiter (s)ein Unternehmen übernommen (vgl. Rotkäppchen).
Unter Honecker sind 1972 die verbliebenen privaten bzw. ›halbstaatlichen‹ Unternehmen enteignet worden, insgesamt 11 400. Noch unter Modrow wurden diese Enteignungen auf Antrag rückgängig gemacht (›Reprivatisierung‹). Allerdings sind nur ca. 3000 Rückgabeanträge gestellt worden. Dabei sind exklusiv Ostdeutsche zum Zuge gekommen. (Vgl. Frank Ebbinghaus, Ausnutzung und Verdrängung. Steuerungsprobleme der SED-Mittelstandspolitik 1955-1972, Berlin 2003).
Dass Investoren ›ortsfremd‹ sind, gilt offenbar als Makel – eine seltsame Art von ›Nationalökonomie‹. Die AfD lässt grüßen. Es ist gleichgültig, wem ein Unternehmen gehört, wenn es vor Ort Arbeitsplätze schafft. Die Waggonbauer in Görlitz haben noch nie deshalb gestreikt, weil das Werk zum Siemenskonzern gehört, sondern als die Schließung drohte. Bei Siemens sind übrigens nur 31 Prozent der Aktien in (west)deutscher Hand, 69 Prozent sind in der Hand von ›Ortsfremden‹, sprich Ausländern. Das stört aber nicht.

»Schon in den 1950er Jahren warnten Ökonomen, die für das Gesamtdeutsche Ministerium und den Forschungsbeirat Wiedervereinigung arbeiteten, davor, bei einer Wiedervereinigung zu kurze Übergangsfristen für die ostdeutsche Volkswirtschaft zu veranschlagen. Über drei Jahrzehnte später entschied die Politik, gar keine einzubauen.«

Alle Konzepte mit Übergangsfristen rechneten mit einer stabilen DDR-Regierung, die schmerzhafte Reformen durchsetzen kann, und mit einer funktionierenden Zollgrenze zwischen beiden deutschen Staaten bis zur Währungsunion, man könnte auch sagen: sie rechneten mit einer Vereinigung ohne Revolution in der DDR. Die plötzliche Totalöffnung für Personen, Geld und Waren machte solche vernünftigen Konzepte hinfällig.

Zur Schließung des Kalibergwerks Bischofferode: »Die Qualität in Bischofferode galt als die beste auf dem deutschen Kalimarkt.« (125)

Die Schließung von Bischofferode erscheint dann als eine ökonomisch absurde Gemeinheit gegen die Ostdeutschen. In Wahrheit war das Bischofferoder Kali ausschließlich Kaliumchlorid vom Typ K60, wie im sachsen-anhaltinischen Zielitz, und nur im Ausland absetzbar. Dort war es begehrt, solange es billig angeboten werden konnte. Nach der Währungsunion beliefen sich die Förderkosten pro Tonne auf 740 DM, während die Tonne auf dem Weltmarkt 134 DM kostete. Da es ein Überangebot auf dem Weltmarkt gab, musste die deutsche Förderung reduziert werden. Zielitz hatte gegenüber Bischofferode einige Vorteile und produziert bis heute – als das größte Kalibergwerk Europas – und liegt im Osten. (Vgl. N. Pötzl)

Zur Überbeschäftigung: »Ganze Jahrgänge der über 55-Jährigen tauchen in den Statistiken gar nicht auf. Sie sind mit Vorruhestandsregelungen in die Rente geschickt worden – aus der Arbeitsgesellschaft ins: Nichts.« (149)

Die Vorruhestandsregelung zur Entlastung des Arbeitsmarktes (mit Abfindungen) ist schon unter Modrow (SED) eingeführt worden. »Ins Nichts?« Die ostdeutsche Suizidrate (Rentner waren überproportional betroffen) ist in den ersten zehn Jahren der Vereinigung um 72 % auf das westdeutsche Niveau (=100%) gesunken. Die Lebenserwartung der 65-jährigen ist in demselben Zeitraum um drei Jahre auf das westdeutsche Niveau gestiegen. Beides ist untypisch für Menschen, die ins Nichts gestoßen werden. Ostdeutsche Rentner wurden Weltmeister im Reisen, zumal sie damals Erwerbsbiographien ohne Arbeitslosenzeiten und bei Paaren beide einen eigenen Rentenanspruch hatten.
Der SED-Planungs-Chef Gerhard Schürer hat in seinem Gutachten für Egon Krenz vom 30.10.1989 den Abbau überflüssiger Arbeitskräfte, zumal in der Verwaltung verlangt, um die Defizite in der Arbeitsproduktivität zu mindern. Die Arbeitsämter in der DDR wurden noch unter der Regierung Modrow gegründet.

»Der neue Staat trat seinen neuen Bürgern millionenfach als sinnlose Steuerungs- und Regelungsinstanz gegenüber, die das Nichts verwaltete. Er wurde als Feind wahrgenommen.« Viele Ostdeutsche »mussten eine Rolle annehmen, die sie bislang nicht kannten: arbeitslos um sozialen Beistand betteln.«

Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, später Hartz IV, sind einklagbare Rechtsansprüche, um die niemand betteln muss. In den östlichen Nachbarländern gab es Sozialleistungen diesen Umfangs nicht.

Zu ostdeutschen Führungskräften und Führungskräften aus dem Westen: »Nur weil die Bundesrepublik existierte, konnte es anders als in Ostmittel- und Osteuropa eine komplette personelle Tabula rasa geben – mit allen Folgen, die das bis heute zeitigt.«

Die meisten Ostdeutschen, die nach 1990 Leitungsfunktionen wahrnahmen, hatten schon vor 1989 Leitungsfunktionen inne. Die Leipziger Studie Wer beherrscht den Osten? belegt die Dominanz Westdeutscher im Osten nur für Spitzenpositionen. Und: es waren Ostdeutsche, die Westdeutsche zu Ministerpräsidenten, Richtern oberster Landesgerichte oder Bischöfen gewählt haben. Dass Ostdeutsche bei Berufungen und Beförderungen benachteiligt werden, muss erst noch bewiesen werden. Aus der DDR haben sie nämlich oft eine Karrierescheu mitgebracht.

»Der rigide Austausch der gesamten ostdeutschen Elite, der Funktionärs- und Dienstklasse, der Führungskräfte, nicht nur der obersten Spitzen, trug erheblich zur Demütigung eines Teils der Ostdeutschen bei…«

Ein solcher rigider Austausch hat gar nicht stattgefunden. In den 90er Jahren hörte man oft die Klage: in den Ämtern sitzen ja noch dieselben Leute. Bei Fachleuten war die Mitgliedschaft in der SED kein Karrierehindernis. Die Fachleute aus DDR-Ministerien und aus den Bezirksverwaltungen konnten sich für die zu errichtenden Länderverwaltungen bewerben und haben das auch oft erfolgreich getan.
Lange vor der Vereinigung, nämlich Ende 1989, sind viele Schulleiter und Betriebsleiter von Lehrerkollegien bzw. Betriebsversammlungen abgesetzt worden. Die SED selbst hat Ende 1989/1990 das Politbüro vor ein Parteigericht gestellt und fast alle aus der Partei ausgeschlossen. Vor der freien Volkskammerwahl 1990 saßen so viele SED-Funktionäre im Gefängnis wie seitdem nie wieder – auf Veranlassung der SED-Justiz, nach dem Motto: Haltet den Dieb!
Richter und Staatsanwälte der DDR sind auf ihren Antrag anhand der Akten von Prozessen, an denen sie mitgewirkt haben, überprüft und bei positivem Ausgang übernommen worden, in Brandenburg z.B. etwa die Hälfte der Richter und zwei Drittel der Staatsanwälte.
Leistungsstarke DDR-Wirtschaftsfunktio­näre haben durchaus Beschäftigungen in der Wirtschaft gefunden – ehemalige Stasioffiziere und Stasimitarbeiter (IM) übrigens auch, denn ihnen war ja nur eine öffentliche Karriere versperrt, keine wirtschaftliche.

Zu den Stasi-Überprüfungen des öffentlichen Dienstes, der Abgeordneten aus der DDR u.a.: »Bei den Überprüften – nicht bei den Ostdeutschen, da würde der Anteil weitaus geringer ausfallen! – gab es etwa eine Quote von sechs Prozent Stasi-Fällen, von denen die Hälfte als so belastet galt, dass sie aus dem Öffentlichen Dienst wegen der Stasi-Tätigkeit entlassen wurden. Darf man … fragen, … ob dieser gewaltige Aufwand angesichts solcher Zahlen gerechtfertigt war?«

Die Stasiüberprüfungen sollten das Ansehen des öffentlichen Dienstes, der Abgeordneten, der kirchlichen Mitarbeiter usw. schützen. Und sie sollten einer Instrumentalisierung des Stasivorwurfs namentlich im Wahlkampf vorbeugen. Diese beiden Ziele wären auch dann erreicht worden, wenn alle Stasiverdächtigungen durch Akteneinsicht widerlegt worden wären.

»Denn binnen Kurzem musste ein großer Teil der ostdeutschen Gesellschaft die Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen in Anspruch nehmen oder die Justiz wegen Arbeitsrechts- und Eigentumsfragen bemühen. Davon waren Millionen Menschen betroffen, die auf diese Weise den bundesdeutschen Staat, die Demokratie nicht mehr abstrakt als Verheißung, sondern als konkreten Widerpart, als feindliches Gegenüber wahrnahmen.«

In der DDR wurden Behörden und Justiz als unberechenbares feindliches Gegenüber wahrgenommen. Das änderte sich spürbar ab 1990. Auch Verkäufer, bisher Herrscher über den Mangel, wurden plötzlich kundenfreundlich.
Die seit 1990 aufgebaute neue Justiz hat sehr schnell Vertrauen gewonnen, was die Anzahl der Klagen belegt. Bei Klagen gegen Kündigungen und in Eigentumsfragen hatten Ostdeutsche sehr oft Erfolg. Im Westen kursierte das Gerücht, die neue Justiz bevorzuge Ostdeutsche.

»In den Jahren seit 2007 haben in Sachsen von insgesamt knapp vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern rund 1,2 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen bezogen. Auch von ihnen ist niemand verhungert. Aber was macht das mit Menschen, nicht gebraucht zu werden, zu den ›Taugenichtsen‹ der Gesellschaft abgestempelt zu werden?«

Wenn jemand Wohngeld bezieht, wird er nicht zum Taugenichts gestempelt. In allen anderen ehemals sozialistischen Ländern hat es diese hohen Sozialleistungen nicht gegeben, also haben viel weniger Bürger Sozialleistungen bezogen. War das besser?
Die Beschäftigungsquote ist in Ost und West seit ca. 10 Jahren etwa gleich hoch, bei erheblichen lokalen Unterschieden in Ost und in West.

Zu Ost/West: »Eine ›Durchmischung‹ fand nicht statt.« (272)

Ca. 3 Millionen Ostdeutsche sind nach 1990 in den Westen gegangen und ca. 2,5 Millionen Westdeutsche in den Osten. Wie viele Ostfriesen sind in derselben Zeit nach Bayern umgezogen?
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Diese kritische Kommentierung beansprucht nicht, das Buch im Ganzen zu würdigen. Sie will auf Fallgruben hinweisen. Es finden sich in diesem Buch auch ganz anders intonierte Zitate. Allerdings bleibt rätselhaft, wie sich die einen mit den anderen vereinbaren lassen. »Mit dem Wissen von damals allerdings gibt es auch im Nachhinein wenig Anlass für die Annahme, andere Wege wären komplikationsloser verlaufen.« »Natürlich, der Osten hätte sich allein ohne den Westen und viele Westdeutsche im Osten nicht aus der Jauche ziehen können.« Zur Ost-West-Auseinandersetzung in den Akademien der Künste: »Das Schlimmste an diesen ganzen Ost-West-Fusionen ist ja, dass alle irgendwie auch Recht hatten.« Eben. Das hätte am Anfang des Buches stehen sollen, statt erst einmal das deutsch-deutsche Verhältnis zu vergiften zu versuchen. Gelingen wird das, hoffe ich, zum Glück auf Dauer nicht.