von Felicitas Söhner, Anne Oommen-Halbach, Heiner Fangerau
Der britische Historiker Timothy Garton Ash bemerkte einmal: »1989 war das bedeutendste Jahr der Weltgeschichte seit 1945« (Ash 2009). Zumindest für die deutsche Geschichte mag das zutreffen. Das Jahr der Wiedervereinigung, das auch über Deutschlands und Europas Grenzen hinaus zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen führte, jährt sich 2019 zum 30. Mal. Die Generation der heute lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen kennt das Leben und den Alltag in einem geteilten Deutschland nur noch aus Schulbüchern oder aus Erzählungen. Grundlegende zeithistorische Kenntnisse scheinen ihnen nur unzureichend vermittelt zu werden: Bereits zum 20. Jahrestag des Mauerfalls wurden bei deutschen Schülern im Hinblick auf die Geschichte der DDR erhebliche Wissenslücken konstatiert (BKM 2012: 65). Auch an den Universitäten sind bis auf wenige herausragende Ausnahmen die Forschungszweige zur Geschichte der DDR und dem damit verbundenen SED-Unrecht bislang nur wenig ausgebildet. In Ost und West stehen sich zudem getrennte Erinnerungskulturen gegenüber. (BMBF 2017, Söhner 2014)
Um Wissenslücken zu schließen, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die »stärkere Verankerung der DDR-Forschung in der deutschen Hochschul- und Forschungslandschaft« (BMBF 2018), etwa durch langfristige Kooperationen, Nachwuchsförderung und Implementierung in Lehrveranstaltungen. Der gleichermaßen im Fokus stehende gesellschaftliche Diskurs soll hierbei über den Transfer und die Popularisierung von Forschungsergebnissen z.B. in politischen Bildungseinrichtungen, Gedenkstätten, Museen und Vereinen angeregt werden. Im Mittelpunkt der ministeriellen Förderung steht die thematisch und methodisch breite Förderung von Projekten zu gesellschaftlichen Aspekten der DDR (etwa zum medialen Erbe der DDR, zur politischen Repression, zu Modernisierungsblockaden in Wirtschaft und Wissenschaft oder zu Praktiken und Wirkungen in Bildung, Erziehung und Schule).
Die in dieser Linie geförderten vierzehn Forschungsverbünde setzen sich in den kommenden Jahren auch mit Fragen der Menschenwürdeverletzung auseinander, beispielsweise in Haftanstalten, im Gesundheitswesen oder in Erziehungsheimen. In einer engen Zusammenarbeit der beteiligten Hochschulen und Universitäten mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Archiven, Gedenkstätten, Institutionen zur politischen Bildung und relevanten Vereinen werden Brücken zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gebaut und Forschungsergebnisse zur eigenen Vergangenheit öffentlich gemacht und vermittelt (BMBF 2018).
Zu den geförderten Forschungsverbünden zählt das Verbundprojekt TESTIMONY, das die Aufarbeitung und Bewältigung von Erfahrungen in DDR-Kinderheimen in den Fokus des Interesses rückt. Im Fokus des Verbundprojektes steht der interdisziplinäre Blick auf Erfahrungen in Kinderheimen der DDR in den Jahren 1949-1990, die Kinder, Erzieher/-innen oder andere im Heim wirkende Personen dort im Heimkontext zu dieser Zeit gemacht haben. Zu den Partnern des Forschungsverbunds TESTIMONY gehören die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsmedizin Leipzig (Leitung des Gesamtverbundes: Prof. Heide Glaesmer), das Institut für Klinische Psychologie und Verhaltenstherapie Medical School Berlin, das Institut für Klinische Psychologie und Sozialarbeit, Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention, Alice Salomon Hochschule Berlin sowie das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Das in Düsseldorf durchgeführte medizinhistorische Teilprojekt (Leitung: Prof. Heiner Fangerau) befasst sich dabei insbesondere mit der Geschichte der medizinischen und psychologischen Betreuung in DDR-Kinderheimen in den Jahren 1949-1990. In dieser Zeitspanne wurden etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Heimen der DDR betreut. Neben sog. ›Normalheimen‹ zählten zu diesen Institutionen auch ›Spezialheime‹ und gesonderte Einrichtungen der Jugendhilfe. Von 1964-1987 existierten zudem die Einrichtungen des ›Kombinats der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie‹, die im Besonderen für die Aufnahme verhaltensauffälliger und verhaltensgestörter Kinder und Jugendliche ausgerichtet waren. Das Teilprojekt zielt auf eine historische Perspektivierung der Betreuungsstrukturen unter medizinisch-psychologischem Blickwinkel. Wenig ist bis heute z.B. darüber bekannt, wie konkret die medizinische Betreuung in diesen mit einem quasi psychologisch-medizinischen ›Heilauftrag‹ ausgestatteten Häusern aussah (Hottenrott 2012: 25). Das Projekt nähert sich seinen Forschungsfragen über zwei methodische Ansätze: So wird über Zeitzeugengespräche mit damals tätigen (Kinder)ärzten, Allgemeinärzten, Psychologen und medizinischen Therapeuten die Wahrnehmung der Unterbringungsstrukturen und des -alltags durch unmittelbar betroffene Akteure ermittelt (zuständige Projektbearbeiterin: Dr. Felicitas Söhner). Die Zeitzeugenschilderungen werden mithilfe schriftlicher Quellenüberlieferungen und der Analyse relevanter Literatur historisch kontextualisiert und ergänzt (zuständige Projektbearbeiterin: Dr. Anne Oommen-Halbach). Die Ergebnisse werden mit den Ergebnissen der anderen Teilprojekte, die sich vornehmlich mit den Erfahrungen von ehemaligen Heimbewohnerinnen und -bewohnern auseinandersetzen zusammengefügt, um so ein umfassendes Bild des Kinderheimalltags in der DDR zeichnen zu können.
Die im Forschungsprojekt begonnene historische Biographiearbeit setzt sich über die »Dimension des Alltäglichen« (Niethammer 1985:10) mit gesellschaftspolitischen Inhalten auseinander. Über den Zugang des Zeitzeugengesprächs können Lebensgeschichten kommuniziert werden, die bislang nicht als Geschichte wahrgenommen wurden. Die historisch Forschenden erhalten damit Zugang zu Aspekten, die sich abseits einer offiziellen Erinnerungskultur oder Elitenbiographie befinden können (Söhner 2015). Sie erhalten über persönliche Narrative Einblicke in die Art und Weise, wie Individuen ihre historische Umwelt einordnen und wie sie soziale, politische und kulturelle Veränderungen wahrnehmen (Söhner 2019). So soll der Ansatz der so genannten Oral History durch persönliche Begegnung die Schaffung eines besonderen historischen Quellenmaterials und die Überwindung einer wechselseitigen Unwissenheit ermöglichen.
Die mithilfe der Förderung durch das BMBF nun aufgenommenen Projekte bieten eine große Chance, sich auf formeller wie auf informeller Ebene mit der deutsch-deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Historische Arbeit wirkt prägend auf das kulturelle Selbstverständnis und den kritischen Diskurs. Die Beteiligten hoffen, durch ihre Arbeit zur Überwindung von Berührungsängsten beizutragen und zu einer effektiven und multiperspektivischen Aufarbeitung einer gemeinsamen, geteilten Vergangenheit beizutragen. Eine solche Aufarbeitung wiederum soll dem Erhalt einer freien und demokratischen Gesellschaft dienen – ein Anspruch, der 30 Jahre nach dem Mauerfall so aktuell ist wie 1989.
Literatur:
ASH TG (2009) 1989 changed the world. But where now for Europe? in: The Guardian 04.11.2009, https://www.theguardian.com/commentisfree/2009/nov/04/1989-changed-the-world-europe (13.9.2019)
DER BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG für Kultur und Medien (BKM) (Hg.) (2012), Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/973862/475492/97636f98778fda020b6e44ab7b1346e7/2013-08-16-bericht-aufarbeitung-sed-diktatur-data.pdf?download=1 (17.9.2019)
BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2018), Pressemeldung vom 12.06.18 https://www.bmbf.de/de/wissensluecken-ueber-die-ddr-schliessen-6346.html
BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2017), Bekanntmachung. Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der DDR-Forschung im Rahmenprogramm Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Bundesanzeiger vom 31.5.2017, https://www.bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-1366.html (19.9.2019)
HOTTENROTT, L (2012) »Roter Stern – Wir folgen deiner Spur« Umerziehung im Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie (1964-1987). Eine Bestandsaufnahme. Torgau: Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.
NIETHAMMER, L (Hg.) (1985) Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Athenäum.
SÖHNER, F (2014) Der Umbruch von 1989 – eine Betrachtung semantischer Diskurse und historischer Verantwortung, in: Gehler M, Brait A, Grenzöffnung 1989: Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich. Böhlau. S.329 – 344.
SÖHNER, F (2015) Toleranz, Erinnerungskultur und innerer Einigungsprozess – zu den Gödelitzer Biographiegesprächen, in: Bios – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 2/2013, S.249 – 257.
SÖHNER, F (2019) Umgang mit Identitätskonstruktion und Zeitwahrnehmung in der Oral History, in: Schilling E, O’Neill M (Hg.) Einführung in die interdisziplinäre Zeitforschung – Frontiers in Time Research. VS Springer. (in press)