von Gunter Weißgerber

Mit Rudolf Augstein habe ich mich noch nie groß beschäftigt. Er war eine wichtige Person der Zeitgeschichte und ohne seinen Spiegel, der in der DDR zur gleichsam begehrten wie gefährlichen Konterbande gehörte, wäre auch mein politisches Leben ärmer gewesen.

Irgendwie schien mir Rudolf Augstein der große Gegenspieler zu Axel Cäsar Springer gewesen zu sein. Beide lagen an unterschiedlicher Stelle oft richtig. Im Nachhinein lag Springer sogar öfter richtig als Augstein. Der wiederum Springer etwas voraus hatte: ein kurzes Stück bundesparlamentarische Erfahrung. Rudolf Augstein glaubte 1972, Bundespolitik sei ein einfacher Nebenjob und ging auf der FDP-NRW-Landesliste in den Bundestag. Schnell merkte er, die Mühen der Ebene erfordern mehr als gutes Schreiben und 1973 entschwand er wieder in den Spiegel.

Ob Springer so ein Scheitern für sich vorausgesehen hatte und deshalb gar nicht erst den Versuch Bundestag unternahm oder ob er den Seitenwechsel nicht zielführend ansah, keine Ahnung. Ist auch egal. Augstein musste da jedenfalls durch: Über Politiker (schlecht) reden und es vermeintlich besser können, das sind zwei Welten.

Unlängst fiel mir Augsteins 1964er Rede vor dem Rhein-Ruhr-Klub im Düsseldorfer Haus des Ostens in die Hände. Das Vortragsthema lautete ›Opposition heute‹. Eine auch heute noch interessante Überschrift, gerade vor dem Hintergrund einer aktuell faktisch nicht wahrnehmbaren Opposition aus Grünen und Linksaußen sowie einer teilweise als Opposition agierenden FDP und der Totalopposition AfD.

1964 unterstellte Augstein der SPD als damals einziger Oppositionspartei im Bundestag: »Sie sucht aber nicht jene Aufgaben anzupacken, an denen die CDU sich vorbeilaviert, sondern redet sich selbst und dem Wähler ein, man müsse alles genauso machen wie die CDU, nur etwas besser. Da ihre Köpfe sich im fruchtlosen Warten auf das Regierungsamt ebenso verbrauchen, wie die CDU-Führer in der Regierung, läuft die SPD Gefahr, hinter der CDU auf Dauer das Nachsehen zu haben, denn eine regierende Partei wird potenten Nachwuchs immer ungleich stärker anziehen als eine nicht opponierende Opposition.« (S. 14).

Mit Verlaub Herr Augstein, wo war die SPD 1964 zur CDU/CSU/FDP-Regierung anpasserisch? Weil sie in ihrem Willen, den Ausgleich zum Osten zu suchen, bei der Grundgesetzgeltung des Artikel 23 für alle Deutschen mit der Regierungslinie punktuell übereinstimmte?

Rudolf Augstein hätte die DDR wohl lieber voll anerkannt und den Grundgesetzartikel 23 gestrichen? Er hätte uns lieber verraten und verkauft? Der Oskar Lafontaine 1990 war also nur auf Augsteins egozentrischen Pfaden von 1964?

Mit Augsteins Linie wäre die SPD in den 60ern schneller in bundesdeutsche Regierungsverantwortung gekommen?

Das war damals wirrer als intelligent und ist in der Rückschau eher lächerlich. Augstein war ein ausgezeichneter politischer Journalist und als Politiker ein Versager. Soviel zu den Unterschieden zwischen erster (legislativer) und sog. Vierter Gewalt. »Schuster, bleib bei deinem Leisten!«

Rudolf Augsteins nächste Perle im Vortrag lautete »Aber es geht natürlich gar nicht so ausschließlich darum, dass die SPD an der Bundesregierung beteiligt wird, obwohl die jetzige Parteiführung kein anderes Ziel zu kennen scheint. Eine attraktive Opposition müßte darauf ausgehen, die bisherige Regierung personell und in der Substanz abzulösen, selbst auf die Gefahr hin, dass ihre führenden Leute erst vier Jahre später zu Bundesministern avancieren können.« (S.15).

Wie man sich doch irren kann. Auch ein Gott wie Rudolf Augstein. Mit Brandt, Schmidt, Schiller war die SPD personell nicht auf die Ablösung der CDU/CSU/FDP-Regierung vorbereitet?

Zwei Jahre später wurde Brandt Vizekanzler und Außenminister, 1969 wurde er Bundeskanzler. Es begannen 13 Jahre sozialdemokratisch geführter Bundespolitik mit Meilensteinen wie der ›Neuen Ostpolitik‹, dem ›Grundlagenvertrag‹ mit der DDR, der dem Wunsch der SED nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR nicht nachkam, und der ›KSZE-Schlussakte‹ sowie der Schmidtschen Gleichgewichtspolitik (»Doppelte Nulllösung/NATO-Doppelbeschluss«). Alles in allem eine Politik, die in Moskau einerseits das Vertrauen wachsen ließ, mit den Führern des Westens keinen Räubern gegenüberzustehen, und die andererseits keine Zweifel daran ließ, als Bundesrepublik nicht ›lieber rot als tot‹ sein zu wollen. Im Ergebnis, auch und vor allem, weil die Regierung Kohl/Genscher in der innerdeutschen Politik ebenso wie in der Außenpolitik Brandt und Schmidt folgte (was sicher auch am Kontinuum der FDP-Regierungsbeteiligung lag), erlebten wir 1990 des Glücksmoment der Deutschen Einheit infolge der ›Friedlichen Revolution‹ in der DDR von 1989/90.

Wäre die SPD Rudolf Augstein 1964 gefolgt, die Ostdeutschen in der DDR hätten 1990 keinen Anschluss unter der Nummer ›Wiedervereinigung‹ gefunden und ihre gewonnene Freiheit nicht unter dem Schutzschild von NATO und EU absichern können. Der 1990 von linken Strömungen favorisierte ›Dritte Weg‹ hätte die DDR viel stärker in den Klauen von SED-PDS und MfS/KGB gehalten.

Bleibt zu konstatieren: Mit Merkels Institutionenmissachtung ab 2015ff. scheint alles gefährdet, was sich die Deutschen in Ost und West 1990 von einer gemeinsamen Zukunft erhofften. Die Ostdeutschen, die ihrerseits nicht nur einen gewalttätigen Staat haben untergehen sehen, sondern diesen Untergang mehrheitlich befördert hatten, sehen die Bedrohlichkeit der aktuellen Situation stärker und mosern deshalb kräftiger.

Viele Westdeutsche glauben noch immer, die Demokratie überlebe alles. Irrtum. Sie ist leider abwählbar. Anders als in den 60ern scheinen sowohl SPD als auch CDU das gründlich vergessen zu haben oder vergessen zu wollen. Leider treffen die Folgen dieses Versagens die gesamte Bevölkerung und nicht nur die Verursacher.

Geradezu hanebüchen wurde Rudolf Augstein in seinem Vortrag ab Seite 16 mit dem Stichwort ›Mauer‹. Der damalige Spiegel-Chef verteidigt sage und schreibe Ulbrichts Mauer! Diese sei nicht das Werk »…von bösen Marsbewohnern«…, nicht das Werk von »…Menschen niederer Gesinnung und Moral…« »Aber weder die Bundesrepublik noch die Oppositionellen wollen hinnehmen, was unwiderruflich ist.« (S.18).

Auf Seite 25 bezweifelt Augstein, dass es einen namhaften Sozialdemokraten geben könne, der schon 1965 mit der SPD als Juniorpartner in eine CDU/CSU-geführte Regierung eintreten könne. »Brandt sollte der junge Adenauer werden. Wie aber, wenn Erhard ein Super-Brandt würde?«

Einen letzten Vogel schießt Rudolf Augstein am 9. April 1964 in Düsseldorf mit Bemerkungen über den parlamentarischen Betrieb ab, den er erst 1972 persönlich kennen lernen sollte und in dem er kläglich scheiterte:

»Der Bundestag tut alles dafür, die Abgeordneten, die ihren Aufgaben Jahr für Jahr unvollkommener genügen – diese Beobachtung ist nicht zu kühn ausgedrückt – zu Staatsmandarinen machen, die den Parteien Staatsgelder zuschieben und sich von ihnen ihr gesamtes Leben garantieren lassen. Über die Hälfte der Bundestagsabgeordneten sind jetzt schon Beamte oder Angehörige des öffentlichen Dienstes, sind Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre oder Verbandsdelegierte.« (S. 27). – Komisch. Trotz dieser wohlfeilen Kritik entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem der weltweit geachteten Staatsgebilden.

Recht hatte er, sollte er das so gemeint haben. Der Bundestag hat immer die Chance, die Wähler gut oder schlecht zu vertreten. Wie sie das einschätzen, tun die Wähler dann in der Wahlkabine kund.

Opposition heute. Rudolf Augstein vor dem Rhein-Ruhr-Klub 1964. Vortrag und Diskussionsprotokoll, Spiegel-Verlag (Hamburg) 1964