von Peter Brandt

Eine terminologische Anmerkung vorweg: Wir sprechen von der ›Februar‹- und der ›Oktoberrevolution‹ als zwei unterschiedlichen Vorgängen, dabei handelt es sich um einen zusammenhängenden revolutionären Prozess. Für sich allein genommen könnte man zu dem Urteil kommen, die generalstabsmäßig vorbereitete und durchgeführte, als solche bemerkenswert unblutige und undramatische bolschewistische Machteroberung sei eine Art Staatsstreich gewesen. Aber man darf dieses Ereignis eben nicht isoliert betrachten. Es war ein Glied in einer längeren Ereigniskette, die nicht zwingend, aber mit einer gewissen Folgerichtigkeit dahin führte.

Die Unterscheidung einer ›bürgerlich-demokratischen‹ ersten und einer ›proletarisch-sozialistischen‹ zweiten Revolution ist auch inhaltlich fragwürdig, denn erstens wurde schon die Februarrevolution hauptsächlich von der städtischen Arbeiterschaft (und unterstützend von den Soldaten) getragen – auf dem Land blieb es im Frühjahr noch relativ ruhig – und die Arbeiter traten von Anfang an mit ihren eigenen Kampf- und Machtorganen, eben den Sowjets, und mit eigenen, teilweise schon antikapitalistischen Zielen hervor. Die Verschiebung des politischen Schwergewichts innerhalb der Arbeiterbewegung von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki erfolgte aus der Enttäuschung darüber, dass die an den (übrigens keineswegs unblutigen) Februar geknüpften Erwartungen sich nicht erfüllt hatten. Gewiss machte dieser Umsturz Russland zu einem demokratischen (wenn auch noch nicht vom Volk formal legitimierten) Staatswesen unter einer Regierung des liberalen und liberal-konservativen Bürgertums, später unter Beteiligung der gemäßigten Sozialisten, aber die wichtigste Frage der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung Russlands und damit einer eventuellen ›bürgerlichen Revolution‹, die Agrarreform, wurde gar nicht in Angriff genommen. Man wird für das Revolutionsjahr 1917 insgesamt eher von einer spezifischen dialektischen Verschränkung allgemein- bzw. bürgerlich-demokratischer und antikapitalistisch-sozialistischer Aspekte sprechen müssen. In den ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz war zudem noch nicht klar, wie weit gegen die Kapitaleigner gerichtete Enteignungsmaßnahmen der bolschewistischen Regierung gehen würden. Radikaldemokratische Ziele und der versprochene Friedensschluss standen zunächst im Fokus.

Was war das Besondere der russischen Entwicklung, das den spezifischen Charakter der Revolution bestimmte? Russland war kein Nationalstaat, sondern ein multiethnisches Imperium, zusammengehalten durch die Autokratie der Zaren, diese seit 1906 ein wenig eingeschränkt durch eine nach den Maßstäben des zeitgenössischen Konstitutionalismus bescheidene Verfassung. Nachdem 1864 – zusammen mit der Justizreform und der lokalen Selbstverwaltung – erste Schritte in diese Richtung unternommen worden waren, bezog die Verfassung von 1906, namentlich durch die Einrichtung einer parlamentarischen Vertretung, der Duma, bürgerliche und aristokratisch-liberale Segmente in den politischen Prozess ein. Radikale Opposition, namentlich die von sozialistischen Ideen gespeiste, wurde weiterhin massiv unterdrückt.

Etwa 85 % der Bevölkerung lebten auf dem Lande, trotz Erlangung der persönlichen Freiheit im Jahr 1861 durch Ablösungszahlungen und diverse Einschränkungen in gewisser Weise weiterhin dort gebunden. Das bäuerliche Russland, durch eine tiefe soziale und kulturelle Kluft von den europäisierten Eliten, auch vom liberalen Bürgertum und der Intelligenz, getrennt, war in dörflichen Gemeinschaften organisiert, die anstelle der auf dieser Ebene fehlenden Staatseinrichtungen hoheitliche Aufgaben zugeteilt bekommen hatten und den Zentralstaat gegenüber kollektiv verantwortlich waren, so für die Erhebung von Steuern. In der Armee widerspiegelte sich der alte Antagonismus von Gutsherren, die die Offiziere, und Bauern samt Dorfarmut, die die Mannschaften stellten.

Die russische Arbeiterklasse, im engeren Sinn nicht mehr als 4.2 Mio. Beschäftigte in Fabriken, Bergwerken und bei der Eisenbahn, war einerseits noch eng mit der Bauernschaft, aus der sie sich ganz überwiegend rekrutierte, verbunden, aber andererseits in einer modernen und hochkonzentrierten Großindustrie, hauptsächlich angesiedelt in oder um Petersburg und Moskau, zusammengefasst. Dadurch überstiegen ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten und ihre Schlagkraft bei weitem ihre relativ kleine Zahl. Fast überflüssig zu sagen, dass Unternehmer und Staat diesen Arbeitern, auch wenn sie höhere Löhne als auf dem Lande erhielten, nur äußerst kümmerliche Lebensbedingungen boten.

Allerdings wurde die Kommunikation, auch zwischen den sozialen Klassen und Schichten, in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg deutlich verbessert: Intensivierung administrativer Durchdringung des Landes, vermehrte Literalität und Mobilität, expandierendes bürgerliches Vereinswesen, nicht zuletzt im karitativen Bereich, auch Gründung zahlreicher Arbeitervereine, großenteils von oben. Doch Kommunikation, Handel und Bildung waren nicht nur Instrumente der kulturellen Hebung, sondern sie machten zugleich den Graben zwischen „der Gesellschaft“ und dem einfachen Volk stärker spürbar und bewusst. Eine der Voraussetzungen der späteren Revolution wird darin gesehen, dass der enge Horizont, der kleinräumigen Dorfgemeinschaft aufbrach und sich für gesamtstaatliche Probleme öffnete: erstens durch die verbreitete Wanderarbeit und zweitens durch den Militärdienst, der einen immer größeren Teil der Bauernschaft in Anspruch nahm.

Umstritten ist seit jeher, ob die Stolypin’schen Reformen der Jahre ab 1906, die die traditionelle Agrarstruktur zugunsten marktkonformer Eigentums- und Bewirtschaftungsverhältnisse auflösen sollten, aussichtreich waren, ebenso, ob die seit den 1890er Jahren forcierte, durch staatliche Finanzierung mit Hilfe ausländischer Kapitalanleihen ermöglichte Industrialisierung bereits ein selbsttragendes Wachstum hervorgebracht hatte (oder hätte zumindest hervorbringen können). Viel spricht dafür, dass der circulus vitiosus zwischen den Erfordernissen des industrialen Ausbaus und der mangelnden agrarischen Produktivität im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse nicht durchbrochen werden konnte.

Unbestritten ist die tiefe Strukturkrise des autokratischen Regimes, die im Ersten Weltkrieg zu einer akuten vorrevolutionären Krise wurde. Die Revolution von 1905/06 hatte der Zarismus deshalb letztlich überstanden, weil es ihm gelungen war, die verschiedenen Rebellionen und Bewegungen voneinander zu trennen, und weil die Armee im Ganzen loyal blieb. Der Weltkrieg offenbarte dann auf mehreren Ebenen die Unfähigkeit des Regimes und die Rückständigkeit des Landes: Inflation, Verschlechterung der Versorgung, Requirierungsfeldzüge des Militärs, millionenhafte Massenflucht aus den frontnahen Gebieten, Pogrome und ethnische Säuberungen, nicht zuletzt katastrophale militärische Niederlagen an der russischen Westfront.

Die bolschewistische Machtübernahme wurde möglich und beinahe unvermeidlich, als weder der bürgerliche ›Progressive Block‹ noch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich fähig zeigten, den zerfallenden russischen Staat aus dem Krieg herauszuführen. Dabei hatte der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat im März 1917 in seinem Manifest ›An die Völker der Welt‹, einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts proklamiert – mit Zustimmung der bolschewistischen Fraktion, die wie die anderen Deputierten damals einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten ablehnte und das allgemeine Kriegsende durch den Druck der Volksmassen auf die imperialistischen Regierungen hier wie dort erzwingen wollte. Die von Seiten der sozialdemokratischen Parteien Skandinaviens sowie der Niederlande angeregte und vom Petersburger Sowjet unterstützte Idee einer internationalen sozialistischen Friedenskonferenz in Stockholm konnte wegen der Verweigerung von Pässen an die vorgesehenen Delegierten der britischen und französischen Parteien in der vorgesehenen Breite nicht realisiert werden.

Das Scheitern der letzten russischen Offensive Anfang Juli 1917, die den westlichen Alliierten die Zuverlässigkeit der neuen Demokratie im Osten hatte demonstrieren sollen, leitete mit dem Zerfall der Armee durch Massendesertionen – auf dem Lande jetzt mehr und mehr eigenmächtige Umverteilung von Gutsbesitzerland durch die Bauern – jene Ereigniskette ein, an deren Ende die Bolschewiki die Mehrheit in den Sowjets und dann die Regierungsmacht eroberten. Gewiss spielten andere Faktoren eine wichtige Rolle: neben dem Machtanspruch einer selbstbewusst gewordenen Arbeiterschaft vor allem die verzögerte Agrarreform und die Ablösungsbestrebungen der nichtrussischen Nationalitäten. Momentan entscheidend war aber wohl das Problem des Friedens. Denn solange der Krieg mit den Mittelmächten andauerte, brachten die nichtbolschewistischen Sozialisten nicht die Energie auf, den Staatsumsturz vom Februar bzw., nach dem gregorianischen Kalender, März 1917 zu einer tiefgreifenden demokratischen Umwälzung weiterzutreiben.

›Ergreife die Macht, du Hurensohn, wenn man sie dir gibt‹, rief ein Soldat dem Vorsitzenden der Sozialrevolutionären Partei, Viktor Tschernow, zu (zit. nach Suchanow), der sich im Sommer 1917 nach Meinung des Soldaten zu viel mit allgemeinen liberalen und demokratischen Prinzipien beschäftigte und darüber die aktuellen Notwendigkeiten revolutionären Handelns vernachlässigte. Die Bolschewiki haben die frisch gewählte Konstituante bei ihrem Zusammentritt gleich wieder auseinandergejagt; die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten es monatelang gar nicht erst gewagt, während des Krieges Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung durchzuführen, obwohl sie auch in den Sowjets bis zum Spätsommer eindeutig das Übergewicht besaßen.

Die Position Lenins (und im Wesentlichen auch Trotzkis), die auf den fortgesetzten Kampf gegen Menschewiki und gemäßigte Sozialrevolutionäre gerichtet war und den bewaffneten Sturz der Provisorischen Regierung beinhaltete – die vermeintlich bürgerlich-demokratische Phase der Revolution sollte in die sozialistische überführt werden –, konnte gegen anfänglich großen Widerstand im Lauf einiger Wochen innerhalb der bolschewistischen Partei durchgesetzt werden, nachdem Lenin im April aus dem Schweizer Exil in Petersburg eingetroffen war. Er stieß dort auf eine (ähnlich wie 1905) breite Strömung in der Arbeiterschaft und in den seit 1912/13 definitiv getrennten Menschewiki und Bolschewiki, die auf eine Wiedervereinigung der Partei gerichtet war; Lenin stellte sich dem sofort mit aller Kraft entgegen. Am Ende stimmten mit Kamenew und Sinowjew immerhin noch zwei hoch angesehene Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees gegen den Aufstandsbeschluss.

Die sich unter Berufung auf Lenin kommunistisch nennenden Strömungen, wie sie sich auch unterscheiden, hatten und haben eine wesentliche Gemeinsamkeit: Ihr zentraler positiver Bezugspunkt sind die Bolschewiki und die Oktoberrevolution. Erst dadurch bekam die bei Marx noch recht unbestimmte, aufgrund der kurzen Existenz der Pariser Kommune gewonnene Erkenntnis, das Proletariat könne den alten Staatsapparat nicht einfach für seine Zwecke benutzen, sondern müsse diesen ›zerschlagen‹, um eine Staats- und Regierungsform neuer Qualität an seine Stelle zu setzen, einen konkreten Inhalt. Als deren Organisationsform boten sich die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte an, wie sie in Russland 1905/06 sowie ab 1917 als Kampforgane, Repräsentation und Teilhaber einer Doppelherrschaft entstanden und dann auch in etlichen anderen der Krieg führenden und neutralen Staaten gebildet wurden.

Bis dahin hatten sich die europäischen Sozialisten den ›Zukunftsstaat‹ des Übergangs zur neuen Gesellschaft in der Regel als eine uneingeschränkt demokratische Republik vorgestellt, in der die politische Macht in der Volksvertretung konzentriert wäre. Nach dem Aufstand gegen den Zarismus im Frühjahr 1917 und dann während und im Gefolge des Oktoberumsturzes konzipierten die Bolschewiki, speziell Lenin, das Projekt einer ›Sowjetdemokratie‹ des werktätigen Volkes, die in ihrem partizipatorischen Gehalt jeder ›bürgerlichen Demokratie‹ überlegen sein sollte. Die Niederhaltung der, zahlenmäßig kleinen, ehemals herrschenden Klassen und ihrer – vermeintlichen – politischen Vertretungen (›Diktatur des Proletariats‹) mochte in der Anfangseuphorie des revolutionären Umbruchs als relativ einfache und ohne viel Blutvergießen zu erledigende Aufgaben erschienen sein, die die demokratische Selbstbestimmung der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten nicht wesentlich beeinträchtigen würde.

Bekanntlich blieb von der Sowjetdemokratie schon während des Bürgerkriegs zugunsten der Diktatur der Avantgarde-Partei, in der allerdings noch offen und kontrovers diskutiert wurde, wenig übrig. Das endgültige Verbot der konkurrierenden sozialistischen Parteien und namentlich das interne Fraktionsverbot der Bolschewiki – gerade angesichts des Übergangs zur Neuen Ökonomischen Politik mit ihrer teilweisen Wiederherstellung der Marktwirtschaft für erforderlich gehalten – erledigte 1921 den Rest. Gewiss kann die Entwicklung nicht einseitig Lenin, Trotzki und ihren engeren Mitstreitern angelastet werden; auch auf Seiten der Menschewiki und der Mehrheit der Sozialrevolutionäre (die linken Sozialrevolutionäre koalierten einige Monate mit den Bolschewiki) war 1917/18 die Bereitschaft gering, zu einer gemeinsamen Regierung der ›revolutionären Demokratie‹ zu kommen. Eine solche hätte Anfang 1918 sowohl in den Sowjets als auch in der Konstituante über eine überwältigende Mehrheit verfügt.

Als die „Weißen“ den bewaffneten Widerstand begannen, kurz nachdem schon ausländische Mächte interveniert hatten, machte sich die Eigendynamik des Bürgerkriegs geltend, der von allen Seiten mit großer Brutalität und Grausamkeit geführt wurde (neun bis zehn Millionen Opfer). Der russische Bürgerkrieg ging über alle Einhegungsversuche hinweg, mit denen die Staaten früherer Jahrzehnte die Zivilbevölkerung schützen und Kriege als ›Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‹ (C. v. Clausewitz) führbar hatten halten wollen. Die schrankenlose Eskalation des Geschehens, die die Schrecken des Ersten Weltkriegs in den Schatten stellte, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass neben den Hauptparteien der Roten und der Weißen (samt ausländischen Interventionstruppen) etliche andere Gruppierungen auf eigene Faust und mit eigenen Zielen in Aktion traten: von Partisanenverbänden nationaler Minderheiten über Kosaken bis zu regelrechten Räuberbanden. Alle am Krieg Beteiligten mussten sich aus dem Land und seinen Ressourcen versorgen; hauptsächlich ging es um bäuerliche Rekruten und um Getreide zur Versorgung der Kämpfenden, was ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt nicht möglich war. Das bedeutete, dass die brachiale Auseinandersetzung ebenso im Hinterland wie an den Fronten stattfand.

Die Bolschewiki siegten hauptsächlich aus drei Gründen:

1) Sie hatten die bessere und vor allem eine einheitliche militärische und politische Führung.

2) Sie hatten den Bauern, der Masse der Bevölkerung, das von diesen bewirtschaftete und eigenmächtig aufgeteilte Gutsbesitzer-Land übereignet – ein Sieg der Weißen barg die akute Gefahr einer Rückkehr der Großgrundbesitzer, an der die Bauern kein Interesse haben konnten.

3) Die Gewährung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die dem Zarenreich einverleibten nichtrussischen Nationalitäten einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit spaltete die potentiell gegenrevolutionären Kräfte; auch dort, wo die Unabhängigkeitsbestrebungen unter bürgerlicher bzw. antibolschewistischer Führung standen, mussten sie unter Umständen die großrussisch gesonnenen Weißen mehr fürchten als die Roten.

4) Die neuen Machthaber boten am ehesten Aussicht auf Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols – Ordnung statt Chaos –, und sie eröffneten überdies Arbeitern und Bauern nie gekannte Aufstiegsmöglichkeiten.

In Erwartung der Fortsetzung des weltrevolutionären Prozesses, der 1917 eingeleitet zu sein schien, hatte die kühne Aktion der Bolschewiki zunächst eine begeisterte Resonanz beim linken Flügel der Arbeiterbewegung aller Länder – und Sympathie darüber hinaus – gefunden. Nach den Schrecken des Völkerkriegs im Interesse der konkurrierenden Imperialismen schien der Einsatz auch massiver Gewalt zum Sturz des kapitalistischen Systems mehr als gerechtfertigt. Mit der Norwegischen Arbeiterpartei, der Mehrheit der USPD und der französischen Sozialisten und anderen gewann die 1919 gegründete Kommunistische Internationale bald westeuropäische Massenparteien von beträchtlichem Gewicht. Doch kamen schon bei der Spaltung mehrerer der großen Parteien über die Frage des Beitritts zur Dritten Internationale spezifische statutarische Methoden zur Geltung (die ›21 Bedingungen‹), mit denen man auf administrativem Weg die weitere Mitgliedschaft ›reformistischer‹ und ›zentristischer‹ Elemente in den neuen kommunistischen Parteien unmöglich machen wollte. Arthur Crispien, einer der führenden USPD-Leute, warf 1920 den russischen Kommunisten vor, anstelle eines breiten internationalen Zusammenschlusses der revolutionären Kräfte des Sozialismus strebe die Moskauer Führung nach ›despotischer Herrschaft einer obersten 'Bonzenschicht' über eine Masse geistiger Eunuchen‹. Auf ihrem Gründungskongress im Vorjahr hatte die Kommunistische Internationale in der jetzt üblichen Diktion verlangt, ›allen Arbeitenden die Augen über das Judaswerk der Sozialchauvinisten zu öffnen und diese gegenrevolutionäre Partei mit bewaffneter Hand unschädlich zu machen‹ (zit. nach Braunthal, 185). Doch noch gefährlicher seien die ›Zentristen‹, wie man sie bei den deutschen und britischen Unabhängigen, den österreichischen französischen und italienischen Sozialisten ortete. Ein beträchtlicher Teil der Mitglieder der kommunistischen Parteien ging, auch aufgrund künstlicher Versuche, der Roten Revolution namentlich in Deutschland doch noch zum Sieg zu verhelfen (Märzaktion 1921), schnell wieder verloren.

Auch im Hinblick auf die Dritte, Kommunistische Internationale, deren Organisationsprinzipien in markantem Gegensatz zu denen der Ersten wie der Zweiten Internationale standen, und die ihr angehörenden Parteien gilt, dass das innere Leben der Organisation in den ersten fünf bis zehn Jahren noch von echten Auseinandersetzungen um die richtige Politik gekennzeichnet war, bevor die Stalin-Fraktion jede Kontroverse unterband und ein striktes Gefolgschaftssystem mit automatischem Nachvollzug der in Moskau, zum Teil in jähen Wendungen, jeweils beschlossenen ›Generallinie‹ durchsetzte. Und doch blieb in allen Phasen die Bindung der kommunistischen Parteien, wenn sie nicht bedeutungslose Sekten werden wollten, an den autochthonen Arbeiterradikalismus ihrer Länder mehr oder weniger intensiv bestehen. Ungeachtet dessen geriet der kommunistische Flügel der internationalen Arbeiterbewegung durch das unvermeidliche (und hemmungslos ausgenutzte) Übergewicht der sowjetrussischen Partei von Anfang an in eine Schieflage. Es geschah das, was Rosa Luxemburg in ihrem Text über die Russische Revolution (der zugleich eine Verteidigungsschrift war) prophezeit (dies. 1968) und was Leo Trotzki schon 1904 in einer luziden Kritik des Leninschen ›Substitutionalismus‹ formuliert hatte (Trotzki 1970). (Trotzki und die Trotzkisten wollten davon später nichts mehr wissen, weil sie aus Legitimationsgründen allein auf die ab Frühjahr 1917 klar dominierende Übereinstimmung der beiden Revolutionsführer abhoben.)

Die Kommunistische Partei unter Führung Lenins und ihre Diktatur war dennoch etwas qualitativ anderes als die persönliche Herrschaft Stalins, unter der personell, strukturell und geistig der ursprüngliche Bolschewismus in einen neuen, irrational-despotischen Aggregatzustand überführt wurde. Wie immer man den sozialen und politischen Charakter des Stalinismus im engeren Sinn definiert, es handelte sich zweifellos um eine der repressivsten Staatsordnungen der Geschichte, terroristisch nicht nur gegenüber jeder Art von tatsächlicher und vermuteter Dissidenz, sondern gegenüber dem gesamten Volk. Die Agrar-Kollektivierungskampagne in den Jahren um 1930 und die ›Großen Säuberungen‹ der späteren 30er Jahre bedeuteten für Russland – nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg – die dritte und vierte humanitäre Katastrophe mit wiederum etlichen Millionen Toten. Es bliebt ein historisches Verdienst Nikita Chruschtschows, den Massenterror beendet, die Einmanndiktatur Stalins durch eine ›Kollektive Führung‹ ersetzt, ein begrenztes Maß an Rechtssicherheit im Alltag geschaffen und vor allem die Millionen Sklavenarbeiter des Gulag, politische Gefangene verschiedener Kategorien, befreit zu haben. Die mittlerweile auch sozial verselbstständigte Herrschaft der Nomenklatura blieb bestehen, konsolidierte sich sogar, doch für die Sowjetbürger und für die Bewohner der anderen Warschauer-Pakt-Staaten bedeutete die begrenzte Entstalinisierung seit 1953/56 eine gewisse Normalisierung des Daseins. Die ›totalitäre Diktatur‹ verwandelte sich gewissermaßen in eine eher ›autoritäre‹.

Mit dem Frühjahr 1917 hatte ein beispielloser Aufschwung der europäischen Arbeiterbewegung eingesetzt, der drei bis vier Jahre anhielt und dann in der Wirtschaftsdepression und dem Wiedererstarken der bürgerlichen Ordnung (in Italien im Aufkommen des Faschismus) sein Ende fand. Der Aufschwung der Jahre 1917-1920/21 erfasste mehr oder weniger alle Länder Europas, die am Krieg beteiligten und die neutralen, und er galt für die revolutionäre und zugleich für die reformistische Richtung. Nicht nur in den Nachfolgestaaten der geschlagenen Mittelmächte, sondern auch in einer ganzen Reihe west- und nordeuropäischer Staaten, in erster Linie in Großbritannien, traten kurz nach Kriegsende demokratisierende Wahlrechtsänderungen in Kraft. Die Gewerkschaften expandierten teilweise explosionsartig und konnten vielfach langjährige Forderungen der Arbeiterbewegung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung und nach erweiterter sozialer Sicherung durchsetzen. Fast durchweg erzielten die etablierten sozialistischen Parteien bei den ersten Nachkriegswahlen, teilweise spektakuläre, Stimmengewinne. Es kam vermehrt zu sozialdemokratischen Regierungsbeteiligungen.

Dramatischer war die revolutionäre Welle, die im Februar 1917 in Russland angestoßen worden war und mit den ergebnislosen Fabrikbesetzungen und Agrarunruhen in Italien im Sommer und Herbst 1920 auszulaufen begann. Allgemein kann festgestellt werden, dass die Bedingungen der Kriegsgesellschaft nach 1914 eine Radikalisierung von großen Teilen der Arbeiterschaft bewirkt hatten. Der soziale Protest, hauptsächlich im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung, und der Antikriegsprotest gingen schon früh Hand in Hand. Damit war aber noch nicht darüber entschieden, in welchen parteipolitischen Formen diese Radikalisierung sich kristallisieren würde. Außer in Russland, wo die Bolschewiki ihre zeitweise beherrschende Position in der Arbeiterschaft ja auch erst nach der Februarrevolution errangen, fiel die Entscheidung darüber nicht während des Krieges, sondern in der Nachkriegszeit. Sie wurde im jeweiligen Fall bestimmt von konkreten gesellschaftlichen Konstellationen, spezifischen Traditionen, dem Eingreifen der neugegründeten Kommunistischen Internationale und dem Geschick der Vertreter der anderen Strömungen in der Arbeiterbewegung. Das ganz unterschiedliche Gewicht kommunistischer Parteien in Deutschland und in Frankreich einerseits, Großbritannien und Österreich andererseits zeigt das auf den ersten Blick.

Gewiss gab es schon vor 1914 einen Trend zur Differenzierung innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung, und es ist durchaus nicht sicher, dass es bei Ausbleiben eines großen Krieges auf Dauer gelungen wäre, die organisatorische Spaltung zu vermeiden. Aber die Unversöhnlichkeit des Schismas, die zu Lasten der Arbeiterbewegung insgesamt ging, war zweifellos eine Folge des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution, genauer: der durch die Auseinandersetzungen des Weltkriegs und durch den russischen Bürgerkrieg vorgeprägten Intervention der Bolschewiki in den Radikalisierungsprozess der europäischen Arbeiterbewegung.

Lenin, Trotzki und die meisten anderen führenden Bolschewiki waren fest davon überzeugt, dass der Sowjetstaat, auf sich allein gestellt, untergehen oder entarten müsse. Die geographische Ausdehnung der Revolution, namentlich in die kapitalistischen Metropolen, war für sie eine Überlebensbedingung Sowjetrusslands als eines sozialistischen Staates. Man jagte einer Vorstellung von „proletarischer Revolution“ nach, die dem russischen Oktober nachgebildet war. Das Modell enthielt unterdessen so viel Besonderes, nicht Verallgemeinerbares, dass die Fixierung darauf die Kette von Niederlagen des von Moskau geleiteten Zweigs der Arbeiterbewegung fast programmierte. Die innere Entwicklung Russlands führte in kurzer Zeit weg nicht nur von den konkreten Artikulationen der einheimischen Arbeiter, sondern auch von den Traditionen und Zielen der klassischen Arbeiterbewegung Europas einschließlich ihres radikalen Elements – womit gemeinsame Wurzeln und Verbindungslinien natürlich nicht geleugnet werden sollen.

Eröffnungsvortrag am 20.01.2017 in einer gemeinsam von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten Tagung zum Thema.

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.