von Herbert Ammon

I.

Jüngeren Zeitgenossen, den Nachgeborenen der deutschen Katastrophe, ist die preußisch-deutsche Geschichtstradition immer weniger gewärtig. Den Namen Moltke assoziieren sie vornehmlich mit dem Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke (1900-1945), mit dem »Kreisauer Kreis« sowie mit der 1996 im schlesischen Krzyżowa/Kreisau eingerichteten deutsch-polnischen Begegnungsstätte.

Welche Erinnerung, welche Empfindungen weckt hingegen das Standbild des Generalfeldmarschalls Moltke, neben Bismarck und Roon am Großen Stern mit der Siegessäule am Berliner Tiergarten? (Das Ensemble der Reichsgründung stand einst auf dem Königsplatz vor dem Reichstag. Es verdankt seinen heutigen Standort Hitlers Architekten Albert Speer.) Was fällt Jüngeren bei den mit den einst jedem geläufigen Namen Königgrätz, Sedan, Marne ein? Der Name Moltke?

Jochen Thies, geboren 1944 in Rauschen/Ostpreußen, promovierter Historiker und renommierter Redakteur, legt eine »deutsche Familiengeschichte« über die Moltkes vor. In Einzelbiographien spannt er den Bogen vom Sedan-Sieger (der »ältere Moltke«; 1800–1891) über dessen in der Marne-Schlacht im September 1914 gescheiterten Neffen (der »jüngere Moltke«; 1848–1916) und über den »Kreisauer« Helmuth James (1907–1945) bis zu den in Wirtschaft und Diplomatie tätigen Moltkes der Gegenwart. Eingefügt sind Porträts von Helmuth James´ südafrikanischer Mutter Dorothy, Tochter von Sir James Rose Innes, sowie von Helmuth James´ Gattin Freya. Im mecklenburgischen Parchim, dem Geburtsort des siegreichen Generalfeldmarschalls, versammelten sich zu dessen 200. Geburtstag anno 2000 etwa 160 Träger des Namens Moltke - ein Detail aus dem Schlusskapitel des Buches über die »Moltkes nach 1945«.

Wenn »Kreisau«, Chiffre für vergeblichen Widerstand gegen das Verbrechen, auch in Thies´ Familienbiographie als zentraler Bezugspunkt hervortritt, so geht es dem Autor nach eigenem Bekunden darum, den Blick der Deutschen in gemäßigtem Stolz wieder zu öffnen für »die glückhaften Momente ihrer Geschichte« (Thies, 342). Angesichts des fortschreitenden Identitätsverlusts der Deutschen – die als positives Moment zitierte fahnengesättigte Fußballbegeisterung (18) könnte zum Beleg des Gegenteils dienen – sind Zweifel angebracht. Wie steht es bei den Deutschen, nicht zuletzt bei ihrer classe politica, mit dem Sinn für »deutsche Tragödien«, wie sie sich, so Thies (342), in den Personen »Helmuth des Älteren«, des Siegers von Königgrätz, und des »Kreisauers« Helmuth James widerspiegeln?

II.

Der Stammsitz der aus altem mecklenburgischen Adelsgeschlecht gebürtigen Moltkes lag in Toitenwinkel bei Rostock. Vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg verzweigte sich die Familie in Mecklenburg, Dänemark und Schweden. Moltkes dienten als Offiziere und Beamte in Preußen und Russland. In den schlesischen Kriegen brachte es ein Ludwig Philipp von Moltke zum Generalfeldmarschall – unter den Fahnen Österreichs. Dessen Vetter, wegen einer Schlägerei als Page am württembergischen Hofe nach Wien geflüchtet, kehrte aus Gründen protestantischer Glaubensfestigkeit auf sein mecklenburgisches Gut zurück und heiratete die aus einer Hugenottenfamilie stammende Sophie Charlotte d´Olivet. Der Enkel der beiden war der preußische Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke, der Stratege der Bismarckschen kleindeutschen Reichseinigung. Ein Jahr nach Königgrätz (1866) kaufte er von der für den Sieg gewährten königlichen Dotation von 200 000 Talern drei Rittergüter am Rande des schlesischen Eulengebirges. Eines davon war Kreisau (bis 1930 Creisau) in der Nähe von Schweidnitz.

Als Kindheitserinnerung trug der »ältere Moltke« Bilder von der Eroberung Lübecks (1806) durch die Truppen Napoleons mit sich. Die Franzosen plünderten das Wohnhaus der Familie, wenige Wochen später, beim Abzug aus Norddeutschland, brannten sie ihr Gutshaus im mecklenburgischen Augustenhof nieder. 1811 wurde der Elfjährige zusammen mit einem älteren Bruder in die Kadettenanstalt von Kopenhagen geschickt, wo er - unter ›preußisch‹ anmutenden Bedingungen – seine Offiziersausbildung erhielt. Seelische Entlastung fand er auf dem Landsitz eines gastfreien Generals, wo er er auf Kirchenführer, Politiker und Schriftsteller traf. Der Theologe Jacob Peter Mynster, der christliche Offenbarung und klassischen Humanismus zu verbinden suchte, wirkte prägend für die tiefe Religiosität Moltkes, im patriotischen Bildungskanon dereinst bekannt als der ›große Schweiger‹.

1822 wechselte Moltke in preußische Dienste. Dank seiner Leistungen als Lehrer an der Divisionsschule in Frankfurt/Oder, dank Disziplin, Fleiß und topographischer Begabung, avancierte er 1833 als Premierleutnant in den Großen Generalstab. Eher durch den Zufall eines Reiseaufenthalts 1834 in Konstantinopel gelangte der junge Generalstäbler zu seiner Rolle als Militärberater des Sultans Mahmud II., der acht Jahre zuvor die reformfeindlichen, aufständischen Janitscharen hatte massakrieren lassen. Nach seiner Rückkehr 1839 eröffneten sich dank der orientalischen Erfahrungen sowie seiner Publikationen – darunter eine Geschichte des Russisch-Türkischen Krieges von 1828 – neue Chancen. In seiner Studie über die Die westliche Grenzfrage schlussfolgerte er, dass Elsaß-Lothringen annektiert werden müsse. Die bis dahin unspektakuläre Karriere gipfelte 1857 in der Ernennung zum Generalstabschef.

Wie kam ein Mann, ausgebildet in dänischen Diensten zum Offizier und Pagen bei Hofe, verheiratet mit der gebürtigen Engländerin Mary Burt, zu seinem ausgeprägtem Nationalgefühl? Die Erfahrungen mit der napoleonischen Besatzung mögen ein Moment gewesen sein, ein anderes die erstmals im Revolutionsjahr 1848 von dänischer Seite zugespitzte Problematik um Schleswig-Holstein – ein Thema, das im Hinblick auf den deutsch-dänischen Krieg und den von Moltke befehligten Sturm auf die Düppeler Schanzen (1864) – bei Thies zu kurz kommt.

Historisch irreführend ist der Satz, Bismarck habe in der 1864 erneut aufgebrochenen »Krise um Dänemark die Chance [erkannt], seine Langzeitstrategie umzusetzen und nicht nur Holstein der Bundesexekution zu unterziehen, sondern auch Österreich, welches damit im Sinne der ›kleindeutschen Lösung‹ aus dem Deutschen Bund hinausgedrängt werden sollte.« (72) Es war umgekehrt: Österreich beantragte 1866 gegen Preußen die Bundesexekution und brachte nach dessen Kriegserklärung die Mehrheit der deutschen Staaten hinter sich.

Noch 1859, bei Ausbruch des Krieges zwischen Österreich, Piemont-Sardinien und Frankreich, forderte Moltke die preußische Beteiligung am österreichischen Krieg gegen Frankreich, »nicht zur Abwehr einer unmittelbar zwingenden Bedrohung, sondern zur Vorbeugung künftiger Gefahren im Interesse Deutschlands, nicht für, aber mit Österreich.« (Zit. 70). Den Sieg bei Königgrätz erfocht Moltke im »deutschen Bruderkrieg« 1866 mit zwiespältigen Empfindungen. Mit Bismarck war er sich über einen schnellen Friedensschluss mit dem besiegten Österreich einig.

Wenn es im Hinblick auf die Franctireurs (›Freischärler‹) im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 heißt, der Sedan-Sieger Moltke habe auf »die zweite Phase des Krieges mit der französischen ›levée en masse‹ , der Massenaushebung, einem Vorspiel zum asymmetrischen Kriege der Gegenwart«, keine militärische Antwort gehabt (83), liegt ein faux pas vor. Um der Aktualisierung willen werden Begriffe durcheinander geworfen. Die Levée en masse war das 1793 erstmals proklamierte republikanisch-demokratische Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht oder – noch drastischer ausgedrückt – das Vorspiel zur ›totalen Mobilmachung‹.

War der ältere Moltke eine tragische Figur? Zur Tragik gehört die Erfahrung des Scheiterns. Inwieweit der militärische Ruhm, die Siege von Königgrätz und Sedan, sodann die Konflikte mit Bismarck dem Begriff des Tragischen gerecht werden, steht dahin. Die Friktionen mit Bismarck, beginnend mit der von Moltke geforderten Annexion Elsaß-Lothringens bis zur wiederholt vorgetragenen Forderung eines vernichtenden Präventivschlags gegen Frankreich, werden von Thies deutlich herausgearbeitet. Gegenüber dem Militär Moltke erscheint Bismarck als der gemäßigte Staatsmann, dessen Werk seine Nachfolger im Zeichen der ›Weltpolitik‹ aufs Spiel setzten. Was der Reichsgründer mit dem Generalfeldmarschall teilte, war der cauchemar des coalitions.

Ein halbes Jahr nach seiner von Wilhelm II. gewährten Demission (10.August 1888) schrieb er an den englischen Autor eines Deutschlandbuches: »Zum Reich erst eben geeinigt, ist Deutschland ein Emporkömmling, ein Eindringling in die europäische Staatenfamilie.« (Zit. 101) Die ultima ratio für die Lösung eines derartigen politischen Dilemmas lag für Moltke im Krieg. »Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.« (Zit. 99).

Für Thies bleibt Moltke »einer der großen Deutschen. Er darf als Inkarnation des an sittliche Maßstäbe gebundenen und vielseitig begabten Soldaten angesehen werden. […] Von seiner Idee von militärischer Führung führt eine direkte Verbindungslinie zur Bundeswehr mit ihrer ›Inneren Führung‹ und dem Soldaten mit Verantwortung und eigener Initiative. Einer Diktatur hätte Moltke nie gedient.« (107) Eine 1994 von der Bundeswehr in Dabel bei Schwerin eröffnete Moltke-Kaserne wurde inzwischen wieder geschlossen. Thies schreibt ein paar Seiten zuvor: »Mit dem Kriegsende 1945 ging auch die Erinnerungskultur um Moltke zu Bruch.« (106).

III.

Der Neffe des Sedan-Siegers, Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (der »jüngere Moltke«) absolvierte nach Teilnahme am deutsch-französischen Krieg eine Blitzkarriere. Die Ernennung zum Chef des Großen Generalstabs 1906 – als Nachfolger Alfred von Schlieffens (1833-1913) – verdankte er der Gunst des Kaisers Wilhelm II., dem er als Flügeladjutant bei Hofe sowie in diplomatischer Mission zum Zaren in Sankt Petersburg gedient hatte. Der Kaiser titulierte ihn in freundlicher Herablassung mit »Julius«. Seine Militärkollegen hielten den künstlerisch begabten, von Selbstzweifeln beseelten Neffen des großen Generalfeldmarschalls für ungeeignet. Der Chef des Militärkabinetts Dietrich von Hülsen-Haeseler bezeichnete ihn als religiösen Phantasten, der an Engel und Heilung durch Handauflegen glaube. (140).

Wie schon der Sieger der Bismarckschen Einigungskriege, stand der jüngere Moltke in der friderizianischen Militärtradition des Präventivkrieges. Als Chef des Generalstabs revidierte er den Schlieffen-Plan, der den für unvermeidlich erachteten Zweifrontenkrieg durch einen raschen Sieg über Frankreich zum Erfolg führen sollte. Moltke minderte die militärische Stärke des für die Zangenbewegung vorgesehenen rechten Flügels zugunsten des linken Flügels von 7:1 auf 3:1. An dieser mutmaßlichen Fehlentscheidung sowie gravierenden Führungsfehlern während der Marneschlacht entzündeten sich nach dem verlorenen Weltkrieg – nicht nur im ›nationalen Lager‹ - die patriotisch erbitterten Debatten über verspielte Siegeschancen.

Thies´ Urteil über den jüngeren Moltke ist nicht eindeutig. »Während der Jahre 1912 bis 1914 gehörte Moltke in Berlin zu denen, die sagten, man müsse den Krieg riskieren. Er überschritt dabei seine Kompetenzen, ohne dass dies entscheidende Folgen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehabt hätte.« (146). Das klingt nicht sehr überzeugend. Der kränkliche Moltke sei erst am 27. Juli 1914 von einer vierwöchigen Badekur zurückgekehrt und »kein Entscheider« gewesen, so dass man ihn »keinesfalls als einen der Hauptverantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ansehen« könne. Andererseits hat er nach Thies »weiterhin zu denen [gehört], die einen großen Krieg befürworteten.« (149). Wenige Seiten zuvor (142) wird erwähnt, anno 1909 hätten sich Moltke und der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf darüber verständigt, dass im Falle eines Balkankrieges Österreich auf die Unterstützung seines Bündnispartners rechnen dürfe.

Der ›Blankoscheck‹ hat somit eine längere Vorgeschichte. Conrad von Hötzendorf, der im Juli 1914 auf Krieg drängte, obgleich die Risiken angesichts der durch Staatsbesuch bekräftigten französisch-russischen Allianz absehbar waren, konnte auf Moltke zählen. Wie stand es mit dem brieflichen, telegraphischen, telephonischen Verkehr zwischen den beiden Generalstabschefs in den vier Wochen nach dem 28. Juni 1914?

Eine auch von Thies nur kurz erwähnte Szene aus dem Sommer 1913 bietet einen eindrucksvollen Beleg für das im August 1914 in die europäische Katastrophe mündende Zusammenspiel. Sie ist in den Memoiren von Sir James Rose Innes, des südafrikanischen Großvaters des »Kreisauers« Helmuth James festgehalten. Rose Innes (1855–1942), schottischer Abkunft, Abgeordneter der Kap-Provinz und ob seiner versöhnlichen Rolle auch bei den Buren hoch angesehener Chief Justice der Südafrikanischen Union, Gegner und Weggenosse des Empire-builders Cecil Rhodes, besuchte seine Tochter Dorothy auf Kreisau im Sommer 1913. Beeindruckt »von der Begeisterung, die in den nationalen Adern pulsierte«, nahm er zur Jahrhundertfeier von 1813 in Breslau an der Militärparade teil. (Zit. in: Köhler, 78f.)

Während des Kaisermanövers wollte es der Zufall, dass er, des Deutschen nur in bescheidenem Maße mächtig, unbekannte Offiziere durch das Schloss des Siegers von Sedan führte. An der Spitze: der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorff, der in fließendem Englisch replizierte. Die preußischen Offiziere um den jüngeren Moltke (Helmuth James´ Onkel), redeten selbstbewusst über den Ernstfall, den Schlieffen-Plan.

In der posthum 1949 in Kapstadt veröffentlichten Autobiographie schrieb Rose Innes: »1913 war die Hegemonie über Europa für den deutschen Kaiser in Griffweite. Ein weiteres Jahrzehnt geordneten und friedlichen Fortschritts würde sie gesichert haben.« (Zit. ibid., 76).

Ein Jahr später, am 14. September 1914, nach Abbruch der Marneschlacht (9.9.), wurde der Generalstabschef Moltke faktisch abgelöst. Der Kaiser, mit dem er am 1. August, als Wilhelm II. die Kriegsmaschine im Westen noch einmal anhalten wollte, bitter zusammengestoßen war, und dem er am 9. September gesagt haben soll, dass der Krieg verloren sei, befahl ihm, sich für zwei Wochen krankzumelden. Nachfolger wurde der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Schon früh von den Talenten Ludendorffs beeindruckt, empfahl Moltke diesen in einem Brief (Januar 1915) an den Kaiser als Nachfolger. Zusammen mit Ludendorff betrieb er 1915/16 die Ablösung Falkenhayns (die am 19. 8.1916 erfolgte).

Am 18. Juni 1916 hielt Moltke im Berliner Reichstag eine der Gedenkreden für den in Badgad als oberster Verbindungsmann zur türkischen Armee an einer Typhusinfektion verstorbenen Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz. »Meine Herrschaften! Es wiederholt sich in der Geschichte öfter, daß Heldentum und Tragik nebeneinander stehen.« Auf seinen Platz zurückgekehrt, erlitt er einen Schlaganfall und starb noch im Reichstag. Am 20. Juni hielt Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, eine Rede, »in der er sagte, dass Moltke aus einer ganz anderen Welt kommend eine Brücke zur Geisteswissenschaft gefunden habe.« (Thies, 160).

Zum Stoff der Tragödie gehört die bittere Ironie. Thies belässt es bei ironiefreien Bemerkungen über die enge Geistesfreundschaft des jüngeren Moltke – einer der Taufpaten von Helmuth James (168) – mit Steiner. Geweckt hatte die esoterischen Neigungen des jüngeren Moltke seine dem schwedischen Zweig der Familie entstammende Gattin Eliza Gräfin von Moltke-Hvitfeld. Deren spiritistische Vorlieben mündeten ab 1904 in enge Verbundenheit mit Rudolf Steiner, abgefallener Adept der Theosophin Helena Blavatsky. Verehrter Gast im Hause Moltke, führte Steiner im Hauptquartier zu Koblenz noch vor der Marneschlacht 1914 mit dem Generalstabschef Gespräche.

1919 gab Steiner in Kooperation mit der Gattin Moltkes dessen nach der Entlassung verfasste Rechtfertigungsschrift unter dem Titel Die »Schuld« am Kriege – Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabschefs H. v. Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914 (Stuttgart 1919) heraus. Laut einer aus anthroposophischer Feder stammenden Kurzbiographie wurde das Werk nach Erscheinen eingestampft (Kacer-Bock). Bei Thies erfahren wir näheres: Die Rechtfertigungsschrift sei geeignet gewesen, den Kaiser doch noch vor ein Entente-Gericht zu bringen. Die Witwe Moltkes ließ sich von Ex-General Wilhelm von Dommes, dem Adjutanten ihres Mannes, überzeugen, die Publikation zurückzuziehen.

In den 1920er Jahren wurde die Figur des Verlierers der Marneschlacht zum Zankapfel in ›nationalen‹ Kreisen. Ludendorff, dessen eigenes strategisches Versagen und politisches Finassieren anno 1918 seinen Niederschlag in der ›Dolchstoßlegende‹, nicht zuletzt in den religiösen Phantasien seiner Gattin Mathilde von Kemnitz (geb. Spieß) fand, attackierte den jüngeren Moltke (als den ›großen Zauderer‹) in einem erst 1934 erschienenen Buch unter anderem wegen seiner Verbindung zu Steiner.

1945, bei der Eroberung Berlins durch die Russen, verbrannte der älteste Sohn Moltkes die Papiere des Vaters, einschließlich der Tagebücher. Der Biograph Thies, der die Restbestände der Moltke-Papiere im Freiburger Militärarchiv einsah, bezweifelt, ob im Falle des Erhalts der Materialien ein anderes Bild als das eines Gescheiterten hätte entstehen können. (161)

IV.

Im Sommer 1940 besuchte Helmuth James von Moltke von Paris aus zusammen mit Major Otto Carl Kiep, Widerständler in der Ausland/Abwehr des OKW (bei Thies nur »Verbindungsoffizier zum OKW«), dem Unterstaatssekretär Ernst Woermann sowie mit dem Major Karl-Wilhelm von Schlieffen den Ort an der Marne, wo am 9. September 1914 Major Oberstleutnant Richard Hentsch den Moltke-Befehl zum Rückzug ausführte. (Thies, 248)

Anfang 1944 warnte Moltke den Mitverschwörer Kiep, der sich dem Widerstandskreis um die Industriellen-Gattin Hanna Solf angeschlossen hatte, vor einem Gestapo-Spitzel in diesem Zirkel. Die Warnung wurde beiden zum Verhängnis. Kiep wurde am 16. Januar 1944 verhaftet und am 26. August erhängt. Moltkes Verhaftung erfolgte am 19. Januar 1944. Ein Jahr später stand er vor Freisler, am 23. Januar 1945 wurde er hingerichtet.

Für sein Porträt des »Kreisauers« Helmuth James konnte sich Thies auf Archivmaterial sowie auf die Biographien von Günter Brakelmann und Jochen Köhler stützen. Er schildert die Kindheit auf Kreisau, die Prägung des jungen Helmuth James durch die liberale, in der Frauenbewegung engagierte Mutter Dorothy, einer Anhängerin der Christian Science, ein von Mary Baker-Eddy (1821-1910) entwickeltes protestantisches Kulturgewächs aus Neuengland. Es folgte die Schulkarriere am Gymnasium in Schweidnitz, im reformerischen Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee mit brutalen Erfahrungen (»Klassenkeile«), am Realgymnasium in Potsdam, sodann die Begegnung des Jurastudenten Moltke mit der österreichisch-jüdischen Mäzenin Eugenie Schwarzwald. Dass Moltke zuerst für eine adlige Filmschönheit schwärmte, eher er in der Schwarzwald-Villa am Grundlsee Freya Deichmann (aus der Kölner protestantischen Bankiersfamilie Deichmann) kennenlernte, zählt zu den heiteren Episoden der Studienzeit.

Zum comic relief gehört die materiell verlustreiche Hingabe des in Wirtschafts- und Ehefragen unzuverlässigen Vaters Helmuth an die ›Christliche Wissenschaft‹. Dass Helmuth James in den zwanziger Jahren mit seinem Vater des Nachts nach anthroposophischer Erkenntnis das Feld bestellen musste, bis den Gutsherrn selbst gewisse Zweifel am Nutzen der Methode überkamen, ist in der literarisch angelegten Moltke-Biographie Jochen Köhlers zu erfahren. (Das Buch blieb aufgrund des Todes des Verfassers unvollendetes Fragment.) Thies erwähnt die publizistischen Versuche des jungen Moltke, seine Bekanntschaft mit der für den Bostoner Christian Science Monitor schreibenden Dorothy Thompson und deren kurzzeitigen Ehemann, den Nobelpreisträger Sinclair Lewis (Babbit, 1922), ohne dessen alkoholgesättigte Extravaganzen und Ehekräche zu erwähnen.

Wie stand es nach seinen Berliner Berührungen mit dem liberalen und linken Milieu – von der über das Haus Schwarzwald vermittelten Bekanntschaft mit Helene Weigel bis zur Teilnahme an Empfängen der Sowjetbotschaft in Berlin – mit den christlichen Glaubensbindungen Moltkes? Dessen in den Widerstandsjahren deutlich hervortretenden Religiosität rückt Thies in die Familientradition: »In gewisser Weise lässt sich diese Neigung zum Spirituellen in der Moltke-Familie bis zu Helmut James Graf von Moltke verfolgen.« (118). Tatsächlich wahrte Moltke Distanz zur sektiererischen Christian Science seiner Eltern. In Kreisau und in Berlin hielt er sich an die evangelische Kirche.

In einem von Thies unerwähnten Aufsatz, in dem manche ›Kreisauer‹ Vorstellungen vorweggenommen scheinen, entwickelte der 20jährige Moltke die Vision einer auf überschaubarer Gemeinschaft errichteten europäischen Friedensordnung – mit Deutschland, insbesondere mit seinem ›deutschen Osten‹, frei von Agrarkrise und verschuldetem Großgrundbesitz, als natürlichem Schwerpunkt eines friedlich geeinten Europa. Der Aufsatz entstand kurze Zeit nach den »Schlesischen Arbeitslagern«, die Helmuth James 1927/28 zusammen mit späteren »Kreisauern«, darunter Adolf Reichwein, Referent des preußischen Kulturministers Carl-Heinrich von Becker, Carl-Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel sowie andere jugendbewegte Studenten des Breslauer Rechtshistorikers und Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy initiiert hatte. Die »Arbeitslager« in Löwenberg waren unter dem Eindruck des in der Bergbauregion Waldenburg herrschenden industriellen und bäuerlichen Massenelends entstanden. Ein paar Jahre später trieb die Weltwirtschaftskrise in Kreisau der NSDAP die Wähler zu. Im April 1933 erwiderte Moltke den Hitler-Gruß Kreisauer Kinder mit »Heil Hindenburg«.

V.

Bei Thies erfährt der Leser eine Menge über die Reisen der jungen Eheleute Helmuth James und Freya – unter anderem über einen längeren Aufenthalt (»Auszeit«) 1933-34 bei dem Großvater Rose Innes in Kapstadt sowie auf dessen Landsitz. Der für das Schicksal Moltkes entscheidende Hintergrund – der Aufstieg und die ›Machtergreifung‹ des Nationalsozialismus – kommt dabei zu knapp, so dass es dem zentralen Kapitel über Helmuth James streckenweise an Perspektive und Tiefenschärfe fehlt.

Im Frühjahr 1919 unternahmen Dorothys Eltern eine Reise nach Europa, um nach den Kriegsjahren ihre Tochter und deren Familie wiederzusehen. Die Begegnung fand in Holland statt, die Einreise und der Besuch auf war ihnen in der Waffenstillstandsphase verwehrt. Als Rose Innes, ein Vertrauter des südafrikanischen Staatschefs General Jan Smuts, Mitglied des britischen Kriegskabinetts und Teilnehmer der Versailler Verhandlungen, die Details der Versailler Friedensbedingungen erfuhr, reagierte er mit Entsetzen. Thies schreibt von der Reise, nicht von der Reaktion des weltpolitisch erfahrenen Rose Innes.

Es fehlt die Episode, in der sich nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch (März 1920) General Graf von Lüttwitz, aus dem katholischen oberschlesischen Adel entstammender Schwiegersohn des republikloyalen (und späteren Hitler-Antipoden) Kurt von Hammerstein, bei Moltkes jungen Onkeln, den Freikorpskämpfern Carl-Viggo von Moltke und Hans Carl von Hülsen in deren Studentenwohnung in Breslau versteckten. (Köhler, 127, 129).

Zur Vorgeschichte des Unheils gehören die polnischen Insurgenten, der Annaberg-Mythos und die Teilung Oberschlesiens (1921). Dass das Gut Kreisau als Ausgangsbasis eines Freikorps diente, ist Moltkes in den ersten Tagen nach seiner Verhaftung verfasstem Lebensbericht an seine beiden Söhne zu entnehmen. Bei Thies heißt es (181), ein Freikorps unter von der Goltz habe sich »eingenistet«. In dem Lebensbericht (»Wie alles war, als ich klein war«, in: Brakelmann, 365-390) liest es sich anders. Es handelte sich um eine Einquartierung des aus dem finnischen Bürgerkrieg und den Kämpfen im Baltikum zurückgekehrten General Rüdiger von der Goltz. (Im Register erscheint er irrtümlich unter dem Namen des erwähnten Colmar von der Goltz [1843-1916], des 1916 in Bagdad verstorbenen preußischen Liaison-Offiziers [„von der Goltz-Pascha“].) Das ganze Haus sei »voll netter Soldaten [gewesen], unter denen ich den Grafen Luckner am liebsten hatte«. (Zit. ibid., 379). Immerhin ist zu erfahren, dass die Moltke-Mutter Dorothy sich über die einquartierten Franzosen sowie über die manipulative, propolnische Parteinahme der französischen Militärkommission in Oberschlesien entrüstete.

Wir erfahren kein Wort über das Treiben des beim sogenannten ›Röhm-Putsch‹ ermordeten SA-Führers Edmund Heines in Schlesien. Warum arrangierten sich drei der Moltke-Geschwister laut Mutter Dorothy mit dem Regime? Einer von ihnen, Joachim Wolfgang, trat Ende 1933 der SA bei. (193) Dass sich Dorothy, Wählerin der DDP und der aus ihr hervorgegangenen Deutschen Staatspartei, nach Lektüre von Mein Kampf über den in München 1923 als Putschisten gescheiterten Hitler keine Illusionen machte, schützte sie nicht davor, ihn für ein paar Monate 1933/34 als relativ gemäßigt wahrzunehmen. (194, 196)

Das Gespür für Widersprüche ist des Autors Sache nicht. Orientiert an den Thesen von Andreas Hillgruber, geht Thies von Hitlers Weltherrschaftsplänen aus. Entgegen der geläufigen Vorstellung von dem zwischen 1930 bis 1933 gemäßigt auftretenden Hitler seien dessen Absichten allenthalben erkennbar gewesen. Als Beleg dient eine darwinistisch eingefärbte Rede zur Selbstbehauptung eines Volkes vor Erlanger Studenten und – lobenswerte Ausnahme – die entsetzte Reaktion eines anwesenden Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte. (217)

Aus dem Lebensporträt von Freya ist zu entnehmen, dass Helmuth James »einmal aus Protest seine Stimme der KPD geben wollte« (292), worauf ihn sein neuer Inspektor - NS-Sympathisant, ab 1933 NSDAP-Mitglied, aber stets loyal – riet, die Stimme aus Gründen der Unauffälligkeit doch lieber in Berlin abzugeben.

VI.

Aus Südafrika über London Anfang November 1934 zurückgekehrt, erlebte Moltke die Verhältnisse in Deutschland als immer unerträglicher. Im Oktober 1938 legte er in London ein Examen als Barrister of Law ab. Im Juni reiste er mit Freya erneut nach London, um »mit dem Aufbau einer Doppelexistenz zu beginnen. […] Die Möbel waren bereits bestellt.« (Thies, 236). Wie er in einem Brief an seinen Freund Lionel Curtis vom Februar 1939 schrieb, lag er »im Widerstreit mit mit selbst«. (Zit. in: Brakelmann, 103.) Unklar ist, ob er »sich schließlich für den bewussten Widerstand im Land der Verbrechen selbst« entschied (so Brakelmann, 101), oder ob er im Sommer 1939, ausgestattet mit einem zweijährigen Stipendium an der London School of Economics, die rechtzeitige Übersiedlung versäumte. Moltke, christlicher Nazigegner, blieb in Deutschland. Am 6. September 1939 erhielt er eine Dienstverpflichtung in der neu eingerichteten »Beratungsstelle für Völkerrecht« im Amt Ausland/Abwehr des OKW, geleitet von Admiral Wilhelm Canaris.

Unerwähnt bleiben bei Thies zwei von Brakelmann zitierte Briefstellen, die nicht ganz ins Bild eines stets klarsichtigen Widerständlers passen. Einerseits hielt Moltke einen Kriegsausbruch nur für denkbar, wenn – im Blick auf den am 23. August 1939 verkündeten Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt (›Hitler-Stalin-Pakt‹) - ein gemeinsamer Angriff und die Teilung Polens beschlossen worden sei. Andererseits schrieb er im September 1939 an Freya, er wisse so genau, wie man dies nur wissen könne, »wir sind ganz einfach in diesen Krieg gestolpert«. (Zit. in: Brakelmann, 110). Vor dem 22. Juni 1941 glaubte Moltke, ganz anders als die Mitverschwörer, dass der geplante Angriff auf die Sowjetunion eine Klärung der Lage zum Positiven bringen werde – und dies nicht etwa im Hinblick auf das von nüchternen Geistern erwartete Scheitern Hitlers vor Moskau. (Ibid., 156)

Die zitierte, ›revisionistisch‹ anmutende Information über den Kriegsausbruch stammte aus Moltkes vielfältigen Kontakten zu Militärs und Diplomaten, darunter Helmuth James´ Onkel Hans-Adolf von Moltke, der, auf Spannungsminderung bedacht, am 9. August 1939 als langjähriger Botschafter in Warschau abgelöst wurde. Zu Onkel Hans-Adolf stand Helmuth James in einer zwischen Ablehnung – wegen dessen vermeintlichen Mitläufertums – und Einvernehmen schwankenden Beziehung. Nach Kriegsbeginn leitete Hans-Adolf von Moltke im AA die Edition von Akten, darunter erbeutete polnische Dokumente, welche als Dokumentation der Vorgeschichte des Krieges der Legitimation der deutschen Rolle dienen sollte. Anfang 1943 wurde er reaktiviert und fungierte für wenige Wochen als Botschafter in Madrid, wo er er an den Folgen einer Blinddarmoperation starb. Nach Thies habe er sich in der kurzen Zeit »einen legendären Ruf erworben«. An dem Trauerzug nahmen 100 000 Menschen teil, »eine politische Demonstration in Zeiten der Waffenbrüderschaft in Russland, wo Francos ›Blaue Division‹ kämpfte.« (Thies, 239) Die historische Doppelbödigkeit – handelte es sich um einen angeordneten Staatsakt oder um eine Sympathiebekundung für Hitler-Deutschland? – tritt in solchen Worten nicht hervor. Spürbar wird sie bei dem von Hitler angeordneten Staatsbegräbnis in Breslau, an dem Helmuth James und Peter Yorck von Wartenburg zugegen waren.

Was die internen Beziehungen der im »Amt Canaris« am Tirpitzufer versammelten Verschwörer betrifft, bringt Thies, Autor eines Buches über die Familie Dohnanyi, die Problematik des Widerstands erhellende Informationen. Hans von Dohnanyi, zuvor Referent des unter Hitler weiter amtierenden deutsch-nationalen Justizministers Franz Gürtner (in dessen Auftrag er Akten über NS-Rechtsbrüche angelegt hatte), hielt die Diskussionen der »Kreisauer«, die meist im Haus von Peter Yorck von Wartenburg in der Hortensienstr. 50 in Berlin-Lichterfelde stattfanden, für zu theoretisch und zu wenig zielgerichtet. Gegen Jahresende 1941 »stellten [sie] ihre Zusammenarbeit praktisch ein« (Thies, 254).

Ähnlich distanziert war Moltkes Verhältnis zu Dohnanyis Schwager Dietrich Bonhoeffer, mit dem er im Frühjahr 1942 eine Reise nach Norwegen unternahm. Während Moltke sich einerseits über das wiederholte Zögern der Militärs erregte, andererseits teils aus ethischen, teils aus politischen Überlegungen (hinsichtlich einer zweiten ›Dolchstoßlegende‹) das Attentat auf Hitler lange ablehnte, hielt der Theologe Bonhoeffer den Tyrannenmord für gerechtfertigt. Nach einer Begegnung (31.12.1943) mit Claus Stauffenberg (von dem kritische Bemerkungen über Moltke und das bloße ›Teetrinken‹ bekannt sind) äußerte er sich indes positiv, anders als über dessen ihm aus seiner Dienststelle bekannten Bruder Berthold.

Mit Peter Graf Yorck von Wartenburg, Spross der nicht minder berühmten, in Alt-Öls bei Breslau ansässigen Adelsfamilie, verstand sich Moltke »doch sehr gut […], wenn ich auch ein ganzes Stück weiter links stehe als er. - Und mit Haushofer war ich auch einiger als je zuvor.« (Zit. in Brakelmann, 199). Die Hinweise auf die Kontakte Moltkes zu dem Geopolitiker Albrecht Haushofer, dem am 23. April 1945 von der SS ermordeten Sohn Karl Haushofers – laut Brakelmann rissen sie dann im Laufe des Jahres 1941 wieder ab -, werfen ein Licht nicht nur auf die personellen Verflechtungen und Diskrepanzen widerständlerischer Kreise, sondern auf die geistige Situation der Zeit. Ob im Blick auf geopolitische Großräume oder aufgrund seiner gleichsam angeborenen Anglophilie gelangte Moltke zu einer äußerst realitätsfernen Spekulation über eine mögliche Wiedervereinigung der angelsächsischen Mächte USA und England in einem weltumspannenden, den Weltfrieden sichernden Empire.

In einem langen Brief (25. März 1943) aus Stockholm, der seinen englischen Vertrauten Lionel Curtis nie erreichte, schrieb Moltke über die Verheimlichungstaktiken des NS-Regimes, die meisten wüssten nichts von den Massenmorden. »Wir haben vom Bau eines großen Konzentrationslagers in Oberschlesien gehört, welches für 40-50000 Personen angelegt ist, von denen monatlich 3-4000 getötet werden sollen. Aber ich selbst bekomme alle diese Informationen nur in recht vager, undeutlicher und ungenauer Form, obwohl ich mich ja bemühe, so etwas herauszufinden.« (Zit in: Brakelmann, 245) Die Information, so Thies (285, 297), stammte von seinem Schwager Hans Deichmann, der mehrfach in führender Funktion bei IG Farben nach Auschwitz kam, wo der Chemiekonzern die riesigen Industrieanlagen im Bereich des KZ Auschwitz-Monowitz errichtete.

Ihren Höhepunkt findet die Tragik der »verlassenen Verschwörer« (Klemens von Klemperer) in den vergeblichen Versuchen, die Westmächte von ihren Friedensabsichten zu überzeugen. Für Churchill, der noch 1938 für den deutschen Diktator freundlich-kritische Worte fand, mochten die Verschwörer gute Absichten haben, aber keine realpolitische Bedeutung. Nicht anders für die Amerikaner.

Das Stichwort liefern zwei Reisen, die Moltke (1907-1945) als Emissär der Verschwörergruppe um Admiral Canaris nach Istanbul unternahm. Bei seinem ersten Besuch im Juli 1943 traf er Botschafter Franz von Papen (»Er ist doch ein jämmerlicher Mann«) sowie zwei Exilanten, den Agrarwissenschaftler Hans Wilbrandt und den Historiker Alexander Rüstow, die mit Ernst Reuter dem »Deutschen Freiheitsbund« angehörten und für den US-Geheimdienst arbeiteten. Beim zweiten Besuch (11.-16. Dezember) fand eine Unterredung mit dem US-Brigadegeneral Richard G. Tindall statt, der sich nur an militärischen Geheimnissen interessiert zeigte. Zu dem avisierten Treffen mit dem aus Berliner Zeiten gut bekannten Alexander C. Kirk, jetzt Botschafter in Kairo, kam es nicht. Am 10. Januar 1944 antwortete Kirk in knappen Zeilen: »Ich freue mich immer, Sie zu sehen, glaube aber nicht, dass unser Treffen jetzt einem guten Zweck dienen würde, da nach meiner Überzeugung nichts anderes als die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte den Krieg in Europa beenden wird.« (Zit. in: Brakelmann, 292) Der Brief erreichte den Adressaten nicht mehr. Moltke war am 19. Januar verhaftet worden.

Das einzige Resultat der Istanbul-Reisen war ein von Wilbrandt und Rüstow für den US-Geheimdienst verfasster Bericht, in dem sie behaupteten, Moltke (»Herman«) habe sich von der Notwendigkeit des unconditional surrender überzeugen lassen. Das als »Herman«-Bericht bekannte Dossier, von dem »Kreisauer« (und späteren CDU-Bundestagspräsidenten) Eugen Gerstenmeier ehedem vehement bestritten, hält der Moltke-Biograph Brakelmann für glaubwürdig. Der Bericht sei nach »intensiven, stundenlangen Gesprächen mit Moltke entstanden.« (Ibid., 290) Die für das Widerstandsdrama nicht unwesentliche »Herman«-Episode fehlt bei Thies.

Sein letztes Lebensjahr durchlebte Helmut James mit den Empfindungen eines Verhafteten, der sich gegenüber der gnadenlosen Justiz anfangs dank dünner Beweislage in relativer Sicherheit wiegen konnte – in Ravensbrück genoss er noch gewisse Freiheiten –, sodann in verzweifelter Überlebenshoffnung die Tage durchlitt. Zur Rettung ihres Gatten unternahm Freya politisch klug gezielte Vorstöße bei Gestapo-Chef Müller, Stellvertreter Himmlers. Moltkes Kalkül zielte auf das Überlebensinteresse der höchsten SS-Chargen.

Am 25. Januar 1945, zwei Tage nach dem Tod ihres Mannes, reiste Freya von Moltke zusammen mit Marion Yorck, der Witwe des bereits am 8. August 1944 hingerichteten Peter Yorck von Wartenburg, nach Kreisau. Das Kriegsfinale erlebte Freya mit den beiden Söhnen zusammen mit Marei Reichwein und deren Kindern – Adolf Reichwein war am 20.10.1944 in Plötzensee hingerichtet worden – in Kreisau bzw. auf der anderen Seite des Riesengebirgskammes (»auf der tschechoslowakischen Seite des Massivs« [300]). Dazu gehörten die Vergewaltigungen seitens der Sieger, die Beschlagnahme des Schlosses Kreisau, sodann der Auftritt der von den Russen wenig geschätzten polnischen Besatzer, die parallel zur Ankunft polnischer ›Umsiedler‹ in Schweidnitz und Umgebung mit der Vertreibung begannen.

Im Sommer 1945 erschienen Amerikaner aus Berlin – unter ihnen der aus Schlesien stammende OSS-Offizier Gero von Schulze-Gaevernitz – und Briten aus Warschau, die die nach Kreisau Zurückgekehrten mit polnischen Zlotys ausstatteten, ihnen zugleich dringlich die Abreise nahelegten. In britischen Militärfahrzeugen verließen die Moltkes Kreisau im Oktober 1945. In Westdeutschland fand Freya von Moltke für sich und ihre Söhne keine Zukunftsperspektive. Von 1947 bis 1953 lebte sie – auf Einladung des Premierministers Jan Christiaan Smuts – in Südafrika, 1955 siedelte sie in die USA über, wo sie ab 1960 als Lebensgefährtin von Rosenstock-Huessy (1888-1973) in Norwich (Vermont) lebte. In den 1990er Jahren bis zu ihrem Tod (1.1.2010) unterstützte sie die Initiative zur Gründung des deutsch-polnischen Begegnungszentrums in Krzyżowa/Kreisau.

VII.

Dem Lektorat – laut Danksagung wurde das Buch auch von Arnulf Baring gelesen – sind noch allerlei weitere Fehler entgangen. Dass es unter Presbyterianern – die Konfession der nach 1800 aus Schottland eingewanderten Rhodes Innes -, keine ›Priester‹ gibt, sollte man wissen. Wie Brakelmann bezeichnet Thies den kroatischen Bauernführer Stjepan Radić (1871-1928), den der junge Helmuth James noch kurz vor dessen Tod – er war am 28. Juni 1928 im Belgrader Parlament angeschossen worden – in Agram (Zagreb) besuchte, als »Kommunisten«. Wenngleich kurzzeitig vom großen Aufbruch in der Sowjetunion angetan und 1924 Gast in Moskau, wo er die Bolschewiki von der Gründung einer Bauerninternationale überzeugen wollte, war Radić ein Nationalist und Agrarreformer, Gegner des Systems von Versailles und Vorkämpfer einer kroatischen Bauernrepublik, wenngleich vor seinem Tode anscheinend wieder im Rahmen Jugoslawiens. Carl von Ossietzky bezeichnete ihn in der Weltbühne – zu deren Lesern nach Köhler der junge Moltke zählte, als eine der »merkwürdigsten Gestalten der Gegenwart«. Er verkünde »die christliche Demokratie, die Gesellschaft der einfachen Menschen, deren Staat kein Machtgebilde ist, sondern dem friedlichen Wesen seiner Bewohner entspricht.« (Zit. in: Köhler, 259, 260.)

Soll man überlesen, dass die Konferenz von Casablanca »wenige Tage nach der Landung der Amerikaner an den Küsten Marokkos im November« stattfand? Dass das zur ›Festung‹ erklärte Breslau wochenlang »in der Frontlinie« gelegen sei, verfehlt die militärische Situation in Schlesien ab Anfang Februar 1945. Abwegig ist ein Satz, der die von den »Kreisauern« angestrebte Neuordnung, begründet in christlich-personalistischen Ideen, in Beziehung zu Titos Selbstverwaltungssozialismus »nach 1945« (!) rückt.

Literatur:

BRAKELMANN, Günter: Helmuth James von Moltke 1907-1945. Eine Biographie, München 2007

FRIEDRICH, Otto: Blood and Iron. From Bismarck to Hitler. The von Moltke Family' s Impact on German History, New York 1995

KACER-BOCK, Gundhild: Helmuth von Moltke, http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=1159)

KÖHLER, Jochen: Helmuth James von Moltke. Geschichte einer Kindheit und Jugend, Reinbek bei Hamburg 2008

DER KREISAUER KREIS. Porträt einer Widerstandsgruppe, Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bearb. v. W.E. Winterhager, Berlin 1985

ROON, Ger van: Widerstand im Dritten Reich, München 1979

SCHMÄDEKE, Jürgen – STEINBACH, Peter (Hgg.): Der Widerstand gegen den den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 21986.

THIES, Jochen: Die Moltkes. Von Königgrätz bis Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte, Piper Verlag, München-Zürich 2010, 374 Seiten (mit 12 Seiten Bildmaterial und 4 Seiten Stammtafeln)