von Felicitas Söhner
»Solange die Hasen keine Historiker haben, wird die Geschichte von den Jägern erzählt« – damit verwies der Historiker Howard Zinn auf Sinn und Wert, in der Geschichtsschreibung auch die Perspektive wenig beachteter Gruppen einzufangen. Deren Geschichte des Alltags versteht die Historikerin Dorothee Wierling als »Geschichte einer spezifischen sozialen Erfahrung und einer subjektiven Perspektive« (216).
Ausgehend davon, dass das Wissen über die DDR in der breiten Bevölkerung eher gering ist und auch eine Generation nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer getrennte Erinnerungskulturen in Ost- und West-Deutschland bestehen, untersuchten die Historikerinnen Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann, wie die DDR als Gesellschaft im Leben der Ostdeutschen bis heute nachwirkt. Arp leitet seit Oktober 2021 die Oral-History-Forschungsstelle mit dem Fokus auf die Geschichte der DDR und der Transformation an der Universität Erfurt. Goudin-Steinmann ist Dozentin für zeitgenössiche Geschichte und deutsche Studien an der Sorbonne-Nouvelle-Paris 3.
Das Buch hat einen engen Bezug zu einer umfangreichen Maßnahme zur Förderung der DDR-Forschung durch das Ministerium für Bildung und Forschung. Das zentrale Ziel der Förderung lag darin, eine stärkere strukturelle Verankerung der DDR-Forschung in der deutschen Hochschul- und Forschungslandschaft zu erreichen. Zahlreiche in dieser Linie geförderte Teilprojekte griffen auf qualitative Interviews zurück, manche auch auf den Zugang der Oral History (233).
Mit der Absicht, Menschen zu erreichen, »die in der Geschichte der ostdeutschen Lebenswege mehr als eine bloße DDR-Geschichte sehen« (26), näherten sich die Autorinnen der Frage, inwiefern sich die »DDR nach der DDR« heute abbildet, über lebensgeschichtliche Interviews. Nachdem der Band in breiten, außerakademischen französischsprachigen Lesekreisen auf großes Interesse gestoßen ist, ist es nun auch möglich, deutschsprachige Lesende zu gewinnen.
Ein Ziel des Projekts lag auch darin, die Lebensberichte zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um diese in ein kollektives Gedächtnis integrieren zu können (20). Das Interesse für Menschen, die nicht zur Staatsgewalt gehörten, aber auch die DDR-Gesellschaft ausmachten, stehe damit bewusst im Widerspruch zu der gängigen Vorstellung, dass manche Personen oder Ereignisse historisch interessanter seien als andere (215).
Neben einer Untersuchung von Belletristik, Statistiken und Sekundärliteratur beruhen die Analysen der Autorinnen auf biografischen Interviews. Um ihren Fragen nachzugehen, führten sie 2018/19 Interviews mit dreißig in der DDR sozialisierten Menschen. Das Interviewsample umfasst unterschiedliche Lebensalter (zwischen 1925 und 1970 geboren), soziale und Bildungsschichten (18). Die Gespräche behandeln ein breites Feld von Erinnerungen und Erfahrungen und zeichnen die Grundzüge von Akzeptanz und Ablehnung der DDR-Gesellschaft nach. Durch das Gespräch mit Zeitzeugen und den Blick auf die Alltagsgeschichte sei eine Wiederaneignung der individuellen Lebensläufe möglich geworden (211).
Zwischen Einleitung und Fazit gliedert sich das Buch in die vier Kapitel Entwertung(en), Wiederaneignung(en), Aufwertung(en) und Entteufelung?. Diese vertiefen zum einen, wie die die Geschichte der DDR dreißig Jahre nach ihrem Ende von den Befragten erzählt wird im Kontrast zum Platz der DDR im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. In den ersten drei Hauptkapiteln werden die Erzählungen der Befragten gruppiert, interpretiert und in den entsprechenden historischen und gesellschaftlichen Kontext gesetzt. Im letzten Kapitel wird die historiographische Entwicklung der DDR-Geschichte untersucht und geschildert, welche Rolle die DDR in der wissenschaftlichen Forschung spielt.
Die in dem Band präsentierten Berichte zeigen, dass immer noch beträchtliche Unterschiede zwischen Ost und West bestehen. Arp und Goudin-Steinmann betonen, dass es die eine große Erzählung der DDR (noch) nicht gebe (236). Vielmehr müsse man sich heute in der Auseinandersetzung auf Nuancen, graduelle Unterschiede und Abstufungen einlassen. Die Lesenden stoßen auf Schilderungen von empfundener Entwertung, Wiederaneignung und Aufwertung ostdeutscher Lebenswege (Klappentext) sowie sehr verschiedene, zum Teil gegensätzliche Geschichten über das Leben in der DDR und die Wahrnehmung von Herrschaft im Alltag. Alle Erinnerungen eint das Gefühl eines erlebten biografischen Bruchs, der durch das Verschwinden der DDR in allen ostdeutschen Biografien existiert. Die Autorinnen umschreiben diesen mit der »Erfahrung tiefer Destabilisierung und Verunsicherung (…) neben dem Gefühl von Freiheit, Öffnung für die Welt und (…) dem Gefühl, dass man das verlorene Land mehr vermisste, als man erwartet hatte.« (236)
Die Lesenden erhalten vielfältige Perspektiven auf Themen wie Bildungschancen, Geschlechterverhältnisse, Möglichkeiten politischer Teilhabe oder Deutungshoheiten im vereinigten Deutschland (Klappentext), wie sie von durchschnittlichen Menschen persönlich erfahren und erinnert wurden. Dies erlaubt einen differenzierten Blick auf die ›Wendezeit‹. Die Historikerinnen nehmen damit der Geschichte vom Ende der DDR die Unvermeidlichkeit, denn sie stellen auch die Frage, ob die DDR zwangsläufig in der Bundesrepublik hätte aufgehen müssen. Die lebensgeschichtlichen Interviews ermöglichen Nähe, Zwischentöne und Differenzierungen als Vergleichsfolie zur bislang vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung der »DDR nach der DDR«. Die Autorinnen lassen die individuellen Lebensgeschichten nicht einfach nur nebeneinander stehen, sondern betten diese in einen historischen Kontext ein. Gleichzeitig gehen die biografischen Zeugnisse auf Distanz zu einem negativ gefärbten, bisher hegemonialen Diskurs.
Arp und Goudin-Steinmann gelingt es – nach der ersten französischsprachigen Ausgabe – nun auch einer deutschsprachigen interessierten Öffentlichkeit einen alternativen Zugang zur Geschichte der DDR aufzuzeigen und diese nicht nur als kurze Phase in der deutschen Geschichte wahrzunehmen. Dabei versuchen die Historikerinnen nicht, die DDR zu revitalisieren, sondern ermöglichen vielmehr unterschiedliche Erinnerungen nebeneinander koexistieren zu lassen. Partizipative Forschungskonzepte und das Einbeziehen von biografiegestützten Zugängen sind unerlässlich, um facettenreiche wie kritische Perspektiven auf die Vergangenheit zu ermöglichen. Auch für historisch Forschende, vor allem im Bereich der Oral wie der Public History und der Zeitgeschichte, ist das Buch zur Lektüre zu empfehlen. Der Band ergänzt den bisherigen Forschungsstand zur Erinnerung an die DDR nicht nur wegen seines methodologischen Zugangs, sondern auch aufgrund des offenen, alternativen Blicks auf die Nachwendezeit – und eröffnet damit neue Perspektiven für zukünftige Forschung zur Erinnerungskultur. Ein breiter Leserkreis darf einen äußerst gelungenen, komplexen historischen Einblick in eine nach wie vor brandaktuelle Geschichte erwarten.