von Gunter Weißgerber

Es wurde Zeit! Berlin, Deutschland, die Europäische Union sind nicht der Nabel der Welt. Unsere gewohnte Perspektive ist die von Fröschen, die von ihrem Seerosenblatt über den Teich schauen. Von anderer Stelle aus, bereits wenige Zentimeter weiter, ist die Perspektive anders, stehen die mehr oder weniger auffälligen Punkte anders und in anderem Verhältnis zueinander. Die Welt mit den Augen der anderen betrachten, das sollte man sich öfter gönnen. Besonders wenn es um Geschehnisse weltweiter Relevanz geht. Dan Dinner sei beglückwünscht zu dieser Idee und zu diesem Buch!

Vor einiger Zeit war ich zwei Jahre fast ununterbrochen geschäftlich in der Türkei unterwegs. Durch das Geschäftliche bedingt waren es weniger die touristischen Stätten, die ich kennenlernte. Es war ein Zug durch die türkische Gesellschaft von unten nach oben, von links bis rechts und quer. Es liegt in der Natur der Sache, dass es neben den notwendigen geschäftlichen Gesprächen, die ihrerseits einen sehr guten Einblick in das wirtschaftliche und soziale Denken ›der Türken‹ in der Türkei gaben, am Rande immer wieder aktuelle, historische und zwischenmenschliche Themen berührt wurden. Und plötzlich merkte ich, dreitausend Kilometer Luftlinie weiter südöstlich handelt es sich um dieselbe Welt und doch wird sie in jeder Hinsicht aus einer anderen Perspektive wahrgenommen. Auch und besonders die beiden Weltkriege.

Mit Stolz verwiesen viele Gesprächspartnern auf die beinahe ›Bruderfreundschaft‹ zwischen dem deutschen Kaiserreich und der ›Hohen Pforte‹ und gaben damit der Hoffnung auf gute Geschäfte Ausdruck. Einwände bspw. hinsichtlich des Genozids an den Armeniern wurden ebensowenig verstanden sowie etliche andere neuralgische Punkte. Von Hitler, dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ganz zu schweigen.

Nicht, dass in diesen Runden Verbrechen nicht als Verbrechen angesehen wurden, doch ganz weit weg im Sinne von Mitgefühl oder von Mitverantwortung, so etwas nie wieder geschehen zu lassen, war die Atmosphäre klar geprägt von der Distanz zur jüdischen Religion und zu Juden allgemein – egal von welcher Region und Nationalität. Meine Sichtweise, was Schuld und Verantwortung angeht, war zwar interessant, jedoch nicht passgenau zur Sichtweise meiner türkischen und kurdischen Bekannten. Diesbezüglich kam ich von einem anderen Planeten oder wie ich es empfand, war Istanbul ein anderer Planet. Soweit zu verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven. Helfen können da nur Gespräche, viele Gespräche auf Augenhöhe. Mit besserer neudeutscher Moral ist da nichts zu bewirken.

Was Freiheit und Demokratie angeht, argumentierte ich dort immer diesbezüglich

»ist doch Israel euer natürlicher Partner! Lassen wir die Religionsfragen außen vor, jede Religion muss geschützt und die Religionsausübung mit der UN-Menschenrechtscharta übereinstimmen, dann sehen wir, in Israel sind die Menschen frei und können ihre Regierung abwählen und ihr hier in der Türkei seid auch frei und könnt eure Regierung abwählen (das war 2012/13, damals sah das in der Türkei noch so aus). Das sind eure und unsere gemeinsamen Werte. Macht es nicht zu kompliziert. Israel ist ein befreundeter und wichtiger Staat.«

Damals fruchtete meine Argumentation noch, inzwischen würde sie nicht mehr passen. Weder ist die Türkei im Moment ein Land freier Bürger, noch können Türken und Kurden ihre Regierung in Ankara abwählen.

Soweit mein Ausflug an den Bosporus. Ich komme zu Dan Diners Ein anderer Krieg. Dan Diner zeigt auf, wer vom Zweiten Weltkrieg spricht, sei besser beraten, von mindestens zwei Kriegen weltweiter Bedeutung zu sprechen, die miteinander verwoben und doch auch irgendwie nebenher abliefen. Der deutsche Krieg, mit der Vernichtung weltweiten jüdischen Lebens gekoppelt, vorwiegend zwischen Atlantik und Ural und der Krieg der Achsenmächte gegen die britische Präsenz in Nordafrika, Nahem und Fernem Osten. Diner verweist selbstverständlich auf den gemeinsamen Kriegsbeginn durch das Dritte Reich und die Sowjetunion auf der Grundlage des sog. ›Hitler-Stalinpaktes‹ (Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffspakt v. 23. August 1939) und des ›Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages‹ (28. September 1939) sowie auf den pazifischen Aggressor Japan.

Das soll an dieser Stelle von mir aus genügen, es wäre eine weitere Abhandlung. Mir geht es um Diners Schwerpunkte im anderen Krieg – einem Krieg, der im Ergebnis zur Gründung Israels führte.

Als autodidaktisch historisch belesener Zeitgenosse mit einer Obsession für die griechisch-römische Antike würde ich sogar so weit gehen, den modernen Staat Israel auch als eine Revision der Ergebnisse des ›Jüdischen Krieges‹ zwischen 66 und 74 u.a (Fall von Masada) sowie des hadrianischen Framings von Judäa zu Palästina 136 u.Z. zu sehen. Nach der Niederschlagung des Bar Kochbar Aufstands 132-136 u.Z. wies Kaiser Hadrian die Umbenennung von Judäa in Palästina an. Die Juden und ihr ehemaliges Staatsgebiet, welches sie selbst Israel nannten, sollten ihre emotionale, kulturelle und historische Verbindung verlieren. Wer heute Israel sieht und dessen staatliche Nachbarn betrachtet, kommt nicht umhin festzustellen, wie wohltuend es für den Nahen und Mittleren Osten wäre, wenn Israels Nachbarn sich ebenso um das demokratische, wirtschaftliche und soziale Wohlergehen ihrer Bevölkerung kümmerten statt die Träger der jüdischen Religion zu bekämpfen.

Der 45. US-Präsident Donald Trump machte mit diesem Thema welthistorische Geschichte. Der ›Friedensvertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten‹ vom 15. September 2020 (das sog. ›Abraham-Abkommen‹ könnte dem Dauerkonfliktherd Naher Osten langfristig eine gedeihliche Entwicklung bringen. Hoffen wir, dass sein Nachfolger Joe Biden diese Politik klug weiterführt. Es wäre gut für Israel, für Israels Nachbarn, gut für die Welt. Auch ohne den arabisch-israelischen Konflikt ist die Weltlage fragil genug.

»Hitler. Hitler. Und immer nur Hitler. Wohl kann man die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ohne ihn nicht erzählen. … Der Zweite Weltkrieg ist dann: Hitler, Stalin, Churchill, Roosevelt, Polen, Auschwitz, Stalingrad, Normandie. … Eine Art hausinterner Kampf der Mächte der alten und neuen Welt. So fehlt etwas Entscheidendes: die koloniale Dimension.«

So Thomas Schmid in »Die Welt« am 12. März 2021. So auch meine Gedanken bei der Lektüre von Diners Buch.

Dan Diner zieht eine lange komplexe Linie von der ›Balfour-Deklaration‹ Großbritanniens von 1917 mit dem Ziel einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina über die ›Biltmore-Konferenz‹ von 1942 mit dem Charismatikerwechsel von Chaim Weizmann zu Ben Gurion an der Spitze der zionistischen Weltbewegung und der damit verbundenen jüdischen Geoschwerpunktverschiebung von der schwächer gewordenen Schutzmacht Großbritannien zur neuen Weltmacht Vereinigte Staaten (ein Nachvollzug realer Entwicklungen) bis nach New York 1947 und der UN-Gründung Israels.

Sechs Schwerpunkte sind mir vor allem aufgefallen:
1. Der Krieg ›da oben‹ mit dem Geozentrum (Groß-)Deutschland und deutsch besetztes Europa und der Krieg ›da unten‹ mit dem Geozentrum Britisch-Indien und dem »britischen Binnenmeer« (Diner) indischer Ozean.

Thomas Schmid erwähnte ich oben bereits. Auch ich stellte zunehmend fest, wie sehr die meisten Deutschen in ihrer Erinnerungskultur auf den Krieg ›da oben‹ fokussiert sind und die damalige Situation im Nahen Osten und speziell im britischen Mandatsgebiet Palästina vor und zwischen den beiden Weltkriegen nur bruchstückweise oder überhaupt nicht kennen oder gar einschätzen können.

Am 9. Mai 1942 lag während der bereits erwähnten Konferenz im New Yorker Biltmore Hotel die »New York Times« aus, in der in einem Bericht vom Vortag die Einschätzungen des US-Vizepräsidenten Henry A. Wallace zu lesen waren, der anlässlich eines Galaabends im Rahmen des zweiten World Congress on Demokratic Victory and World Organization vor Vertretern von über 30 Staaten eine Rede gehalten hatte. »Die Ausführungen von Wallace waren wenig erbaulich. Der Hoffnung, dass alsbald in Europa eine zweite Front eröffnet werden könnte, erteilte er eine Absage. …« (S.15). Wallace rechnete mit einer ›extremen Krise‹, keiner Wende zum Guten, einer Verschlechterung der Lage für das Bündnis der ›Vereinten Nationen‹, einem japanischen Vorgehen gegen Alaska, gegen die US-Nordküste, deutschen Aktionen in Südamerika. Nach Wallace stand Hitler ein Zeitfenster von zwei Jahren offen, das er nutzen würde, um eine unabwendbare Niederlage zu verhindern. Frühestens 1944 würde die US-Kriegsproduktion einen Stand erreichen, der den Sieg über die Achsenmächte brächte. Für den Krieg ›da unten‹ waren das niederschmetternde Aussichten. Die Briten mussten es fast allein stemmen, die Freiheit in Sicherheit für die Juden im Nahen Osten war beinahe so gefährdet wie das jüdische Leben im Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus. Die Deutschen und ihre Verbündeten mussten überall verlieren, nicht nur im Krieg ›da oben‹!

2. Ferner, Naher und mittlerer Osten

Vom britischen Mandatsgebiet Palästina aus auf die Weltkarte geblickt sind es von Jerusalem bis Teheran rund 2000 Kilometer und von Jerusalem bis Berlin rund 4000 Kilometer. Zwischen Jerusalem und Moskau liegen ebenfalls in etwa 4000 Kilometer Luftlinie. Die Distanz zwischen Jerusalem und Auschwitz beträgt rund 3600 Kilometer – damals faktisch von Judäa aus betrachtet ein militärisch unerreichbarer Planet. Näher und damit bedrohlicher aus jüdischer Sicht war damit der Spannungs- und Kriegsraum Nordafrika- Mittlerer und Ferner Osten mit seinem Bedrohungspotential im Nahen Osten und hier speziell für die Juden im britischen Mandatsgebiet Palästina.

Die Juden in Palästina hatten zwar ihre Schutzmacht Großbritannien, die ihrerseits schwer unter Druck des europa- und nordafrikaweiten Achsen-Vormarschs stand. Auch stand Großbritannien unter enormem selbst produziertem inneren Druck. Benjamin Disraeli, britischer Premier 1868 und von 1874 bis 1880, brachte es 1878 auf den sozusagen bis heute nachhallenden Punkt: »Gerne sprach er von Britannien als einem muslimischen Imperium« (S.48). Er zielte mit dieser Feststellung auf die Tatsache ab, dass ein großer Teil der Bevölkerung des Imperiums Muslime waren. Auf die müsste jeder britische Regierungschef auch Rücksicht nehmen. Kolonien waren nicht nur möglicher Reichtum. Mit den Kolonien holte sich jeder Staat auch die Situationen in den Kolonien ins eigene Land.

Auf Frankreich bzw. auf das Vichy-Frankreich konnten sie nicht hoffen. In dieser Hinsicht musste die Hoffnung genügen, dass dessen afrikanische Kolonien nicht in die Hände der Deutschen fielen und die Kolonien wiederum deutsche Kräfte binden würden. Zudem kam es in den 30er Jahren zu einer Entfremdung zwischen der Mandatsmacht und den Juden im Mandatsgebiet. Die britische Welt war hochkomplex und fragiler als die Zeitgenossen glaubten.

Alles hing für den wiederkommenden jüdischen Staat daher von der Einbindung der kommenden Supermacht Vereinigte Staaten ab. Damit einher ging der Wechsel von Chaim Weizmann, dem starken Mann hinter der ›Balfour-Erklärung‹ von 1917, zu Ben Gurion, dem Bekenner der jüdischen Staatlichkeit in Palästina mit Hilfe der USA. »Mit dem in New York verabschiedeten Biltmore-Programm fand sich dieses bereits zuvor eingeleitete Revirement ratifiziert« (S.18).

Die Briten waren noch die Weltmacht im pazifischen Raum, doch es war abzusehen, dass sie es allein nicht mehr schaffen würden. Damit wären die Juden in Palästina genauso gefährdet wie ihre Glaubensbrüder im deutschen Herrschaftsbereich.

3. Vichy und die französischen Kolonien

Dan Diner beschreibt unzählige Prozesse im diffizilen Räderwerk der Kriegs- und Nebenkriegsschauplätze. Auf Seite 162 lässt er den Leser auf Vichy-Frankreich und Großbritannien in einem sonst selten entschlüsselten Zusammenhang stoßen. „

»Das Geheimabkommen von Madrid war Teil eines von Vichy betriebenen ›double jeu‹ Nazi-Deutschland wie den Briten gegenüber. … Gleichwohl verbarg sich hinter einer auch weiterhin aufrechterhaltenen ›Fassade des Zerwürfnisses‹ ein gemeinsames Interesse: nämlich der Achse einen Zugriff auf die französischen Besitzungen in Übersee, vor allem in Nord- und Westafrika zu verweigern.«

Den Deutschen muss »die volle Bedeutung des kolonialen Bereichs für Kommendes offenbar entgangen sein« – so Diner auf Seite 163 bezüglich des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne 1940. Hitler war wohl zu sehr auf den Kontinent fixiert. »Vor allem den Vereinigten Staaten war, mit Blick auf zukünftige strategische Vorhaben, an einem gedeihlichen Verhältnis zu Vichy gelegen.« (S. 163).

4. »Asien den Asiaten« (S.241)

Für die Briten wurde es auf dem indischen Subkontinent ebenfalls sehr schwierig. 1942 breitete sich in Ägypten Panik aus. Gerüchte malten das Schreckensbild britischer Rückzugspläne (S.241). Die Hauptfluchtwelle nahm die Richtung Indien. Dort stieg der ohnehin gegen die britische Kolonialherrschaft vorhandene Druck, was der Nationalbewegung Auftrieb gab. Die Briten brauchten Indien im pazifischen Raum gegen Japan und konnten den Subkontinent nicht den Kriegsgegnern überlassen. Japan kam nicht nur vom Meer, es stand in China an den Grenzen zu Indien. Die meisten Inder wollten aber nicht in den Krieg hineingezogen werden. Indien litt unter der britischen Kriegswirtschaft und besonders an einem Mangel an Grundnahrungsmitteln. Letzteres weitete sich zu einer Katastrophe aus. Eine Cholera-Epidemie kam dazu.

»General Archibald Wavell, bislang Commander-in-Chief India, übernahm im Oktober 1943 von Linlithgow das Amt des Vizekönigs. Besorgt, die Hungersnot und die durch Inflation angetriebenen Nahrungsmittelpreise könnten die Kampfbereitschaft der … indischen Truppen beeinträchtigen, trat er dem Kriegskabinett in London gegenüber resoluter auf und forderte eindringlich, Indien von außen her mit Getreide zu versorgen: Niemals sei unter britischer Herrschaft stehendes Volk einem solchen Elend preisgegeben worden. … Die bengalische Hungersnot hat sich tief in das indische Kriegsgedächtnis eingeschrieben.« (S.250).

Der ›Krieg da unten‹ wurde auch erst 1945 gewonnen. Eine Niederlage der Alliierten ›da unten‹ vor dem Ende des ›Krieges da oben‹ hätte ›da oben‹ möglicherweise zu einem Sieg Nazideutschlands geführt.

5. Stalins Druck auf Briten nach 1945

Nach Dan Diner spielte Josef Stalin auf eigene Art mit den Briten, den Juden und deren Wunsch nach eigener Staatlichkeit. Vorerst mit Kriegsende 1945 wollte Stalin den Briten, mit denen er geopolitisch im Iran auf Konfliktlinie lag, im Nahen Osten Probleme bereiten. Er wollte die polnischen Juden nicht im Nachkriegspolen repatriiert sehen. In Palästina würden sie dagegen durch ihren Einwanderungsdruck und die damit einhergehenden jüdisch-arabischen Konflikte den Briten das dortige Dasein verderben und sich aus der Region endgültig verabschieden sollen. Gleichzeitig würde sein Verhalten unter den Juden im Mandatsgebiet Sympathien für die Sowjetunion wecken. Im beginnenden Kalten Krieg und dem Wettbewerb um Partner eine einleuchtende Strategie. Für die Idee eines israelischen Staates war Stalins Haltung auf jeden Fall ein temporärer Glücksfall: »Angesichts des millionenfachen Judenmords, so Gromyko vor der UNO, sei eine Verweigerung des Rechts des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat nicht zu rechtfertigen.«(Andrej Gromyko vor der UNO am 29. November 1947, Zitat Bundeszentrale für politische Bildung).

Bleibt anzumerken, mit der israelischen Hinwendung zum Westen machte Stalin wieder das, was er bestens konnte: das Erfinden von Verschwörungen gegen ihn. Kurz vor seinem Tod bastelte er an der Einbildung einer Verschwörung jüdischer Ärzte gegen ihn.

6. Der Holocaust – selbst für die Juden unvorstellbar

Wie konnte es zum Holocaust kommen? Wie konnte inmitten des vermeintlich zivilisierten Mitteleuropas die weltweite Vernichtung von Juden auch nur angedacht werden – von der Realisierung ganz zu schweigen? Diese Fragen sind nicht zentraler Teil von Dan Diners Buch. Er nähert sich dem Unsagbaren über die zeitgenössische Vorstellungswelt und stellt sich vor allem den Fragen, ob die Juden im Herrschafts- und Terrorgebiets der Nationalsozialisten dem Holocaust überhaupt hätten entgehen oder das Unvorstellbare gar verhindern können. Er beantwortet eine andere überaus wichtige Frage: Wäre es möglich, sinnvoll oder richtig gewesen, die Gleisanlagen zu den Lagern und die Lager selbst zu bombardieren? Fragen die heute noch immer wieder gestellt werden. Einmal von Menschen, die es tatsächlich nicht verstehen und das andere Mal von Zeitgenossen, die den Siegern klammheimlich mit vorgeschobener moralisch verpackter Attitüde ›eine drüberziehen‹ wollen, sprich ›die waren doch nicht besser!‹.

»Das, was später als Holocaust bezeichnet werden sollte, blieb dem Yishuv [umgangssprachlich für die jüdische Gemeinschaft und das jüdische Gemeinwesen vor der Wieder-Staatsgründung Israels 1948 – GW] lange fern – real wie in der Wahrnehmung. Zwar berichtete die Presse des jüdischen Palästinas, meist in Übernahme von Meldungen internationaler Nachrichtenagenturen, von Grausamkeiten, denen die Juden Europas ausgesetzt waren, allerdings meist in den Sprachbildern von Pogromen und Massakern. … So wurde lange nicht erkannt, dass jenes schreckliche Geschehen weit über lokale Mordaktionen hinausreichte, … sondern dass es sich um eine räumlich entgrenzte, systematisch durchgeführte Vernichtung von Juden handelte – kurz: dass Juden allesamt und überall dort, wo die Wehrmacht hingelangte, einer totalen Ausrottung anheimfielen. In Reaktion auf dieses ebenso ungeheuerliche wie beispiellose Geschehen setzte eine psychische Sperre ein, die anthropologisch begründete Weigerung, eine derartige Dimension von Gewalt wahrzunehmen. Darin machte das jüdische Palästina keine Ausnahme. (S.267).
»Die zu erzählende Geschichte ist weitgehend bekannt: Mitte November 1942, ... , traf eine Gruppe von Juden aus Polen, … , in Palästina ein. Es handelte sich um an die siebzig palästinensische Bürger, überwiegend Frauen und Kinder, die im Rahmen einer größeren Austauschaktion – … – nach Palästina zurückkehren durften. Sie hatten sich besuchsweise in Polen aufgehalten und waren dort vom Kriegsausbruch überrascht worden. In den Vorraum des Todes geraten, hatte ihre Mandatszugehörigkeit sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Nach ihrer Ankunft hatten … sie aufgefordert, von ihren Erlebnissen zu berichten. Dabei machten die Ausgetauschten die schmerzhafte Erfahrung, dass ihnen nicht recht geglaubt wurde. Vor allem dann nicht, wenn sie auf systematische Tötungen in Vernichtungslagern, … zu sprechen kamen…. Um die, wie er meinte, unverfälschte Wahrheit zu vernehmen, wandte er sich an ein Kind, das der Gruppe der Ausgetauschten zugehörte. Was Grinboim und die anderen Anwesenden aus dessen Munde vernahmen, war derart ungeheuerlich, dass alle in Schweigen erstarrten.« (S.267/268).

Bomben auf Auschwitz?

Das Begreifen des systematischen Massenmordes war unvorstellbar schwierig. Verbrechen gegen Juden, Pogrome und vieles mehr gab es zu allen Zeiten in allen Regionen. Diese Grunderfahrung teilten die Juden schon immer leidvoll. Das, was die Nationalsozialisten taten, sprengte jede Vorstellungskraft hinsichtlich menschlicher Abgründe. Dan Diner macht das Dilemma sehr deutlich. Vor diesem Hintergrund war es auch so schwierig, nahezu unlösbar, Wege zur Rettung, zur Linderung, zur Abhilfe zu finden. Im militärischen Einflussgebiet des Dritten Reichs gab es keinen wirklichen Weg. Die Menschen waren bis zur Niederlage von Wehrmacht und SS zum Tode verurteilt. Hätten Bombardierungen der Gleise in die Lager und die Zerstörung derselben sie gerettet? Zerstörte Gleise hätten allenfalls zum Massenmorden auf den weiten Flächen Polens und der Sowjetunion geführt. Es war ein Vernichtungskrieg im Osten. Zum Vernichten braucht der Mörder keine Lager, die sind allenfalls effektiver zu führen. Und die Vernichtungslager bombardieren, ausradieren? Die Bomberpiloten würden den Nationalsozialisten faktisch die Arbeit abnehmen und den willkommenen Nachweis führen, dass die angeblichen Judenretter ebenfalls über hunderttausende Leichen gingen. Am Beispiel Katyn zelebrierten die Deutschen das bekanntlich beispielhaft. In der Region Katyn fanden sie über zwanzigtausend vom KGB Ermordete Angehörige der polnischen Intelligenz und führten – selbst Massenmörder – Stalins Bereitschaft zum Massenmord als Beweis sowjetischer Unmenschlichkeit aller Welt vor Augen. Ermordete als Gallionsfiguren in einem grausigen Schmierentheater. Hätten die Alliierten die Vernichtungslager bombardiert, hätte Goebbels vor der Welt ein Riesentheater aufgeführt: ›Seht her! Der angebliche menschenfreundliche Westen ermordet zu hunderttausenden die Juden, die wir im Osten ansiedeln wollten.‹ Dazu die entsprechenden Filme und Fotos und die Alliierten hätten ein weiteres Problem auf ihrem opferreichen Weg nach Berlin gehabt.

Dan Diner gibt die Bombardierungsdiskussion innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auf den Seiten 274/275 wider. Wer will, erfährt genug. Genug um zu verstehen, dass altkluge überhebliche Vorwürfe völlig deplatziert sind. Stille scheint die einzige Position sein zu können.

»Am 11. Juni 1944 - … – trat die Exekutive der Jewish Agency in Jerusalem zusammen. Grinboim berichtete, er habe den US-amerikanischen Generalkonsul in Jerusalem, Lowell C. Pinkerton, ersucht, auf eine Bombardierung der von Ungarn nach Polen führenden Bahnverbindung hinzuwirken. Um die seit Mitte Mai vor sich gehenden Deportationen der ungarischen Juden zu behindern. … Als er ihm des Weiteren antrug, Auschwitz, Treblinka und andere (sic!) Todeslager durch alliierte Luftangriffe zu zerstören, bestand der Generalkonsul darauf, dieses Ersuchen schriftlich zu erhalten. Er wolle sicherstellen, dass die Alliierten nicht für den Tod von Juden, der dabei in Kauf zu nehmen wäre, verantwortlich gemacht werden.
Die Diskussion im Führungsgremium der Jewish Agency unter Vorsitz von Ben Gurion war heftig. … Das Gremium sprach sich kategorisch gegen das Vorhaben aus. … Weitere Bemühungen, die Alliierten zu veranlassen, Auschwitz der ungarischen Juden wegen zu bombardieren, erübrigten sich, als Admiral Horthy – Anfang Juli den Stopp der Deportationen verfügte. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits an die siebzig Prozent der fast siebenhunderttausend ungarischen Juden ermordet worden« (S.274/275). Zurück ins Biltmore Hotel: »Dass die Ereignisse in Europa womöglich das Ende des dortigen Judentums bedeuten könnten, war den im Biltmore Hotel im Mai 1942 Versammelten ebenso unvorstellbar wie unerträglich.« (S.30).

Persönliches Fazit

Während des Lesens schweiften meine Gedanken immer wieder zu dem Monumentalfilm Exodus. Nach heutigen schnelllebigen Maßstäben sicher ein überlanger Schinken, was er für mich noch nie war. Im Gegenteil, wird er heute im Fernsehen gezeigt, wird er in Sendezeiten wie weiland bei Procrustes ins Bett eingepasst. Zuletzt fehlten im Öffentlich-Rechtlichen volle zehn Minuten gegenüber dem Originalfilm. Und es fehlten ausgerechnet wichtige Szenen arabischer Gewalt in Jerusalem 1947. Die Reaktion der Haganah dagegen wurde nicht herausgeschnitten. Übrig blieb damit jüdische Gewalt. Ein fatales Bild. Absicht? Der Hollywood-Film ist natürlich ›nur‹ ein Spielfilm, aber einer, der sich des Anschauens und Anhörens (Musik!) noch immer lohnt. Die Stimmung auf dem Schiff mit den KZ-Überlebenden und im Mandatsgebiet in den Wochen vor dem UN-Beschluss zur Teilung Palästinas und damit zur Gründung des Juden-Staates wird beeindruckend wiedergegeben. Exodus bleibt ein Film, durch den die Atmosphäre zwischen Holocaust und Staatsgründung Israels beeindruckend und tiefgehend nachempfunden werden kann. Das Interesse an der einzigen Demokratie im Nahen Osten kann auch mit diesem Film geweckt werden.

Besser wären natürlich Reisen ins gelobte Land. Wer dabei noch erfahren kann, was Fleiß, Intelligenz, Freiheit und Demokratie in Wüstenregionen entstehen und gedeihen lassen, der wird den Nah-Ost-Konflikt, der auch unser Konflikt ist, besser verstehen. Denn, dass fruchtbarer Boden an Israels Grenzen aufhört und schlagartig in Wüste übergeht, kann nicht einleuchten. Alle Nachbarn Israels hatten die Chance, sich zu entwickeln, wie es der Judenstaat unter latenten Gefahren kreativ und nimmermüde durchzog.

Ich komme nicht umhin, nochmals auf das oben erwähnte ›Abraham-Abkommen‹ zwischen Israel, den Emiraten und Bahrain zurückzukommen. Der Administration des 45. US-Präsidenten gelang eine historische Weichenstellung im Nahen Osten. Plötzlich scheint tatsächlich dauerhafter Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt möglich zu sein. Die Welt als Dorf hat eine latente Kriegsgefahr weniger, wenn dieser Schritt weitergegangen wird. Das ist aller Mühen wert!

Der gesamte Nahe Osten als eine weitere prosperierende Region mit fabelhaften Möglichkeiten statt eines Pulverfasses, welches uns alle seit Jahrzehnten in großer Unsicherheit hält. Ein Untergang Israels wäre der erste Schritt zum Untergang der westlichen Welt. Davon bin ich überzeugt. Israel muss leben – in Frieden mit seinen Nachbarn – damit wir alle leben können!

Anhang:

Die Erklärung des Abraham-Abkommens (deepl-Übersetzung)
Wir, die Unterzeichnenden, erkennen die Bedeutung der Aufrechterhaltung und Stärkung des Friedens im Nahen Osten und in der ganzen Welt an, der auf gegenseitigem Verständnis und Koexistenz sowie auf der Achtung der Menschenwürde und der Freiheit, einschließlich der Religionsfreiheit, beruht.
Wir ermutigen zu Bemühungen, den interreligiösen und interkulturellen Dialog zu fördern, um eine Kultur des Friedens zwischen den drei abrahamitischen Religionen und der gesamten Menschheit voranzubringen.
Wir glauben, dass der beste Weg zur Bewältigung von Herausforderungen in der Zusammenarbeit und im Dialog besteht und dass die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Staaten die Interessen eines dauerhaften Friedens im Nahen Osten und in der ganzen Welt fördert.
Wir streben nach Toleranz und Respekt für jeden Menschen, um diese Welt zu einem Ort zu machen, an dem alle ein Leben in Würde und Hoffnung genießen können, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Wir unterstützen Wissenschaft, Kunst, Medizin und Handel, um die Menschheit zu inspirieren, das menschliche Potenzial zu maximieren und die Nationen einander näher zu bringen.
Wir streben danach, Radikalisierung und Konflikte zu beenden, um allen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Wir verfolgen eine Vision von Frieden, Sicherheit und Wohlstand im Nahen Osten und auf der ganzen Welt.
In diesem Geiste begrüßen wir die bereits erzielten Fortschritte bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und seinen Nachbarn in der Region nach den Grundsätzen des Abraham-Abkommens und fühlen uns durch diese ermutigt. Wir sind ermutigt durch die laufenden Bemühungen, diese freundschaftlichen Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und eines gemeinsamen Engagements für eine bessere Zukunft zu festigen und auszubauen.

U.S. Department of State: The Abraham Accords:
The Abraham Accords Declaration
We, the undersigned, recognize the importance of maintaining and strengthening peace in the Middle East and around the world based on mutual understanding and coexistence, as well as respect for human dignity and freedom, including religious freedom.
We encourage efforts to promote interfaith and intercultural dialogue to advance a culture of peace among the three Abrahamic religions and all humanity.
We believe that the best way to address challenges is through cooperation and dialogue and that developing friendly relations among States advances the interests of lasting peace in the Middle East and around the world.
We seek tolerance and respect for every person in order to make this world a place where all can enjoy a life of dignity and hope, no matter their race, faith or ethnicity.
We support science, art, medicine, and commerce to inspire humankind, maximize human potential and bring nations closer together.
We seek to end radicalization and conflict to provide all children a better future.
We pursue a vision of peace, security, and prosperity in the Middle East and around the world.
In this spirit, we warmly welcome and are encouraged by the progress already made in establishing diplomatic relations between Israel and its neighbors in the region under the principles of the Abraham Accords. We are encouraged by the ongoing efforts to consolidate and expand such friendly relations based on shared interests and a shared commitment to a better future.