Dresden 1919. Wer kennt Marie Stritt? Wer kennt Gustav Neuring? Wer weiß überhaupt etwas davon, wie uns die Kommunisten Geschichte vorlogen?

Vor zwei Jahren bat mich ein Journalist der »Freien Presse« um ein Statement zum Vorhaben der sächsischen Staatsregierung, die Jubiläen Revolution 1919 und Friedliche Revolution 1989 miteinander zu verknüpfen. Darauf war ich aus dem Stand nicht vorbereitet. Die Ereignisse nach 1918 waren mir nicht so präsent, dass ich mich in der Lage sehen konnte, die Verknüpfung eindeutig zu bejahen. Zwar fielen mir sofort die Genese der sächsischen Untertanen zu Bürgern des Freistaates Sachsen, das Erringen der Demonstrationsfreiheit, die Einführung des Frauenwahlrechts und die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung ein. Auch waren mir die 1918/19 sofort einsetzenden Kämpfe von ganz links und ganz rechts gegen die neuen demokratischen Verhältnisse bewusst. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, der Kapp-Putsch 1920 von Rechtsaußen und ›Deutscher Oktober‹ 1923 von Linksaußen unter dem Klima von SPD/Russlandgesteuerter KPD-Koalitionen in Thüringen und Sachsen sollen hier als Stichworte genügen. Last but not least, auch hatte ich die Revolution 1918/19 weder für Deutschland noch so richtig friedlich für Sachsen in Erinnerung.

›Machd doch euern Dregg alleene!‹, ein Bonmot dem letzten sächsischen König angeblich in den Mund gelegt, suggerierte mehr Friedlichkeit jener Zeiten als real abgelaufen war. Ich wusste, auch in Dresden gab es 1919 Todesopfer, nur Namen hatte ich nicht mehr im Kopf. Was mich, auf Gustav Neuring bezogen, besonders ärgerte. Den Namen des von Linksradikalen brutal ermordeten Sozialdemokraten musste ich erst wieder nachlesen. Auch dank Freya Kliers dresden 1919/ Die Geburt Einer Neuen Epoche ist er nicht nur mir wieder präsent. Besonders die sächsische SPD sollte sich des Mannes mit Würde annehmen: Noch fehlen eine ›Neuring-Straße‹ oder ein ›Neuring-Platz‹ in Sachsen und das gerade in Dresden!

Beispielsweise gibt es in Sachsen jede Menge Straßen, die nach dem brutalen Kommunisten Kurt Fischer benannt sind, einem Mann, zu dessen möglicher Verstrickung in die Todesumstände des Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs 1947 sogar vor zwanzig Jahren geforscht wurde ( »Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden«, Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Innenminister Kurt Fischer 1947, Michael Richter, Mike Schmeitzner, Leipzig 1999, 318 Seiten). Neuring statt Fischer, Demokrat statt Extremist? Ich wäre dafür.

Mit meinem wieder aufgefrischtem Wissen über die Revolutionszeiten in Sachsen nach dem ersten Weltkrieg würde ich die oben beschriebene Frage inzwischen mit einem eindeutigem ›Ja‹ beantworten: Der Freistaat Sachsen entstand 1919 als Ergebnis einer demokratischen Revolution, als Ergebnis der ›Friedlichen Revolution‹ wurde dieser Freistaat nach der DDR-Zeit demokratisch wiedergeboren.

An beiden Revolutionen hatten Sozialdemokraten wichtigen Anteil. Ein weiterer Grund für die SPD, den Kopf oben zu halten und die Geschichtsbrille der SED und ihrer Nachfolger endlich auch in Dresden abzulegen. Ohne diese Brille stünde die sächsische SPD heute ohnehin besser da. Aber nicht nur deswegen.

Freya Klier (F.K.) schreibt auf Seite 7:

Über dem Europa des Jahres 1919 liegen Hunger und eine tiefe Erschöpfung – sowohl auf Seiten der Sieger als auch der Besiegten. Der Habsburger Vielvölkerstaat ist in seine Bestandteile aufgespalten. Und Deutschland als dem größten Verlierer (hier würde ich die Ungarn mit ihren Verlusten an zwei Drittel Land und Leuten infolge des Vertrages von Trianon 1920 mit hinzurechnen – GW) wird ein Friedensvertrag diktiert, der die Menschen quer durchs Land in Zorn und Depressionen versetzt. Aus dem Osten droht der Bolschewismus, im Westen halten die Siegermächte deutsche Gebiete besetzt. Wie soll das weitergehen? Niemand will die Verantwortung für diesen Krieg übernehmen – am wenigsten jene, die ihn zu verantworten haben. Die SPD springt in die Bresche, nun lastet alles auf ihren Schultern.“

Christopher Clark spricht diesbezüglich in seinem Weltkrieg-I-Buch von ›Schlafwandlern‹. Um im Bild Clarks zu bleiben: Ausgeschlafene schickten Schlafwandler aufs Altenteil.

Nach 1990 war das in Deutschland ähnlich. Nur dass nun statt der SPD wie nach 1918 nunmehr die Bundesrepublik mit der Treuhand zum Scheinverantwortlichen für die Misere der ineffizienten und abgewirtschafteten Wirtschaft der ehemaligen DDR aufgebläht wurde. Für viele Deutsche jeglicher Epoche scheinen oft nicht die Ursachen sondern die Folgen und deren schwierige Linderung unter Primärkritik zu stehen.

Ähnlich liegt diese Sicht ja auch bei den deutschen Rechtsextremen. Sie deklamieren ihre tausendjährige Sicht von Deutschland und sehen nicht, dass ihre Vorgänger genau dieses Land in die Katastrophe, in den Massenmord, in den Verlust der Ostprovinzen, in die Deutsche Teilung und in die Lasten der Wiedervereinigung stürzten. Ohne die NS-Herrschaft hätte es auch keine sowjetische Besetzung des alten Mitteldeutschlands und keine ›Diktatur des Proletariats‹ jenseits von Elbe und Werra gegeben.

Doch kaum ist der Waffenstillstand da, trommelt Linksaußen zum Bürgerkrieg, als sei es der seelischen Verheerung noch nicht genug. In den Wochen vor ihrer Ermordung wird die plötzlich zur Demokratie tendierende Rosa Luxemburg von ihren heißblütigen Genossen behandelt wie eine alte Tante. (F.K. S.7).

Freya Klier gräbt sich tief in die letzten hundert Jahre deutscher und sächsischer Geschichte ein. Und sie macht das auf lesenswerte Art. Die Personen treten sehr menschlich aus den Schatten der teils verschwiegenen, teils verzerrten, teils umkonstruierten Vergangenheit heraus. Zu dem Sozialdemokraten Gustav Neuring, zur Rolle der Mehrheits-SPD (MSPD) schrieb ich oben bereits einiges. Noch verdienter macht sich Freya Klier um zu Unrecht längst vergessene Frauenrechtlerinnen, die das Pech der falschen politischen Geburt hatten.

Frauen

Eine spezielle Art kriminelles Unrecht widerfuhr diesen Frauen damit in der größten DDR der Welt. Ihr einziges Vergehen war die Nichtzugehörigkeit zum kommunistisch-sozialistischen Kampfuniversum. Wer nicht dazugehörte, war rechts, war bürgerlich, war reaktionär, war (sozial-)faschistisch.

Eigentlich scheint das so heute in der Bundesrepublik wieder zu sein, oder? Wer aktuell nicht zum Mainstream von Linksaußen/Grünen/SPD-Linken/CDU-Linken usw. gehört, der ist im Deutschland des Jahres 2019 ebenfalls dem Vorwurf rechter Gesinnung unterworfen. Mit einem konstitutiven Unterschied: In der DDR war das Staatsdoktrin, in der Bundesrepublik maßen sich diese Einordnungen Teile der Zivilgesellschaft an und vollziehen das in einer monströsen medialen Weise. Die DDR verleumdete Bürger per Staatsräson. In der Bundesrepublik erledigt das von sich aus ein gewichtiger Teil der vierten Gewalt.

Marie Stritt (keine Erwähnung im ›Lexikon von A-Z‹/Bibliographisches Institut der DDR/BI, 1981), Julie Salinger (keine Erwähnung ebenda), Marie Juchacz (keine Erwähnung ebenda), Anna Geyer (keine Erwähnung ebenda), Helene Wagner (keine Erwähnung ebenda), Elfriede Wächtler (keine Erwähnung ebenda). Die Liste ist sicher unendlich länger. Aber, was sollen diese Fragen? Nicht einmal der sächsische Ministerpräsident Gradnauer fand Gnade beim ›Bibliographischen Institut‹ der DDR. Es gab ihn nicht. So wie es Frau Stritt, Frau Salinger, Frau Juchacz, Frau Geyer, Frau Wagner, Frau Wächtler in dem SED-haltungsgestärkten ›Lexikon von A – Z‹ nicht gibt. Vom ›von links‹ ermordeten Sozialdemokraten Gustav Neuring ganz zu schweigen.

Frauen. Wann ging das los, dass Deutschlands Frauen sich in ihre eigenen Angelegenheiten öffentlich einzumischen begannen? Wann und wo fanden sie sich erstmals zusammen, um ihre Stimme zu erheben und für Demokratie und Frauenrechte zu streiten? Leipzig ist nicht nur die Heldenstadt vom Oktober 1989 – sie ist bereits im Oktober 1865 die Stadt der Heldinnen: Rund 120 Frauen und auch einige Männer aus verschiedenen deutschen Staaten versammelten sich in Leipzig, um einen Frauenverein ins Leben zu rufen. Ein Vorläufertreffen gab es bereits in Erfurt, doch nun geht es richtig los … die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. … Initiatorin und auch die Seele des Vereins ist die Schriftstellerin Dr. Louise Otto Peters“ (ebenfalls keine Erwähnung im BI-Lexikon – GW) , die schon in der Revolutionszeit 1848 für die Gleichberechtigung der Frauen auf die Barrikaden ging. Dort machte sie ihre erste schmerzhafte Erfahrung mit den Revolutionären: ›Wo sie das Volk meinen, da zählen die Frauen nicht mit.‹ (F.K. S. 48/49).

Hier tut sich eine interessante Linie zu 1968 auf. Am 12. September 2018 erschien im Deutschlandfunk der Essay von Rebecca Hillerauer Beginn der neuen Frauenbewegung. Folgende Zitate werfen ein beklemmend ähnliches Licht auf die Szene von 1968 wie auf die von 1848:

Helke Sanders Rede ist kaum vorbei, als die Männer schon zum nächsten Tagungspunkt übergehen wollen. Nun schlägt die Stunde von Sigrid Rüger: In grünem Kleid und hochschwanger greift sie zu den mitgebrachten Suppentomaten und trifft auf dem Podium Hans-Jürgen Krahl, den Cheftheoretiker des SDS.
Damm-Rüger: »Nun war ja der Teufel los. Dieser Tomatenwurf, der war im Grunde genommen der Funken im Pulverfass. Weil ich habe gemerkt an den anderen Frauen, wie die aufgesprungen sind und wie die dazwischen gerufen haben und uns unterstützt haben, dass das jetzt endlich auf die Tagesordnung muss. Es wurde dann noch anderthalb Tage lang über das Verhältnis der SDS-Genossen zu ihren Frauen und zu den SDS-Genossinnen diskutiert. Das hat deutlich gezeigt, das war genau das Richtige.«
Der Tomatenwurf gilt seither als Initialzündung für die Frauenbewegung in der alten Bundesrepublik. Sigrid Rüger selbst versuchte immer wieder, diesen Mythos zu relativieren. Die Frauenbewegung sei nicht urplötzlich aus dem Nichts erschienen, sondern längst in Gang gewesen, schrieb sie in einem Beitrag 1988. Ihre Tomaten hätten der Bewegung lediglich den fälligen Push gegeben. … Selbstverständlich dachte auch keine 68erin daran, von sich als Studentin zu sprechen. Eva Quistorp: »Den Ausdruck ›Studentinnen‹ gab es damals ja gar nicht: Weibliche Studenten. Oder Studenten, die wie ich auch Frauen waren.«

Von Eva Quistorp und Mitstreiterinnen zurück zur Powerfrau Marie Stritt und den damaligen Frauenrechtlerinnen. Ein Film darüber muss her! Die Lebenswege dieser Frauen sind außerordentlich und geben das Auf und Ab eines Jahrhunderts eindrucksvoll wider. Politisch zum Vergessen verurteilt und Hundert Jahre später doch wieder präsent.

Freya Klier zieht ihre Leserschaft in die Zeit, lässt das Sittenbild jener Jahre vor unseren Augen auferstehen, zum Mitfiebern einladen und für die Geschichtsverdreher zunehmend Verachtung entwickeln.

Im Deutschlandfunk-Interview sagte Freya Klier am 05.10.2018 unter der Zwischenüberschrift Verdienste der Sozialdemokraten in Dresden auf die Frage von Andrea Gerk: »Das wollte ich Sie auch fragen, wie das denn eigentlich transportiert wurde in der damaligen Zeit, also diese Epoche, die Sie sich jetzt da angeschaut haben?«

Klier: »Völlig ideologisch. Man kann es sehen an der Frauengeschichte. Ich habe die Geschichte des Frauenwahlrechts auch untersucht. Und auch da, muss ich sagen, haben wir falsche Namen gekriegt, die gar keine Rolle spielten eigentlich, und das ein halbes Jahrhundert, muss man das ja dann nachquatschen, weil man es nicht anders kennt, steht heute auch noch so in den Geschichtsbüchern, und die wirkliche, also von den Frauen, die wirkliche, die es gemacht hat, die alles nicht nur in der Hand hatte, sondern einen so ungeheuren Charme hatte, dass sie alle auch eingebunden hat, außer die Linksradikalen und die Rechtsradikalen – die haben da auch nicht mitgemacht –, ist Marie Stritt gewesen. Eine Frau eigentlich aus Siebenbürgen, die verheiratet war mit einem weltberühmten Opernsänger, der landete dann in Dresden, der kommt auch woanders her, und sie war Schauspielerin, die hatte dann da ein Engagement, und von dort aus geht das also los, aber da hat die schon 30 Jahre lang Zusammenziehen von verschiedenen Gruppierungen, Frauengruppen deutschlandweit …, und mich hat empört, die kennt gar niemand. Also die ist jetzt entdeckt worden von jungen Forscherinnen in Dresden. Die haben auch eine Straße nach ihr benannt in den 90er-Jahren, eine kleine, aber selbst ich habe den Namen noch nie gehört, obwohl ich damit eigentlich arbeite. Das ist ein Punkt.«
Doch plötzlich, im Herbst 1918, spitzt sich die Situation im Deutschen Reich zu: Rasante Momente einer Demokratisierung setzen ein, sie gehen zunächst mit einer Umbildung der Reichsregierung in eine parlamentarisch-demokratische Mehrheitsregierung einher: Am 3. Oktober 1918 wird Max von Baden zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten berufen. Er soll das Kriegsende einfädeln … Auf Druck der obersten Heeresleitung übermittelt er am 5. Oktober ein Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow auf Basis von dessen 14-Punkte-Plan. Frauen spielen jetzt scheinbar überhaupt keine Rolle, doch die SPD-Frauen um Marie Juchacz und die bürgerlichen Frauen um Marie Stritt erspüren die Temperatur und ergreifen die Initiative: In einer konzertierten Aktion verschaffen sie ihrer Stimmrechtsinitiative Gehör gegenüber der neuen Reichsregierung und übersenden dem neuen Reichskanzler Max von Baden, … , ein Schreiben, in dem sie fordern, bei der Neugestaltung Deutschlands auch die Interessen und Ansprüche der Frauen zu berücksichtigen. … Das Frauenbündnis … hat inzwischen deutlich an Breite gewonnen: In nie gekannter Einigkeit unterschreiben neben Marie Juchacz …, Marie Stritt …, Anita Augspurg …, Gertrud Hannah …, Gertrud Bäumer …, Lida Gustava Heymann …, Helene Lange …, Klara Mende.“« (S. 71-73).

Das Frauenwahlrecht nimmt unwiderstehlich seinen Weg.

Sachsen

Zum ›Freistaat Sachsen‹. Warum nicht? Die Bayern machten es am 8. November 1918 vor. Freistaat Bayern statt einer parlamentarischen Monarchie in Bayern. Die handelnden Akteure in Sachsen folgten ihnen am 10. November. Es ist eine Staatsgründung sozialdemokratischer Handschrift. Die daraus folgende Revolutionsregierung bilden je drei Politiker von USPD und SPD.

Im Laufe des 10. November wird hoch über dem Georgstor, wo bisher die Königsflagge wehte, die rote Fahne gehisst. Sie symbolisiert den Aufbruch in eine neue, republikanische Zeit. Die Zäsur ist gewaltig. Doch was kommt jetzt? Keiner weiß es so genau . F.K. S. 92).

Die Revolutionsregierung, die die Bezeichnung ›Rat der Volksbeauftragten‹ führt ist tief gespalten. Streitpunkt zwischen USPD und SPD ist sofort die Frage, was unter ›Revolution‹ zu verstehen sei. Die Vertreter der USPD, darunter ›Vorsitzende der Volksbeauftragten‹ und damit der erste Ministerpräsident Richard Lipinski/USPD, wollen sich nicht mit der »begonnen Demokratisierung und Demokratisierung des Landes zufrieden geben« (F.K. S.91). Die Vertreter der SPD um Dr. Georg Gradnauer bevorzugen »geordnete Reformen« in einer parlamentarischen Monarchie als Übergang, um das »Chaos einer allgemeinen Auflösung« abzuwenden.

Doch das ist nun obsolet. Das gegenseitige Misstrauen aber bleibt hoch. Die »Internationalen Kommunisten« um den marxistischen Theoretiker Otto Rühle gar haben sich inzwischen aus dem Arbeiter- und Soldatenrat zurückgezogen und werfen der SPD und der USPD gleichermaßen vor, das ›großangelegte Täuschungsmanöver der gegenrevolutionären Kräfte zur Rettung der vom Untergang bedrohten kapitalistischen Gesellschaft zu unterstützen‹. Durch ihren Verzicht rücken Ernst Schulze von der USPD und Gustav Neuring von der SPD nach. Letzterer hat kein halbes Jahr mehr zu leben. (F. K. S.91).
Und wo bleiben die bürgerlichen Kräfte der Gesellschaft? Die ›Dresdner Neuesten Nachrichten‹ schreiben am 17. November 1918, es lasse sich nicht leugnen, dass das deutsche Bürgertum während der ersten Tage der Revolution wie erstarrt zur Seite stand und keine geistige Brücke fand zu dem Geschehenen. (F.K. S.92).

Das Bürgertum wird in der kommenden Zeit ohnmächtig zuschauen, wie Radikale von links und Radikale von rechts die längst nicht stabile Demokratie in Bedrängnis bringen. Die Vernunft lag damals stark bei der SPD, eigentlich MSPD zur besseren Unterscheidung mit der USPD. Das ›M‹ stand hier für die ›Mehrheit‹ innerhalb der zerklüfteten sozialdemokratischen Bewegung.

Knapp 15 Jahre sollten die Radikalen von links und rechts noch benötigen, um die Weimarer Republik zu beseitigen. Eines der ersten prominenten Todesopfer dieser Entwicklung war der SPD-Minister Gustav Neuring. Die Opferliste wurde mit den Jahren länger und länger. Kommunisten und linke USPD-Parteigänger nahmen wenig später Stalins Sozialfaschismusstrategie auf die Sozialdemokratie gemünzt in ihr antidemokratisches Repertoire auf, für die Nationalsozialisten waren die Sozialdemokraten Vaterlandsverräter. Beiden Extremen war der Hass auf die Sozialdemokratie als Hauptträgerin der Weimarer Demokratie eigen.

Mit ihrem Hass auf die Demokratie ebneten die Kommunisten 1925 Paul von Hindenburg, dem späteren Kanzler-Hitler-Macher, für den antidemokratischen Reichsblock den Weg zum Reichspräsidenten. Ernst Thälmann zog damals im zweiten Wahlgang nicht zurück und verhinderte so wahrscheinlich den Sieg von Wilhelm Marx für den ›demokratischen Volksblock‹. Am 26. April 1925 erreichten Hindenburg 48,3 Prozent, Marx 45,3 Prozent, Thälmann 6,4 Prozent.

Das ging sogar soweit, dass sich Kommunisten und Nationalsozialisten nicht scheuten, den Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932 gemeinsam zu organisieren. Ulbricht und Goebbels saßen zusammen auf dem Podium.

Gustav Neuring

Freya Klier schreibt Gustav Neuring aus der Vergessenheit heraus:

April 1919: Die Bluttat von Dresden – Am Sonnabend, dem 12. April 1919, kommt es in Dresden zu einem Ereignis, das einen großen Schatten auf das erste Friedensjahr wirft und die politische Macht der sächsischen Sozialdemokratie schon wieder zu kippen droht. Gustav Neuring, amtierender Minister für Militärwesen, wird von einer außer sich geratenen Menge aus dem Ministerium gezerrt, schwer misshandelt und dann von der angrenzenden Friedrich-August-Brücke in die Elbe hinabgestoßen. Ein Zielschießen auf seinen Kopf beginnt, bis der Minister im Wasser versinkt. Wer ist Gustav Neuring – und wer hatte Interesse daran, ihn zu töten? Der Vierzigjährige mit der großen dunklen Hornbrille … ist langjähriger Sozialdemokrat und seit 15 Jahren Gewerkschaftsmitglied. Nach der Revolution … Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates … Volksbeauftragter … Minister für Militärwesen. Und die zügige Umbenennung des Kriegsministeriums in »Ministerium für Militärwesen« … beruhte auf Neurings Initiative. Doch erreichen solch feine Unterschiede bereits die über Jahre von Kriegsrhetorik zugedröhnte Bevölkerung? Offensichtlich nicht: An dem Sozialdemokraten klebt der »Kriegsminister« – auch hundert Jahre später. (S.181/182).
Wer hinter dem Mordkomplott steckt, prangt am Montag, dem 14. April 1919, unmissverständlich auf der Titelseite der ›Dresdner Volkszeitung‹: Die Schändung der Revolution – Es ist kein Zweifel, daß wir uns in dem furchtbaren Machtkampf, der von bolschewistischer Seite begonnen worden ist, von unabhängiger Seite begünstigt und von beiden Teilen geführt wird mit allen Mitteln von Gewalt und niederträchtigster Kriegslist. … In diesen Zusammenhang gehört auch der blutige Sonnabend in Dresden 1919, der mit einer Demonstrationsversammlung der Kriegsbeschädigten begann und mit der scheußlichen Hinschlachtung unsres Genossen Neuring seinen widerlichen Höhepunkt erreichte. (F.K. S.182/183).

Freya Kliers folgende Schilderung des Prozesses lohnt die Lektüre. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Betrachtung des höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen Gedächtnisses bezüglich der Morde an den Kommunisten Luxemburg und Liebknecht und dem Mord am Demokraten Neuring. Zwei Kommunisten als Gegner der Demokratie wurden im Verlauf der letzten hundert Jahre zu fragwürdigen Säulenheiligen aufgebläht und ein Sozialdemokrat, dem Diktatur und Terror fremd waren, ist tatsächlich beinahe restlos vergessen?

Kann das gut gehen, das mit Freiheit und Demokratie, wenn wir Demokraten ihren Gegnern auch in der Erinnerung zu opfern bereit sind? Freya Klier stellt der heutigen SPD die alte Frage: »Wie hältst Du es mit Gewalt, wenn es deiner Idee zu nützen scheint?«

Solange es Sozialdemokraten gibt, die mit Antidemokraten wie Luxemburg/Liebknecht mehr anfangen können als mit Friedrich Ebert oder Gustav Neuring, genauso lange ist diese Frage nicht geklärt.

Im September 2018 forderte eine enge Mitarbeiterin der damaligen SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden im Kampf gegen rechts die Einbindung der ›Antifa‹.