von Holger Czitrich-Stahl

Weshalb registrieren wir in den ›neuen Bundesländern‹ zwei- bis dreimal so viele rechtsradikale bzw. neonazistische Straf- und Gewalttaten als in der ›alten‹ Bundesrepublik? Was macht eine offenbar größere Anzahl von Menschen aufnahmebereiter für antisemitische, antimigrantische und xenophobe Propaganda? Gibt es strukturelle Ursachen innerhalb der Entwicklung der DDR, gerade in ihrem letzten Jahrzehnt?

Harry Waibel, geb. 1946 im badischen Lörrach, gehört zu den namhaftesten Forschern und Publizisten zu diesem Problemspektrum. Er promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin bei Wolfgang Benz und Reinhard Rürup und hat sich seit 1996 in zahlreichen Büchern, Aufsätzen etc. zu Wort gemeldet. Wer verstehen will, warum ›der Osten‹, also die ehemalige DDR bzw. ein nicht geringer Teil der in ihr und durch ihren Einfluss Sozialisierten, anders tickt als ›der Westen‹, kommt an Harry Waibels Analysen und Urteilen nicht vorbei. Ihn zu übergehen wäre eine sträfliche Unterlassungssünde. Dass der mörderische NSU seine Blut- und Schreckensspur von Thüringen und Sachsen aus hinterlassen konnte und niemand darauf vorbereitet zu sein schien, hat auch damit zu tun, dass man die antifaschistische Selbststilisierung der DDR zu unhinterfragt akzeptiert hatte, ohne auf das Auseinanderklaffen zwischen offiziellem Diskurs und brauner Subkultur zu schauen. Viele mögliche Zugänge blieben während der Existenz der DDR potenziell interessierten Wissenschaftlern verschlossen, eine Vielzahl von Dokumenten, die Waibel im Laufe seiner Forschungsarbeit erschloss, trug den Stempel ›streng geheim‹. Zweck und Folge dieser Selbstabschließung auch in dokumentarischer Hinsicht benennt Waibel unmissverständlich. Es ging um den Zusammenhalt der Dienste und Behörden und um die Aufrechterhaltung des Dogmas bzw. de facto des Selbstbetruges der DDR, der Westen sei schuld, allein sein Einfluss schüre den Neonazismus. So blieb der Öffentlichkeit auch noch zu DDR-Zeiten verborgen, dass es ca. 9000 einschlägige Propaganda- und Gewalttaten gab, die tausende von Verletzten und mindestens 10 Tote hinterließen und in über 400 Kommunen der DDR verübt wurden. (S. 10). Dazu trugen sowohl lückenhafte historische Kenntnisse (sic!) als auch tradierter Alltagsnationalismus und die diese Ressentiments ergänzende antizionistische Außenpolitik ein Gutstück bei. Zu registrieren waren zudem 145 Schändungen jüdischer Friedhöfe, was ein klarer Beleg für die Existenz von Antisemitismus ist. Als eine ideologische Brücke allerdings sieht Waibel die innerfamiliäre Tradierung rechtsradikalen Bewusstseins, die sich ab ca. 1980 in wachsender Begeisterung für die Hitlergeburtstage kenntlich machte, als sich aus diesen vielgestaltigen einzelnen Faktoren eine gemeinsame neonazistische Welle zu bilden begann, die von der Volkspolizei auch im Kontext der Montagsdemonstrationen registriert wurde. Summa summarum: Die Neonazis gingen erfolgreich in der Einheitsbewegung der Jahre 1989/90 auf, gliederten sich während und nach der Wiedervereinigung in die neonazistische Organisationswelt der BRD ein und erweiterten deren Massenbasis – übrigens auch im gesamteuropäischen Kontext – erheblich. (S.14) Auf dieses Szenario hätten die Nazis seit dem 8. Mai 1945 mehr oder weniger zielgerichtet hingearbeitet und sich die jeweiligen Bedingungen in der BRD und der DDR zunutze gemacht, teilweise grenzübergreifend. Was wir seit der deutschen Einheit endgültig als ein gesamtstaatliches Problem vorfinden, eine militante und aktivistische Szene mit zunehmendem Massenanhang, sieht Waibel als »die braune Saat«, die aufgegangen ist. Die Politik der SED gegenüber den Neonazis in der DDR sieht er als gescheitert an und benennt dafür als Zeugen den ehemaligen Minister für Nationale Verteidigung der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann. Resigniert habe dieser in den Achtzigern festgestellt, dass selbst Kommandeure und Parteifunktionäre offene neonazistische Umtriebe in den Sicherheits- und Streitkräften der DDR verharmlosten und so den offiziellen Antifaschismus der DDR delegitimierten. (S. 15)

Unter den vielen Aspekten der Studie Waibels soll nun gerade das Auftreten des Neonazismus in der Volkspolizei und in den bewaffneten Organen näher betrachtet werden. In diesem Teilkapitel benennt Waibel einige exemplarische ›Vorkommnisse‹ seit 1950, die das zumindest unterschwellige Vorhandensein neonazistischer Haltungen in der Volkspolizei belegen. Selbst Uniformierte trugen zur Gewaltanwendung bei, so bei einer Schlägerei zwischen Polizisten und libyschen Offiziersschülern in einer Stralsunder HO-Gaststätte am 21. Dezember 1982. Die Vorgesetzten hätten den Bericht entsprechend zu Lasten der Libyer abgefasst und auf diese Weise ihr eigenes verstricktes Personal gedeckt. Bei der Polizeibereitschaft in Basdorf bei Berlin existierte sogar eine Einheit, die sich intern als ›SS-Einheit‹ verstand und erst 1974 ausgehoben wurde. (S. 301) Doch die Mehrzahl der angeführten Fälle ereignete sich in den Jahren nach 1985. Wo sie nicht disziplinarrechtlich vertuscht oder weggewischt wurden, erfolgten eher milde Bestrafungen der Täter wie Degradierungen oder einzelne Entlassungen bzw. Parteiausschlüsse (!) oder Anklagen wegen ›Rowdytums‹. Vor allem aber blieben diese Fälle unter der Oberfläche.

Eine Latenz nazistischer Einstellungen findet sich mindestens so stark in den Streitkräften der DDR wie bei der Volkspolizei wieder. Bereits in den sechziger Jahre häuften sich einzelne oder kollektive Sympathieäußerungen über den Faschismus oder über Hitler, es wurden auch fremdenfeindliche Übergriffe im Dienst aktenkundig. Man ist tatsächlich frappiert über das Ausmaß und die (Verbal-)Radikalität der Delinquenten. Erschreckend ist vor allem, dass diese Fälle von offenem Rassismus oder Faschismus in einem Umfeld möglich gemacht wurden, das doch gerade von seiner offiziellen antifaschistischen Leitidee zu leben glaubte, nämlich von der Verteidigung der DDR gegen die Bedrohung durch den imperialistischen, mitunter als ›faschistisch‹ bezeichneten Westen. Die Tradierung nazistischen Gedankenguts kann in diesen Fällen nachvollzogen werden, blickt man auf die Struktur der Nationalen Volksarmee: »Solange die NVA eine Freiwilligenarmee war, kamen neonazistische und rassistische Erscheinungen im Grunde genommen nur vereinzelt vor. Mit der Einführung der Wehrpflicht ab 1962 fand sich in der Armee ein repräsentativer Durchschnitt des männlichen Teils der Gesellschaft wieder.« (S. 310) Und das hieß auch Hitlergruß, Sieg Heil-Rufe, Schmierereien, Hitler-Fanclubs etc. Bis hoch ins renommierte Wachregiment »Feliks Dzierzynski« reichten diese Strukturen hinein. (S. 308) Und auch hier wurden die angezeigten Vorfälle eher bagatellisiert als umfassend ermittelt und rechtswirksam beurteilt. Die insgesamt noch zahlreicher als bei der Volkspolizei dokumentierten und hier publizierten Fälle von Nazismus, Rassismus, Antisemitismus, Judenhass, Russenverachtung und Menschenverachtung schlechthin lassen einen in einen Abgrund schauen, der schaudern lässt. Allein bei NVA und MfS kann man aktenkundig von rund 700 neonazistischen Ereignissen zwischen 1965 und 1980 ausgehen, seit den achtziger Jahren mit steigender Tendenz, wie auch schon bei der Volkspolizei. (S. 329) Um so mehr bleibt es unverständlich, dass es im Strafrecht der DDR keine Statistiken über Militärstrafdelikte gab. Was offenbar nicht sein durfte, sollte auch vom Recht her nicht erfasst und beurteilt werden. Und so gipfelte der um sich greifende nazistische Ungeist 1989 in Erkner im Absingen des Horst-Wessel-Liedes und dem gegenseitigen dienstlichen Grüßen mit SS- Diensträngen. (S. 334) Und die von Harry Waibel ausgeführten Fälle wollen nicht enden. Die von ihm aufgedeckten und wie in einem Plädoyer offen gelegten Spuren schließen nicht grundlos bei den Mordtaten des NSU und dem unbeschreiblichen behördlichen Umgang mit ihnen. Und er plädiert für einen Abbau autoritärer Strukturen und kulturellen Denkbilder, sozial und/oder rassistisch aufgeladener Feindbilder und Handlungsmuster selbst: »Das Thema ist Selbstausbildung und Selbstbestimmung«. (S. 365) Autoritäre Strukturen in Staat und Gesellschaft und die Exklusion der Vertragsarbeiter beispielsweise förderten diese Bedingungen für Rassismus und Neonazismus.

Ob das allein hinreicht kann bezweifelt werden. Was wir brauchen ist auch eine gemeinschaftliche Selbstaufklärung, so wie sie Waibel vornimmt, indem er gnadenlos der ehemaligen DDR diesen Spiegel ihres zunehmenden Scheiterns am Neonazismus vorhält. Wir brauchen kein stilisiertes DDR-Bild, so wie es der Kalte Krieg auf beiden Seiten der Grenze bevorzugte. Wir brauchen die offene und vorbehaltlose Auseinandersetzung mit der DDR, wie sie tatsächlich war. Das betrifft ihre akzeptablen genau so wie ihre dunklen Seiten.