von Gerhard Engel
Den Titel für ihren von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Sammelband liehen sich die Herausgeber bei Eric Hobsbawm, der den Ersten Weltkrieg mit diesem Begriff gekennzeichnet hatte. Doch in den achtzehn durchweg lesenswerten Beiträgen des Bandes, zumeist hervorgegangen aus wissenschaftlichen Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wird weit mehr abgehandelt als der Brutalisierungseffekt dieses bis dahin unbekannten industrialisierten Massenmordens. Denn sie ziehen eine Zwischenbilanz der seit 2014 geführten Debatten über Kriegsschuld und Verantwortung, verfolgen Fortwirkungen des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des Zweiten und bereichern unsere Kenntnisse über das Geschehen auf Kriegsschauplätzen, die seit 2014 in den Debatten über den ›Großen Krieg‹ weniger Beachtung fanden als die Fronten in Ost- und Westeuropa.
Teil I der Aufsatzsammlung trägt den Titel Erinnerung und geschichtspolitische Deutung. Wolfgang Kruse (S. 14-30) setzt sich – unvollendete Thesen des 2015 verstorbenen Arno Klönne mit Zustimmung oder im Widerspruch nutzend – auf differenzierende Weise mit den Grundthesen der Bücher Die Schlafwandler von Christopher Clark und Der große Krieg von Herfried Münkler auseinander. Kruse zeigt die gravierenden Unterschiede zwischen beiden Autoren, hebt aber vor allem auf ihre Gemeinsamkeit ab: die Relativierung der Verantwortung deutscher Politik für die Auslösung des Weltkrieges. Die Zusammenfassung fundierter Kritik an beiden Büchern mündet in den Nachweis, dass Revisionismus in der Kriegsschuldfrage einen gezielten geschichtspolitischen Zweck erfüllt. Die deutsche Verantwortung für den Weltkrieg wird klein geredet, so dass die Deutschen, nicht minder verantwortlich für die Weltkriege des 20. Jahrhunderts als andere, den moralischen Anspruch geltend machen können, »mit gutem Gewissen ihre prosperierende Stellung als wirtschaftliche und politische Vormacht in Europa zu genießen« (S. 21).
Jürgen Angelow (S. 31-56) differenziert zunächst zwischen unvermeidlichen Revisionen des Geschichtsbildes durch Innovationen infolge des Forschungsfortschritts einerseits und dem geschichtspolitischen Missbrauch der Geschichtswissenschaft für »veränderte Orientierungs- und Legitimationsangebote« andererseits. Angelow zeichnet die forscherischen und publizistischen Wege nach, auf denen der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die Kriegsschuldfrage untersucht und diskutiert wurden. Dabei polemisiert der Autor im Unterschied zu Kruse weder gegen Clark noch gegen Münkler. Er kommt zu dem Schluss, dass kein einziger am Kriegsausbruch beteiligter Staat von Mitverantwortung oder ›Schuld‹ in moralischem Sinne freigesprochen werden könne. Diese Sicht findet er in der Beurteilung des Krieges durch die Linken in der internationalen Arbeiterbewegung bestätigt. Angelow verweist auf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Wladimir Iljitsch Lenins Einschätzung des Krieges als allseitig imperialistisch. Sie suchten nicht nach einem einzigen Schuldigen, sondern fragten nach den dem kapitalistischen Gesellschaftssystem immanenten Kriegsursachen und deren perspektivischer Überwindung. Soweit so richtig, aber sie, vor allem Karl Liebknecht, sahen auch eine besondere Kriegsschuld des deutschen Imperialismus, dem der ›Platz an der Sonne‹ noch fehlte und der über eine besondere Motivation für einen Eroberungskrieg um Weltmachtgeltung besaß. Angelow meint, die seit Clarks Schlafwandler geführte Kriegsschulddebatte habe die Deutschen »von einem Teil ihrer historischen Last befreit« und ihnen die Möglichkeit entzogen, »sich durch einen Sonderstatus aus militärischen Konflikten der gegenwärtigen Welt heraushalten zu können« (S. 54). Die deutsche Außenpolitik müsse nun die Entscheidung pro oder contra Interventionismus selbst abwägen und entscheiden, sie werde ihr nicht mehr durch die Last der Geschichte abgenommen. Abschließend verweist Angelow auf friedensgefährdende Parallelen zwischen der Weltsituation vor 1914 und der Gegenwart, die gebieten, Gewaltdrohungen zu unterlassen und bewaffnete Gewalt bei der Lösung von Konflikten prinzipiell zu ächten.
Vergleicht man die Beiträge von Kruse und Angelow, so findet sich mancher Ansatz, über Kriegsursachen, Verantwortung für den Frieden und Kriegsschuld sowohl geschichtswissenschaftlich als auch geschichtspolitisch weiter zu debattieren.
Den ersten Teil des Bandes schließt Salvador Oberhaus mit seiner Untersuchung der deutschen Politik in der Julikrise 1914 (S. 57-73). Seine kritische Analyse der Debatte über die Verantwortung für den großen Krieg führt ihn zur Forderung an die in der marxistischen Wissenschaftstradition stehende Historiografie und Publizistik, die Forschungen zu den sozialökonomischen Ursachen des Krieges zu forcieren. Die bisherige Debatte behandele weniger die systemischen Kriegsursachen als die Verantwortlichkeiten oder Schuldanteile der Eliten der kriegführenden Staaten. Gestützt auf Gerd Krumeichs Untersuchung der Juli-Krise belegt der Autor zugleich die wesentliche Mitverantwortung des deutschen Kaiserreichs an der Inszenierung des Krieges.
Der Aufsatz von Oberhaus ist eine deutliche und beweiskräftig vorgetragene Warnung vor den öffentlichkeitswirksamen Impulsen des von Clark und Münkler ausgehenden Potentials geschichtspolitischen Revisionismus. Sie seien von der politischen Klasse in Deutschland und der Mehrheit der Medien geradezu euphorisch aufgegriffen und als Argumentation für die Notwendigkeit und Möglichkeit genutzt worden, Schuldkomplexe der Nation endlich abzubauen und sich mit der breiten Brust einer wiedererwachenden Großmacht neuer weltpolitischer Verantwortung zu stellen. Dies gelte nicht nur in Bezug auf 1914, sondern auch für 1939, zumal der Aufstieg des Hitlerfaschismus und der Zweite Weltkrieg nicht ohne den Ersten Weltkrieg und seine Folgen denkbar sind.
Diese »langen Linien: Erster Weltkrieg, Faschismus und Nationalsozialismus« stehen im Mittelpunkt des II. Teils der Aufsatzsammlung. In sieben Beiträgen geht es um Zusammenhänge, die in den Debatten zum Centenaire von 1914 weniger Gegenstand von Veröffentlichungen und Veranstaltungen waren als Juli-Krise und Kriegsbeginn 1914. Die Herausgeber sehen zurecht den Ersten Weltkrieg als Impulsgeber für die Entwicklung radikaler nationalistischer, antidemokratischer und militaristischer Weltbilder.
Marcel Bois (S. 76-94) widmet sich der Frage, warum das Ende des Ersten Weltkrieges und die Revolution 1918/19 so viel weniger Gegenstand der Erinnerungskultur sind als der Kriegsbeginn. Er gibt zugleich einen umfassenden Überblick über zahlreiche Projekte und Aktivitäten zur Vorbereitung auf den 100. Jahrestag der deutschen Revolution.
Ángel Alcalde (S. 95-112) behandelt die Debatte über die kulturgeschichtlich geprägte These der »Brutalisierung« von Menschen und Politik durch den Ersten Weltkrieg als Ursache für die Entwicklung zum deutschen Faschismus. Er kommt zu dem Fazit, das analytische und deskriptive Potential des Brutalisierungskonzepts habe sich erschöpft. Die Historiker sollten daher neue »heuristische Werkzeuge« entwickeln, um Verbindungen zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten und die Genesis des Faschismus in Europa und seinen Völkermord zu erklären (S. 112). Es sei hinzugefügt: Bewährte ›alte‹ Methoden materialistischer Historiographie sollten dabei nicht unterschätzt werden, wie das letzte Werk des 2016 verstorbenen Historikers Kurt Pätzold Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz zeigt.
Interdisziplinäre Sichten kommen auf fruchtbare Weise zur Geltung, wenn sich Gudrun Brockhaus (S. 113-128) sozialpsychologisch mit den nationalsozialistischen Weltkriegsmythen auseinandersetzt. Gleiches gilt für den Beitrag von Yves Müller (S. 129-142), der die Männlichkeitskonstruktionen der SA untersucht und ihre Wurzeln in einem ikonographischen Kult um den Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges aufdeckt. Bella Szwarcman-Czarnota (S. 143-156) setzt einen literaturwissenschaftlichen Akzent, indem sie die Widerspiegelung des Weltkriegs in der jiddischen Prosa und Lyrik beleuchtet.
Angeregt durch Arbeiten Kurt Pätzolds, untersucht Anke Hoffstadt (S. 157-175), vom Fallbeispiel des täglichen Kriegstotengedenkens am Menenpoort in Ypern ausgehend, Erinnerungspolitik und Gedenkpraxis nach dem Ersten Weltkrieg. Der Aufsatz ist von außerordentlicher Aktualität angesichts des von der AfD ausgehenden Geschichtsrevisionismus in Bezug auf angebliche Leistungen des kaiserlichen Heeres und der Nazi-Wehrmacht. Hoffstadt stellt die Gedenkpraxis mit den Begriffen Nation, Vaterland und Ehre dem politischen Erfordernis einer grenzüberschreitenden Verständigung für ein Europa in Frieden gegenüber. In den meisten Zeremonien werde der Kriegstoten gedacht, die für ihr jeweiliges Vaterland starben. Nach Ursachen oder Verursachern des Krieges werde selten gefragt. Der Beitrag bekräftigt Kurt Tucholskys Wort, Soldaten des Ersten Weltkrieges seien nicht für, sondern durch das Vaterland gestorben.
Dem Thema Erinnerungskultur ist schließlich auch der ausführliche Bericht von Pieter Trogh (S. 176-198) über das Jahrhundertgedenken im In Flanders Fields Museum (IFFM) in Ypern zuzuordnen.
Der III. Teil des Bandes berührt ein Thema, das die Herausgeber zurecht als Desiderat in der bisherigen aktuellen Debatte bezeichnen. Es dominiert die Geschichte der kriegführenden Eliten. Von ihr ist die Frage verdrängt: »Was dachten und taten… die Arbeiter, Frauen, Jugendlichen, kritischen Intellektuellen – und nicht zuletzt die politische Linke mit ihrem Kern Arbeiterbewegung« angesichts des Krieges? Gefragt werden müsse nach widerständigem Verhalten gegen den Krieg, nach dessen Auswirkungen auf die politische Linke während des Krieges und in der Nachkriegszeit (S. 10).
Axel Weipert (S. 200-226) widmet sich der Geschichte des Widerstandes gegen den Krieg und hebt die Arbeiterbewegung als »ebenso zentralen wie vielschichtigen Akteur« hervor. Das methodische Mittel seiner Abhandlung ist ein aufschlussreicher Vergleich zwischen den Antikriegsaktionen in Berlin und Wien.
Holger Politt (S. 227-231) erinnert an die Positionen Rosa Luxemburgs zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er verweist auf die aktuell veränderte Lage und fragt nach der kritischen Aufhebung des Luxemburgschen Erbes im heutigen Kampf um den Frieden.
Irina Seliśnik, Anna Cergol Paradiž und Žiga Koncilija (S. 232-250) untersuchen die Frauenproteste gegen Hunger und Krieg im slowenischen Österreich-Ungarn, besonders jene in Triest und Lubljana. Sie zeichnen ein interessantes Bild der Gemengelage zwischen spontanen Lebensmittelunruhen, Friedenskampf und nationaler Befreiungsbewegung der Südslawen gegen die Habsburgermonarchie.
Miloš Baković Jadžić (S. 251-192) verdeutlicht die Haltung der serbischen Sozialdemokratie während der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges. Er skizziert die Entwicklung der von den Antikriegsbeschlüssen der II. Internationale bestimmten Positionen, die von der durch Dimitrije Tucović geführten Serbischen Sozialdemokratischen Partei bei Kriegsbeginn eingenommen wurden. Dies ist für den deutschen Leser von besonderem Interesse, denn in seiner muttersprachlichen Literatur findet er die Serben zumeist nur beiläufig erwähnt, wenn die kleine Gruppe der internationalen Kriegskreditverweigerer vom August 1914 um die russischen Bolschewiki behandelt werden.
Michael Pesek (S. 273- 297) führt die Leser auf den afrikanischen Kontinent. Er schildert informationsreich das Schicksal der afrikanischen Träger, die wegen fehlender Infrastruktur und mangelnder technischer Mobilität zu Tausenden gezwungen waren, in opferreichen Fußmärschen für die verfeindeten Kolonialtruppen Waffen, Munition und Bagage zu schleppen.
Malte Meyer (S. 298-314) ist Verfasser der wohl grundsätzlichsten Kritik an der Führung der SPD, welche die Partei zunächst ins reformistische Fahrwasser lenkte und ab dem 4. August 1914 zu einem politischen Hilfsbund für die imperialistische Kriegsführung degradierte. Im November 1918 schließlich schloss die Mehrheitssozialdemokratie ein Bündnis mit dem preußisch-deutschen Militarismus, das wesentlich zum Ausbremsen weitergehender Fortschritte der Revolution beitrug und damit die Stabilität der errungenen bürgerlich-parlamentarischen Demokratie gefährdete. Meyer argumentiert im Grundsätzlichen mit Rosa Luxemburg und verwendet zur Charakterisierung der sich im Kaiserreich wandelnden Sozialdemokratie den von August Siemsen geprägten Begriff des »Sozialmilitarismus«. Unter diesem Aspekt behandelt er auch so Verschiedenartiges wie den Roten Frontkämpferbund der KPD, die »Eiserne Front« und die eine Militarisierung der Gesellschaft fördernden Aktivitäten der Gewerkschaften. Der Begriff ›Sozialmilitarismus‹ eignet sich sicher zur Kennzeichnung bestimmter Seiten der Organisationsdisziplin der Arbeiterorganisationen im preußisch-deutschen Kaiserreich, so wie der Begriff ›Sozialimperialismus‹ jene bezeichnet, die die sozialistische Wortradikalität pflegten, aber objektiv die Ziele des Imperialismus bedienten. Ob aber der Begriff ›Sozialmilitarismus‹ so undifferenziert und auf die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen bezogen relativ pauschal als methodisches Untersuchungsinstrument angewendet werden kann, bedarf der weiteren Debatte.
Joachim Schröder (S. 315-330) verfolgt die sich nach der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem Zusammenbruch der II. Internationale 1914 vollziehenden Prozesse zur Wiederbelebung bzw. Neugründung internationaler Zusammenschlüsse von Arbeiterparteien: die Reaktivierung der II. Internationale durch rechtssozialistisch dominierte Parteien, die Entstehung einer neuen Kommunistischen (III.) Internationale aus den kürzlich entstandenen kommunistischen Parteien und Teilen der linken Flügel sozialistischer Parteien sowie die zwischen diesen Polen bald zerriebene Internationale Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien.
Schließlich behandelt Julian Nordhuis am Beispiel des bis heute virulenten Foto-Buches von Ernst Friedrich Krieg dem Kriege von 1924 die Anprangerung der Kriegsgräuel durch die Fotokunst. Er verfolgt die Wirkungsgeschichte dieser Bilderanklageschrift als »einen der bedeutendsten Beiträge des kriegskritischen Lagers« innerhalb der Debatte um Bewertung und Deutung des Ersten Weltkriegs und schildert eingehend die Rolle des mutigen Autors als Begründer des Berliner Friedensmuseums.
Natürlich können die erwähnten Aufsätze die Komplexität des Anliegens dieses Buchteils nicht im Ganzen widerspiegeln. Aber sie greifen beispielhafte Aspekte auf, die in dem 2018 sicher lebhafteren Diskurs über die Revolution 1918/19 ausführlicher und um Weiteres ergänzt behandelt werden sollten.
Das ganze Buch bezieht seine Vorzüge aus Internationalität und Interdisziplinarität. Die Fruchtbarkeit dieser Anregungen verdanken wir dem multidisziplinären Themen- und Methodenansatz aus der Geschichts- und Politikwissenschaft, aus der Soziologie und Psychologie, der Literaturwissenschaft sowie der Archivwissenschaft und Museologie. Überdies haben sich die Autorinnen und Autoren zumeist einer Sprache bedient, die nicht nur Fachkollegen verständlich ist. So entstand ein anregender Studienband für Wissenschaftler und zugleich ein Lesebuch über den Ersten Weltkrieg für jeden an der Geschichte Interessierten.