von Holger Czitrich-Stahl
Mit dem Buch Moderne Wahlen hat Hedwig Richter ihre Habilitationsschrift vorgelegt. Es handelt sich hierbei um eine vergleichende Analyse und Bewertung der Geschichte der Wahlen und des Wahlrechts in den USA und in Preußen im 19. Jahrhundert im Rahmen einer Demokratiegeschichte der Neuzeit. Die Verfasserin forscht seit 2016 am Hamburger Institut für Sozialforschung und ist Privatdozentin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, wo sie sich auch habilitierte.
Ihre Ausgangsfrage lautete: »Warum haben sich politische Wahlen durchgesetzt, sodass die Legitimation politischer Herrschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch ohne Massenpartizipation möglich ist? Wie lässt sich der Erfolg dieses Verfahrens erklären?« (S. 9) Die als politisches Allgemeingut geltende Antwort, dass sich die Beherrschten das Recht auf eine demokratische, freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahl gegen die Obrigkeiten erkämpfen mussten, lässt sie nicht unwidersprochen stehen. Hedwig Richter knüpft einige kritische Fragen an diese scheinbar logische Erklärung, beispielsweise weshalb sich z. B. das Massenwahlrecht durchgesetzt habe, das doch besonders manipulations- und korruptionsanfällig zu sein scheine. Bedeuten nicht Wahlen in letzter Konsequenz »ein gerüttelt Maß an Unfreiheit«, weil sich die Minderheit der Mehrheit beugen muss? Weshalb setzte sich nicht die direkte Demokratie durch? Und zuletzt: Wäre nicht das Losverfahren die an sich gerechtere Lösung? Sie bündelt diese Einzelfragen in der übergeordneten Fragestellung: »Warum ging stattdessen Massenpartizipation Hand in Hand mit der Entwicklung des modernen Staates und der Nationskonstruktion?« (S. 10)
Im Folgenden formuliert Hedwig Richter drei Thesen, die sie mit Hilfe eingehender Untersuchungen der Wahlpraktiken in den USA und in Preußen im 19. Jahrhundert zu überprüfen gedenkt: »Erstens wurden Wahlen zu Beginn der modernen Demokratiegeschichte eher von oben oktroyiert als von unten eingefordert... Entsprechend entwickelte sich zweitens die Massenpartizipation nicht notwendig aufgrund einer normativen Dynamik, etwa als Freiheitskampf... Drittens ergab sich auf der Grundlage eines Sets an spezifischen Ideen und strukturellen Prozessen eine relativ parallele Entwicklung für Preußen und die USA, die den Schluss einer nordatlantischen Geschichte nahelegt und rein länderspezifische Erklärungen für die Ausbreitung der Massenwahlen wenig überzeugend erscheinen lässt.« (S. 10-11) Sollten sich ihre Thesen als stichhaltig beweisen lassen, »können bestimmte nationale Erklärungsmuster, die in Demokratie- und Parlamentsgeschichten auftauchen, neu überdacht werden.« (S. 11) Die möglichen Konsequenzen einer solchen Gedankenführung deutet sie an, wenn sie dem Narrativ der Moderne als einer beständigen und erkämpften Ausweitung der Freiheitsrechte, der Menschenwürde, der Rationalität und der Pflicht zur Selbstbefreiung die andere Seite der Medaille anfügt, nämlich das konservative Sicherheitsbedürfnis, die Angst vor raschen Veränderungen und die Sehnsucht nach Traditionen. (S. 13) Im Grunde befragt sie die Demokratiegeschichte auf ihre dialektischen Strukturen im Kontext des Ringens zwischen Eliten und Massen, Herrschenden und Beherrschten, wobei besonders die Reflexionen und Motive der ›Eliten‹ bei der Durchsetzung von modernen Wahlen ins Visier genommen werden.
Fünf Kapitel gliedern die Analyse. Im ersten Kapitel »Elitenprojekt Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (S. 37-135) untersucht die Verfasserin die »Kindheitsjahre« der Wahlgeschichte in den USA und in Preußen. Mit den preußischen Reformen beginnend schildert sie auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen eine spürbare Widerspenstigkeit des Berliner Bürgertums gegenüber den mit der Steinschen Städteordnung verbundenen Neuerungen. Das ausufernd Zeremonienhafte der Wahlhandlungen in den Kirchen, die aufwändige Stimmabgabe durch die Ballotage oder das Rauchverbot stießen bei vielen Wählern auf Abwehr und führten zu niedriger Wahlbeteiligung in der ersten Jahrhunderthälfte. »Offensichtlich bedeutete das Wahlrecht für einen Großteil der Menschen nicht ein mit Leidenschaft erkämpftes Recht. Vielmehr...erweisen sich Wahlen in der ersten Jahrhunderthälfte als ein hoheitliches Projekt, dem sich die Bürger mit wenig Elan fügten – oder auch zu entziehen trachteten«. (S. 54-55) Demgegenüber verband sich für die reformerischen Eliten Preußens das Wahlrecht mit zweckrationalen Überlegungen. Die Überwindung der überkommenen Ständeordnung verlangte eine rationale Vergesellschaftung auf der Basis formaler Gleichheit; vor allem Eigentum und Leistung sollten zählen – auch mit Blick auf die notwendige Steigerung der Staatseinnahmen. »Daher sollte das Wahlrecht Bürger und Kapital enger an die Staatsgeschäfte binden«. (S. 46) Insofern kamen die preußischen Reformen dem sich herausbildenden Bürgertum weit entgegen, so dass sich dieses »intrinsisch« mit dem Staat identifizieren können sollte. Teilhabe, Aufstieg und Demokratie stünden seitdem in enger Beziehung zu Wertvorstellungen des Bildungsbürgertums. (S. 68)
Die Herausbildung des modernen Wahlrechts in den USA vollzog sich unter anderen Bedingungen als in Preußen, da nicht eine militärische Katastrophe, sondern die erkämpfte Unabhängigkeit Pate stand. Die Verfassung von 1787/88 legt einen weit verbreiteten Enthusiasmus für das allgemeine Wahlrecht nahe, den die Autorin allerdings hinterfragt: »Auch für die amerikanischen Eliten galt dabei die Gleichheitsidee zunächst dem selbständigen Bürger, dem Freeman mit Land und Boden, nicht den Armen«. (S. 77) Und so blieb das Wahlrecht mit seinem Zensus und seiner Exklusion von Minderheiten lange Zeit sehr restriktiv. Spätere Ausweitungen der Wahlrechtsqualifikationen hatten eher ihre Begründung in der zunehmenden Parteienkonkurrenz statt in von unten eingeforderten Partizipationschancen. (S. 88) Dass Wahlen ein Projekt von Eliten auch in den USA waren steht für Hedwig Richter rückblickend nicht in Frage.
Sie begründet ihre Gedankenführung nicht nur mit historischen Quellen aus der jeweiligen Herrschaftspraxis, sondern betrachtet intensiv die jeweiligen zur Anwendung gekommenen Wahlmethoden und die diese begründenden oder reflektierenden Aussagen bzw. deren Subtext. »Das vermögende Subjekt« ist eine dieser Bezugsgrößen, ebenso die Entwicklung der Statistik zu einem Herrschafts- und Disziplinierungsmittel, die Steuerleistung, der Wohnsitz etc. Daran knüpft die Verfasserin die Überlegung, dass der Rationalisierung der Herrschaft ebenso Bahn gebrochen werden sollte wie der Nationkonstruktion. Die Überwindung der Ständeordnung gebiete gleichzeitig die Überwindung traditioneller korporativer geburtsrechtlicher Privilegien des Adels durch eine Herstellung formaler Gleichheit zumindest der vermögenden Individuen. (S. 94ff) Gleichermaßen gelte dies für Preußen und die USA, allerdings gibt es auch Unterschiede: »Wie in den Vereinigten Staaten hielten daher auch in Preußen die staatstragenden Eliten, die von nationalen Ideen überzeugt waren, eine Partizipation der Besitzenden für richtig. Doch während es sich dabei in den USA um die gesamte Oberschicht handelte, war es in Preußen zunächst nur die kleine Reformelite«. (S. 111) Hier wie dort sei aus der Durchsetzung von Wahlen eine wichtige Erfassungs- und Herrschaftstechnik hervorgegangen: die Statistik. Mit ihrer Hilfe erlange der Staat immer kompaktere Kenntnisse über die ökonomische und rechtliche Stellung seiner Bürger, in die die ehemaligen Untertanen mehr und mehr verwandelt werden sollten. Steueraufkommen, Alter, Geburtsort und Wohnsitz, Schulbesuch, Familienstand, Grad der Alphabetisierung, Nationalität, alle diese Kriterien förderten Zug um Zug zudem die Herausbildung einer rationalen und bürokratischen Herrschaftspraxis, die den Interessen des Bürgertums entgegenkam. Dass hier Max Weber mit seinen Herrschaftstypisierungen das methodische Rüstzeug lieferte, liegt auf der Hand. Neben diesen auch in den USA nachzuweisenden Rationalisierungen richtete sich das Augenmerk der Eliten u.a. auf die Sesshaftigkeitsfrage, die in Konjunkturen zu einem In- oder Exklusionskriterium werden konnte, das aktive und passive Wahlalter, das ebenfalls politisch instrumentalisiert werden konnte, um Ergebnisse ›planbarer‹ zu machen. Die im 19. Jahrhundert in Preußen anzutreffende Affinität der jüngeren Männer zur Sozialdemokratie und in den USA zu männlichem Dominanzverhalten erfuhr auf diese Weise Kanalisierungen. Insgesamt gesehen prägte die Vorstellung der Eliten von einem mündigen und besitzenden Mann die Wahlrechtsvorstellungen dieser Zeitspanne des 19. Jahrhunderts. (S. 126ff) Selbst in Großbritannien, wo Frauen früher als in Preußen für das Wahlrecht kämpften, galt noch nach dem Ersten Weltkrieg das Wahleintrittsalter von 31 Jahren, bei Männern hingegen von 21. (S. 135)
Nach dem eher mühsamen Auftakt der neuzeitlichen Wahlgeschichte entfaltete der Wahlgedanke nach 1848 eine die Massen mobilisierende Wirkung, was sich besonders in der Revolutionsepoche um 1848 geltend machte. Der Gedanke des allgemeinen Männerwahlrechts erfasste nun auch die kleinbürgerlichen Schichten und selbstbewusste Teile der Arbeiterschaft. Der revolutionäre Druck der Märzereignisse in Preußen führte zur einmaligen Implementierung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zur neuen gesamtdeutschen Nationalversammlung in der Paulskirche und zur preußischen Nationalversammlung in Berlin. Der Wahltag am 1. Mai wurde wie ein Feiertag zelebriert, die Obrigkeit achtete mit wachen Augen auf die vorschriftsgemäße Durchführung: Dass die staatliche Beaufsichtigung eine notwendige Aufgabe darstellte und nicht als lästige Pflicht zu sehen war, verdeutlicht die Verfasserin an den vielfältigen registrierten Wahlmanipulationen und außerinstitutionellen Beeinflussungsmöglichkeiten in den seinerzeitigen USA, resultierend aus deren Fläche und der geringen Bevölkerungsdichte. Dankenswerterweise erinnert sie uns daran, dass trotz aller Wahlrechtsausweitungen die tatsächliche Quote der Wahlberechtigten in Preußen und in den USA um 1848 lediglich rund 20 Prozent der Bevölkerung betrug, nicht nur wegen des Ausschlusses der Frauen, sondern auch wegen Altersbegrenzung, Zensus und Exklusion ethnischer Minderheiten. Doch manifestiert sich in dieser Phase der Demokratiegeschichte eben doch die Tendenz, dass nun auch die Beherrschten das Wahlrecht stärker einfordern und die Eliten sich mitunter gezwungen sehen, regulierend und begrenzend einzuwirken, um des Emanzipationskampfes per Stimmzettel Herr zu bleiben – und das im Wortsinne der Geschlechterverhältnisse.
Und nicht zuletzt deshalb ging aus den Wirren der 1848er-Revolutionsereignisse in Preußen nach der Niederschlagung der demokratischen Zwischenphase das Dreiklassen-Wahlrecht hervor, das die Verfasserin als »Hybrid zwischen Tradition und Moderne« (S. 237ff) bezeichnet. Als modern sieht sie die Tatsache, dass diese spezifische Form des Wahlrechts ein allgemeines Männerwahlrecht ausbildete, den Traditionalismus wiederum repräsentierte eher die Einteilung in die drei Steueraufkommensklassen, die das ständestaatliche Selbstverständnis der alten Eliten abbildeten, womit aber insgesamt ein stabiler Kompromiss zwischen den modernen bürgerlichen und den konservativen alten Eliten geschmiedet wurde, der allen, bis zum Massenstreik reichenden Kampagnen besonders der Sozialdemokratie bis 1918 widerstand. Insofern kann man Hedwig Richter kaum widersprechen, wenn sie in der relativen Stabilität dieses zwar nur männlich allgemeinen, aber weder direkten noch gleichen Wahlrechts einen zeitadäquaten Kompromiss zwischen den widerstrebenden sozialen Kräften, also den Eliten und den Massen der ›kleinen Leute‹ bzw. dem Adel, dem Großbürgertum einerseits und dem Kleinbürgertum und den Lohnabhängigen andererseits erblickt, der den tatsächlichen Kräfteverhältnissen durchaus entsprach: Verfassungsfragen sind Machtfragen, um mit Lassalle und Engels zu sprechen.
Ohne im Weiteren auf Detailergebnisse einzugehen, liegt der Reiz dieses Opus in seiner Einbettung in eine dialektische Betrachtung. Und insofern konzentriert sich das abschließende Urteil auf das Fazit Hedwig Richters, dass das preußische Dreiklassen-Wahlrecht dem Sicherheitsbedürfnis der Zeit entsprach, die Eliten zu beruhigen wusste und angesichts der extremen sozialen Ungleichheit der damaligen Zeit »eine Brücke von einer traditionsorientierten Gesellschaft hin zu einer modernen Massen- und Partizipationsgesellschaft bilden und die Menschen an das Verfahren der Massenwahlen gewöhnen« konnte. Dass die Konservativen Preußens dieses Wahlrecht deutlich kritisierten bewertet sie denn auch als Beleg dafür, dass diese im preußischen Wahlrecht ein »trojanisches Pferd« erblickten, durch das ein unerwünschter Zeitgeist Einzug halten könnte. (S. 560-561) Dabei benennt sie nicht im Detail, aber im Effekt Parallelen zwischen den USA und Preußen.
Dass ein modernes Wahlrecht nicht ein lineares Ergebnis der Kämpfe der Beherrschten gegen die Herrschenden sein muss, sondern durchaus im Interesse von Eliten liegen kann, hätte noch deutlicher durch einen Exkurs zur Antike verdeutlicht werden können. In der Geschichte des demokratischen Athen wurden demokratisierende Veränderungen des Wahlrechts sogar in der Regel durch die Eliten erwirkt, führt man die Solonschen Reformen, die Umwälzungen durch Kleisthenes oder die Ausweitung der Gleichberechtigung (Isonomia) durch Themistokles zwischen 594 und 480 v. Chr. an. Wie umkämpft und nicht teleologisch diese Prozesse gewesen waren macht sich gerade am Wirken des Perikles deutlich, immerhin von der Nachwelt zu dem wichtigsten antiken Stammvater der Demokratie verklärt: 451 v. Chr. setzte er eine Beschränkung des Bürgerrechts durch, um eine Stärkung der Adelspartei durch Heiratspolitik zu unterminieren. Und wäre ein demokratisches Wahlrecht nach unserem Rechtsverständnis ein zielgerichteter historischer Prozess, dürfte es wohl kaum diesen Flickenteppich unterschiedlichen Wahlrechts geben, der in der EU vorherrscht.
Vielleicht hat Hedwig Richter ihren Akzent zu sehr auf die Interessen der Eliten gesetzt, um der These des linearen Fortschritts im Interesse der Beherrschten einen Kontrapunkt gegenüber zu stellen. Ihre Untersuchung indes zeigt, dass das Wahlrecht immer auch ein Ausdruck gewachsener und erkämpfter Kräfteverhältnisse ist. In diesem Sinne sollte uns ein demokratisches Wahlrecht am Herzen liegen. Es könnte fragiler sein, als wir ahnen. Hedwig Richter jedenfalls hat ein inspirierendes Buch vorgelegt, das des gründlichen Nachdenkens würdig, uns wertvolle Anregungen mitgibt und auch sprachlich gelungen ist.