von Christian Wipperfürth

Der Autor beabsichtigt, »die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts frei(zu)legen« (9). Dieses Thema ist wichtiger, als es einem mitteleuropäischen Beobachter vielleicht zunächst erscheinen mag. Die russisch-georgischen Beziehungen haben sich in den Jahren nach 2004 dramatisch verschärft, was zu dem zunehmenden Misstrauen zwischen dem Westen und Russland – und somit zu der Sackgasse, in der sich die wechselseitigen Beziehungen seit Jahren befinden – wesentlich beitrug.

Ammons Darstellung endet zwar zu Beginn der 1920er Jahre. Aber die Beziehungen zweier so geschichtsbewusster und stolzer Völker wie der Georgier und der Russen lassen sich ohne einen weiten Blick zurück nicht verstehen. Das Buch leistet aber weit mehr. Es bietet auch einen Abriss der georgischen Geschichte der Jahrhunderte, ehe beide Völker überhaupt in Kontakt traten, sowie zahlreiche Einsichten, wie Imperien (wie das Osmanische oder das zaristische Russland) Herrschaft über unterworfene Völker ausüben.

Die Sympathien Ammons für Georgien sind unverkennbar, er bleibt aber durchweg fair und abwägend. Der unverkennbar gelehrte Autor hat ein Buch mit vielen Vorzügen und Facetten vorgelegt. Bevor wir uns dem Buch näher widmen sei ein durchaus gravierender, aber leicht zu behebender Mangel benannt: Es würde durch einige Karten an Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit deutlich gewinnen.

Skizzieren wir den vielschichtigen Inhalt: Georgien war nach Armenien das zweite Land, in dem das Christentum (327 oder 337) Staatsreligion wurde. Georgische Gelehrte und Theologen wirkten über Jahrhunderte als Mittler zwischen Asien, Byzanz und dem Westen. Aus Georgien stammende liturgische Praktiken üben seit dem Mittelalter einen anhaltenden und starken Einfluss auf die slawischen orthodoxen Kirchen aus (30). Georgien unterhielt gleichberechtigte Beziehungen mit der byzantinischen Großmacht, was sich z.B. über viele Jahrhunderte in zahlreichen Heiratsverbindungen zwischen den Herrscherhäusern beider Länder niederschlug (25-27).

Das kleine Kaukasusland war um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert sogar eines der bedeutendsten Reiche des Mittelalters. Kaiser Barbarossa bemühte sich, seinen Sohn mit der georgischen Königin zu vermählen. Georgien beherrschte zeitweise ein Gebiet von der Mitte der heutigen türkischen Schwarzmeerküste bis zum Kaspischen Meer, ein Vielfaches des heutigen Territoriums. Die Herrscher Georgiens ließen Münzen prägen, auf denen sie sich als ›König der Könige‹ oder ›Schwert des Messias‹ bezeichneten (31/32).

Der wenige Jahrzehnte dauernden Blütezeit wurde durch die wiederholt einfallenden Mongolen ab 1221 ein jähes Ende bereitet. Erst fast zwei Jahrhunderte später konnte sich Georgien kurzzeitig stabilisieren. Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) beendete auch diese Phase. Georgien wurde von Europa abgeschnitten und zerfiel bald darauf in neun Einzelteile (32-35).

In den folgenden mehr als drei Jahrhunderten fochten Türken und Perser ihre Konflikte in zahlreichen Kriegen auf dem Gebiet Georgiens aus. Dieses wurde zudem für beide das Hauptreservoir für Sklaven. Im 17. Jahrhundert sollen jährlich zwischen 10.000 und 15.000 Georgier in die Sklaverei verschleppt worden sein (35/36). Hatte Georgien 1254 vier bis fünf Millionen Einwohner, so waren es 1770 nur noch etwa eine halbe Million (36)

Bereits seit dem 16. Jahrhundert richtete sich die Hoffnung vieler Georgier auf Russland, um ihr Land gemeinsam mit den orthodoxen Glaubensbrüdern befreien und einen zu können (9). Die Stärke und Expansion Russlands ließ diese Perspektive seit Anfang des 18. Jahrhunderts zunehmend realistisch erscheinen, Georgier begannen in großer Zahl dorthin zu emigrieren und machten nicht selten eine bemerkenswerte Karriere im Dienste des Zarenreichs (42-44).

1783 schlossen Russland und Georgien einen Protektoratsvertrag, der auch die über 1300 Jahre bestehende Selbstständigkeit der georgischen Kirche beendete und sie in die russische einordnete (49/50). Die Türkei reagierte zunächst mit einem Ultimatum und 1787 mit einer Kriegserklärung an Russland, das wiederum seine Truppen aus Georgien abzog, da diese aus russischer Sicht an anderen Fronten dringender benötigt wurden. Glücklicherweise rückten die Türken nicht in Georgien ein, aber kurz darauf die Perser, die eine Unterwerfung forderten. Das zwischen den einzelnen Landesteilen und Fürstengeschlechtern zerstrittene Georgien unterlag, Persien machte 1795 die Hauptstadt Tiflis dem Erdboden gleich, tötete oder verschleppte Zehntausende (53).

Die russische Hilfe, auf die Georgien gezählt hatte, traf erst ein Jahr der Katastrophe ein, und Russland erklärte Persien 1796 den Krieg. Zarin Katharina ging es hierbei nicht um die Befreiung eines geeinten Georgien, sondern um eine großangelegte territoriale Expansion und die Öffnung der Handelswege nach Indien. Sie starb bereits wenig Monate später. Ihr Nachfolger Paul I. rückte von den Plänen seiner Mutter ab und zog die Truppen aus Georgien wieder ab. Der angekündigten Rache entging Georgien nur durch die zufällige Ermordung des persischen Schahs (53).

Das Ausmaß der Katastrophe von 1795 war dramatisch. Die Bevölkerungszahl Georgiens halbierte sich annähernd. Dies lasteten viele Georgier auch Russland an, das die versprochene Hilfe nicht geleistet habe. Sie waren nicht nur enttäuscht, sondern sahen sich verraten, was im historischen Bewusstsein der Georgier tiefe Wurzeln schlug (53, 56). Georgien hatte von Russland den Status eines Vasallen mit innerer Selbstverwaltung erwartet, wie sie etwa die baltischen Provinzen Russlands oder Finnland genossen. Das Zarenreich annektierte Georgien 1802 hingegen. Der georgische Adel und die Geistlichkeit wurden unter demütigenden Umständen – von russischem Militär umstellt – zum Treueeid auf den Zaren gezwungen. Die russische Einverleibung Georgiens folgte demselben Muster wie die der zentralasiatischen muslimischen Khanate. (61, 212).

In den folgenden Jahrzehnten flammten immer wieder Aufstände gegen die russische Herrschaft auf, die teils kriminelle, zum großen Teil aber auch kulturell-nationale Beweggründe aufwiesen. Georgier fühlten sich den Russen aufgrund ihrer sehr alten Kultur häufig überlegen, sollten sich nun jedoch von ihnen beherrschen lassen? Gleichwohl traten auffällig viele Georgier in den russischen Staats- oder Kriegsdienst ein und viele Georgier entwickelten eine ausgeprägte Russophilie. Russland öffnete das Fenster in die Modernität und nach Europa, das Jahrhunderte verschlossen gewesen war. Die Georgier pflegten einen ausgeprägten Patriotismus und waren entschlossen, ihre Sprache zu wahren, hegten aber keinen Hass gegenüber Russland (115/16,119/20, 30, 96).

Georgien wurde unterworfen, andererseits wurden die Jahrhunderte getrennten Landesteile unter russischer Herrschaft indirekt vereint. Jahrhunderte verheerender Kriege, von Menschenraub und Sklavenhandel endeten. In den Städten wurde für Sicherheit und die wirtschaftliche Entwicklung gesorgt, sodass sich die Bevölkerungszahl in den ersten hundert Jahren russischer Herrschaft fast vervierfachte (76, 216, 90/91).

Die armenische Minderheit, die in den Städten Georgiens seit dem Mittelalter dominierte, begrüßte die Eingliederung nach Russland uneingeschränkt. Die Armenier gewannen mehr Sicherheit gegen die Schikanen durch den georgischen Adel und für ihre Geschäftstätigkeit (80).

Das Schema: autokratisches Imperium (Russland) gegen eine unterdrückte Nation (Georgier) ist folglich nur ein, wenngleich bedeutsamer Aspekt der zweiseitigen Beziehungen. Der Autor zeichnet en Detail nach, wie sehr unterschiedlich russische Gouverneure in den 100 Jahren nach der Eingliederung in Georgien wirkten: von repressiv-korrupt bis aufgeklärt-wohlwollend, zuletzt panslawistisch orientiert. Die kaukasischen Sprachen wurde Jahrzehnte auch als Unterrichtssprachen respektiert, seit Mitte des 19. Jahrhunderts hingegen setzte eine Reformpolitik ein, deren Leitbild nicht zuletzt der Nationalstaat nach französischem Vorbild war, sodass Minderheitensprachen einem Assimilierungsdruck ausgesetzt wurden. Nach 1882 folgte eine massiv einsetzende Russifizierung mit panslawistischer Agenda. Hiergegen erhob sich in Georgien Widerstand, dem der russische Staat teils nachgab (93). Gleichwohl blieb die Sprachenpolitik des Zarenreichs tendenziell repressiv, was sich erst im Revolutionsjahr 1905 änderte (94).

Die Revolution von 1905 brachte zumindest in Teilen Georgiens bemerkenswerte Neuerungen mit sich: Dorfversammlungen (von Männern und Frauen) traten wöchentlich zusammen, um als Volksgerichte zu fungieren, über die Einkünfte und Ausgaben der Gemeindekasse zu befinden oder über die Berufung von Lehrern zu entscheiden. Der Schulunterricht wurde nunmehr meist auf Georgisch durchgeführt. Das national-georgische Element hatte durch die Revolution von 1905 an Bedeutung gewonnen (181). Die georgischen Sozialdemokraten, die wichtigste Partei des Landes, wollten die Geschicke ihres Landes aber weiterhin mit dem Russlands verbinden. Hiervon rückten sie erst Ende 1917, einige Wochen nach der Oktoberrevolution, ab (150, 186/87).

Ammon diskutiert ausführlich den Konflikt um die Selbstständigkeit zwischen der georgischen und der russisch-orthodoxen Kirche. Diesem sei in der Geschichtsliteratur bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden (214). Der Konflikt habe eine zentrale Rolle bei der Entfremdung der Georgier von Russland gespielt. Er zeichnet den Einzug des Kirchenlandes ausgiebig nach, sodass der russische Staat der bei weitem bedeutendste Grundeigentümer wurde. Der Gottesdienst habe vom Georgischen schrittweise zum Altkirchenslawisch wechseln müssen, Kirchennamen seien russifiziert worden. Bauern seien darum den Gottesdiensten zunehmend fern geblieben (151-179).

Bei Kriegsausbruch 1914 begaben sich georgische Patrioten nach Berlin, um Deutschland zu bewegen, sich für die Selbstständigkeit Georgiens einzusetzen. Dieser Anregung hätte es nicht bedurft, denn das Deutsche Reich unternahm bereits seit Anfang August 1914 ernsthafte Versuche, von den Kriegsgegnern unterworfene Völker zum Aufstand anzustacheln. Der Aufbau einer ›Georgischen Legion‹ unter deutschem Kommando hatte aber nicht den gewünschten Erfolg, unter anderem weil Berlin auf einer Vereidigung auf den russischen Zaren bestand (191). Für das Kaiserreich rangierte das Legitimitätsprinzip letztlich vor dem Erfolg.

Aber auch eine entschiedene Revolutionierungsstrategie Berlins hätte vermutlich nur eine geringe Aussicht auf Erfolg gehabt. Noch im Herbst 1917 wollten weder Georgier, noch Armenier oder Aserbaidschaner einen Abfall vom Russischen Reich propagieren (197). Die Oktoberrevolution und die militärischen Erfolge Deutschlands gegen Russland änderten die Lage. Im Frühjahr 1918 hielten sich die Georgier an Berlin, die Aserbaidschaner an die Türken, die Armenier aber an London (197-200).

Seit dem Frühjahr 1918 begannen deutsche Truppen in Georgien zu operieren. Sie setzten sich zunächst aus ehemaligen Kriegsgefangenen der Mittelmächte sowie Kaukasusdeutschen zusammen. Im Juni 1918 wurden sie durch eine 3000 Mann starke reguläre bayerische Einheit verstärkt. Türkische Verbände rückten derweil auf Tiflis vor: Die Türkei zielte auf die Expansion im Kaukasusraum bis nach Zentralasien hinein. Das Deutsche Reich wiederum war selbst am Kaukasus interessiert und zeigte seit den Massakern an den Armeniern geringe Sympathien für den türkischen Verbündeten (201). Deutsche und türkische Truppen verwickelten sich in Georgien in Kämpfe gegeneinander. Georgien erklärte sich im Mai 1918 für unabhängig, lehnte sich an Deutschland an und gewährte diesem zahlreiche Privilegien. Berlin wollte, anders als von Georgien gewünscht, aber keine Protektoratsmacht werden (201/02).

Mit der Niederlage der Mittelmächte wurde die georgische Politik abrupt nationalistischer, was die russische, armenische (und deutsche) Minderheit vom Staat entfremdete (203). (Der Rezensent fragt sich, ob das mangelnde Verständnis für die Interessen der Minderheiten, so historisch verständlich dies vielleicht sein mag, nicht auch die Geschichte Georgiens seit 1991 mit prägt.) Dabei befand sich Georgien bereits seit einigen Monaten in einem Zustand der drohenden Hungersnot und der Anarchie. Es gab bewaffnete Auseinandersetzungen mit desertierten russischen Soldaten, den regulären ›weißen‹ bzw. ›roten‹ Truppen Russlands, mit der ossetischen Minderheit, die nach Unabhängigkeit strebte und gegen die armenischen und aserbaidschanischen Nachbarn, die Gebietsansprüche erhoben (207).

Die ›Rote Armee‹ rückte im Frühjahr 1920 in Aserbaidschan ein. Die gegen Deutschland siegreichen Westalliierten wollten die Unabhängigkeit Georgiens aber weiterhin nicht anerkennen, sondern setzten auf die Wiederherstellung russischer Herrschaft, natürlich unter den ›Weißen‹. London und Paris mochten die Souveränität Georgiens erst anerkennen, als es bereits zu spät war, Anfang 1921 (206-08).

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Sowjetrussland und die Türkei unter Mustafa Kemal (Atatürk) bereits geeinigt: Die Türkei konnte sich großzügig an Territorien bedienen, die Armenien im August 1920 im Vertrag von Sèvres zugesprochen worden waren, die ›Rote Armee‹ rückte dafür im Kaukasus weiter vor. Beide wandten sich gemeinsam gegen Georgien. Das Ende der kurzzeitigen Unabhängigkeit war besiegelt, die Souveränität wurde aber nicht von Sowjettruppen, sondern georgischen Bolschewisten beendet (208-10).

Der Autor diskutiert ausführlich die Dichtung und Literatur russischer Schriftsteller zum Kaukasus (97-125). Ammon legt eindrücklich dar, welch geradezu mystische Bedeutung Georgien für die Russen im 19. und 20. Jahrhundert besaß. Dies gilt nach meinem Eindruck in vermutlich abgeschwächtem, aber gleichwohl deutlichem Maße weiterhin. Das russische Verhältnis gegenüber Georgien ähnele dem eines Liebhabers, der enttäuscht über Undankbarkeit klage (11, 12, 13, 111). Von den enttäuschten Erwartungen der Georgier war bereits die Rede. Es gibt wohl nur selten zwei Völker, deren Verhältnis derart von emotionalen Faktoren geprägt wird.

Der Rezensent beendete die Lektüre mit dem Eindruck, viel gelernt zu haben. Zum einen an harten Fakten und zugleich an starken und vielschichtigen Gefühlslagen zwischen den beiden Völkern.

(Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924. Mit einem Nachwort von Uwe Halbach,  ISBN 978-3-465-04407-9 Frankfurt/Main (Klostermann Rote Reihe 117), 238 Seiten)

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