Sperrige Fakten zur Geschichte des 20. Juli 1944
von Herbert Ammon
Historische Wirklichkeit erweist sich stets als komplexer denn die von spezifischem Erkenntnisinteresse oder geschichtspädagogischen ›Lernzielen‹ geprägten Deutungen. Dies gilt gerade auch für die missglückte Rettungstat des 20. Juli, eines jener Daten, auf die sich im vereinten Deutschland ein national verbindendes Geschichtsethos gründen könnte. Während man in den Jahren vor 1989 in der DDR den 20. Juli ziemlich spät für das ›Geschichtserbe‹ reklamierte und dabei die in letzter Minute aufgenommenen Kontakte zum kommunistischen Untergrund überbetonte sowie eine direkte Linie zum Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) konstruierte, ging es im Westen vor allem um den Nachweis der lupenreinen ›Westorientierung‹ der Verschwörer.
Beide Geschichtsbilder entsprachen den ideologischen Bedürfnissen der beiden Teilungsstaaten. Wie anders ist zu erklären, dass bis heute jenes im April/Mai 1944 von Adam von Trott zu Solz verfasste Schlüsseldokument »Deutschland zwischen Ost und West«, welches den Standort der Verschwörer um Stauffenberg am prägnantesten zu definieren vermöchte, in den Archiven unauffindbar ist? An sperrigen Fakten scheinen weder die Zunft noch die politische Gedenkrede interessiert.
Wer nach historisch-komplexer Widersprüchlichkeit sucht, findet sie in einem Buch zum 20. Juli, das aus einem Filmporträt der Dokumentarfilmerin Irmgard von zur Mühlen, der Ehefrau des Herausgebers, über den General Fritz Lindemann entstanden ist. Der Dresdner Historiker Wolfgang Welkerling porträtiert darin diesen − im Westen Deutschlands – wenig bekannten Widerstandskämpfer sowie den ›Bürgermut‹ seiner Fluchthelfer.
Lindemanns Biographie fügt sich in das Bild des national-konservativen Frondeurs: ein preußischen Tugenden und der ›unpolitischen‹ Tradition der Reichswehr verpflichteter Offizier, Anhänger eines ›preußischen Sozialismus‹ à la Oswald Spengler, gleichwohl loyal der Weimarer Republik gegenüber. Zum NS-Regimegegner wird Lindemann angesichts der Mordtaten am 30. Juni 1934. 1939 führt er im kleinen Kreis den Nachweis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen sei. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion mit dem Ritterkreuz dekoriert, hegt Lindemann von Anfang an wenig Illusionen über den Kriegsausgang. Nach einer Blitzkarriere gelangt Lindemann 1943 als General der Artillerie in den Führungsstab des Oberkommandos des Heeres (OKH), wo er alsbald dem Widerstand beitritt.
Ab September 1943 gehörte Lindemann zum engeren Kreis der Verschwörer um Olbricht, Tresckow und Stauffenberg. Zu seinen konspiratorischen Aufgaben gehörten Unterredungen mit dem früheren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, der sich 1937 mit Hitler und Göring überworfen hatte und nun die Verschwörer auf ›Tempo, Tempo‹ drängte. Wer würde unter Lindemanns damaligen Kontaktpersonen auch den Großindustriellen Friedrich Flick vermuten? Dieser plädierte nach Welkerling jedoch nicht nur für die Fortsetzung des Krieges im Osten, sondern war vor allem von Sorgen über eine mögliche Volksfrontregierung geplagt.
Lindemann sollte nach dem Putsch eine Funktion im Propaganda-Apparat übernehmen. Im Auftrag von General Beck, dem Haupt der Militärfronde, arbeitete er einen Aufruf an das deutsche Volk aus, den er nach dem Attentat über den Rundfunk verlesen sollte. Lindemanns Rolle am Schicksalstag des 20. Juli illustriert hier nur die Serie der Fehlschläge. Nachdem es bei der Besetzung des Rundfunkgebäudes in der Masurenallee mangels technischer Kompetenz nicht gelungen war, sich der Sendeanlagen zu bemächtigen, fuhr Lindemann an jenem 20. Juli nur ergebnislos zwischen dem OKH in Zossen, dem Bendlerblock und wiederum Wünsdorf/Zossen hin und her.
Am nächsten Tag flüchtete Lindemann über Berlin nach Dresden zu einem Onkel, doch am 26. Juli kehrte er per Eilzug nach Berlin zurück, wo ein Untertauchen mehr Sicherheit versprach. Dresden bildete noch anno 1944 eine Hochburg des Nazismus. Am 21. Juli fand auf den Elbwiesen eine ›Treuebekundung‹ mit mehreren zehntausend Teilnehmern statt, bei der zur Teilnahme verpflichtete Offiziere von regimetreuen ›Volksgenossen‹ beschimpft und bespuckt wurden.
Verraten wurde die Flucht Lindemanns schließlich Ende August von einem Geschäftspartner des Dresdner Fluchthelfers Carl Marks, der sich fahrlässigerweise dem vermeintlichen ›Freunde‹ anvertraut hatte. Am 3. September spürte die Gestapo Lindemann in der Wohnung des Architekten Dr. Erich Gloeden auf. Drei Schüsse trafen Lindemann, als er sich aus dem Fenster stürzen wollte. Er starb 18 Tage später nach Dauerverhören im Berliner Polizeikrankenhaus.
Von den zehn Frauen und Männern, die Lindemann auf seiner Flucht versteckt und geholfen hatten, wurden sechs zu Opfern der Gestapo, des ›Volksgerichtshofes‹ und der SS. Ihre Namen vermitteln ein widersprüchliches, ja verwirrendes Bild von der Vielfalt des Widerstands. Der Dresdner Vetter Hermann Lindemann, 1932 als Bürgermeister von Senftenberg von der SPD zur DNVP (!) übergetreten, war mit dem Bauingenieur Hans Ludwig Sierks befreundet, der sich als früheres SAP-Mitglied im Februar 1944 der NKFD-Zelle in Dresden angeschlossen hatte. Dieser wiederum vermittelte den Kontakt zu Dr. Gloeden, der als getaufter, durch Adoption und Namensänderung in jeder Weise assimilierter ›Halbjude‹ von den Nazis noch unbehelligt im Berliner Westend lebte.
Der Dokumententeil des Buches enthält ein bedrückendes Schlüsseldokument: Auszüge einer von Gloeden verfassten Schrift. Darin legt der Verfasser, der Sohn des Berliner Bronzegießereibesitzers Siegfried Loewy, Rechenschaft ab über seine bereits in früher Jugend begründete Skepsis gegenüber den Illusionen eines deutsch-jüdischen Patriotismus sowie über seine Hinwendung zu einem kompromisslosen Zionismus. Als ›Kameradschaftsführer‹ einer Technischen Wirtschaftseinheit beobachtete Gloeden zu Kriegsbeginn die Besatzungspolitik der Nazis in Polen. Bereits Ende 1942 ging er von einer Zahl von zwei Millionen ermordeter Juden (»verhungert, vergast oder sonstwie umgebracht«) aus. Sein Urteil über die Deutschen unter dem NS-Regime: »Wer irgendwie und -wo Macht besaß und trotzdem nicht rechtzeitig eingegriffen hat, sondern nur bedauernd die Achseln zuckte, wer wider besseren Wissens mitmachte oder schwieg, der hat sich mitschuldig gemacht.« Ausgerechnet dieser Mann, der innerlich mit dem Land seiner Geburt gebrochen hatte, gewährte dem flüchtigen Lindemann Unterschlupf.
In der Reihe der Fluchthelfer taucht nun ein gänzlich unerwarteter Name auf: der Freikorpsführer und SA-Brigadeführer Horst von Petersdorff, Stiefvater des NKFD-Offiziers (und heutigen [anno 1996] PDS-Bundestagsabgeordneten) Heinrich Graf von Einsiedel. Von der Wehrmacht zum Rüstungsministerium Speers abkommandiert, agierte der Ritterkreuzträger Petersdorff als Leiter der »Deutschen Industriekommission« in Ungarn und in der Slowakei, wo er mit Widerstandsgruppen in Fühlung stand. Mit Hilfe dieses unerschrockenen Aktivisten hoffte Lindemann, ›nach Südosten‹ zu gelangen und an der Ostfront auf die sowjetische Seite überzutreten.
Hier nun die historische Pointe: In seinem Versteck bei dem Ehepaar Gloeden begann Lindemann bei der aus dem baltischen Adel stammenden Bibliothekarin und Schriftstellerin Josi (Josepha Benita Baronin) von Koskull Russisch zu lernen. Von ihrer Wehrmachtsdienststelle, wo sie dienstverpflichtet bei der Postzensur der Abwehr arbeitete, schmuggelte Frau von Koskull im Auftrag Lindemanns folgende Nachricht an Alexandra Kollontai, die sowjetische Botschafterin in Stockholm, zu der die Verschwörer (Trott) im Herbst 1943 direkten Kontakt aufgenommen hatten: »Ia 1937, Wehrkreiskommando X ist in Berlin und bittet Seydlitz um Hilfe.«
Ob die Botschaft je den Adressaten in Moskau erreichte, ist unerheblich. Wesentlich ist hier die Schlufolgerung: Zumindest einige Verschwörer des 20. Juli setzten ein patriotisches Einverständnis mit den Offizieren des NKFD voraus, suchten den direkten Kontakt zu ihnen! Ein für die ›westliche‹ Lesart des 20. Juli unbequemes Faktum. Hierzu noch ein erhellender Zusatz: Auf Wunsch eines Sohnes von Lindemann wurde Welkerlings Exkurs »Lindemann und das NKFD« aus dem Text herausgenommen.
Unzweifelhaft böte das Buch, zu dem Ignatz Bubis ein Geleitwort zur Würdigung der Rolle deutscher Juden im Untergrund (und im Widerstand!) sowie ihrer namenlosen Helfer geschrieben hat, Stoff zur fruchtbaren Erneuerung der alten Kontroverse um die politischen Konzepte der Konspiration: Wie stand es mit dem ›Draht nach Moskau‹? Gibt es etwa noch mehr Indizien einer aus der Zwangslage der Verschwörung resultierenden ›Ostorientierung‹, als den westdeutschen Nachlassverwaltern des 20. Juli lieb sein kann?
Andererseits eignen sich die hier vermittelten Fakten auch nicht zu einer einfachen Fortschreibung des alten DDR-Geschichtsbildes. Sie widerlegen eher jenes bekannte – von Welkerling eingangs zustimmend zitierte – Geschichtscredo des Pastors Martin Niemöller: »Als die Nazis die Kommunisten abholten, habe ich geschwiegen...« Am 30. Juni 1934 (beim sog. ›Röhm-Putsch‹) wollten die Nazis auch den ›alten Kämpfer‹ Horst von Petersdorff holen, der, wie erwähnt, Ende Juli 1944 Lindemann in Potsdam versteckte.
Erneut überlebte Petersdorff durch Zufall. Vom Volksgerichtshof unter Freisler ›mangels genügenden Be weises‹ freigesprochen, kam er in ›Schutzhaft‹, sodann als Sonderhäftling der SS in das KZ Buchenwald. Ende April 1945 wurde Petersdorff zusammen mit anderen Widerstandskämpfern – die schließlich liquidiert werden sollten – in Richtung Alpen deportiert. Eine Wehrmachtseinheit unter dem Kommando des von Hitler wegen Befehlsverweigerung ins KZ gesteckten und wieder entlassenen jungen Obersten Bogislaw von Bonin befreite die Gruppe in Südtirol aus den Händen der SS.
Sie gaben ihr Leben. Unbekannte Opfer des 20. Juli. General Fritz Lindemann und seine Fluchthelfer, hrsg. von Bengt zur Mühlen unter Mitarbeit von Frank Bauer, Chronos-Film GmbH, Berlin-Kleinmachnow 1995, 412 S. ISBN 3-931054-01-2
Die o.g. Publikation ist das Begleitbuch zu dem Videofilm »Sie gaben ihr Leben. Unbekannte Opfer des 20. Juli. General Fritz Lindemann und seine Fluchthelfer« von Irmgard von zur Mühlen (Chronos-Film 1994). Buch und Film wurden durch die Forschungsergebnisse des Dresdner Historikers Wolfgang Welkerling angeregt. Aus: GEP (Geschichte-Erziehung-Politik) 7-8/1996, S.401-403.
Postscript 11. 07.2010:
Von einem ideell tragfähigen Geschichtsethos, wie eingangs in dem 1996 erschienenen Aufsatz für nötig und möglich befunden, ist die »bunte Republik Deutschland« (dixit Christian Wulff, Bundespräsident) anno 2010 weiter entfernt denn je. Stattdessen stellt sich angesichts eines vor zwei Jahrzehnten, zum Zeitpunkt der unerwarteten Vereinigung (›Wir sind ein Volk!‹) der beiden deutschen Staatsgebilde noch für kaum vorstellbar gehaltenen ethnisch-sozialen und kulturellen Wandels die Frage nach Dauer und Wirksamkeit des wesentlich auf die Verbrechen des Nationalsozialismus bezogenen deutschen Geschichtsbildes. Unberührt davon bleibt die Frage, inwieweit im Zeichen der von den Funktionseliten betriebenen europäischen post-histoire tradierte historische Bilder, Selbstbilder (und ›Vorbilder‹) jenseits ideologischer Verfügbarkeit überhaupt noch sinnstiftend wirken können.