Einige Bemerkungen zum gewaltsamen Tod des deutschen Außenminister vor 100 Jahren nebst ein paar allgemeinen Gedanken zum politischen Attentat

von Helmut Roewer

Am 24. Juni 1922 wurde in Berlin auf offener Straße der deutsche Außenminister Walther Rathenau ermordet. In diesem Beitrag gehe ich auf die Person Rathenaus ein und schildere, was ihn zur Hassfigur prädestinierte. Ein paar abschließende Gedanken werde ich der Frage widmen, was politische Attentate bewirken.

Der schillernde Rathenau: ein Mann entzieht sich dem simplen Zugriff

Walter Rathenau (1867-1922) war der Erbe eines Industrie-Imperiums, der AEG. Gegründet worden war die Firma von seinem Vater. Alles Wesentliche, was in Deutschland mit der Elektrifizierung und Elektrotechnik zu tun hatte, stammte entweder von der AEG oder vom Konkurrenten Siemens. Der Sohn und Erbe sorgte – exzellent ausgebildet – für die Fortführung der Firma und deren Siegeszug durch die Welt. Eine Reihe einschlägiger Patente, die Rathenau selbst entwickelte, anmeldete und erhielt, lassen keinen Zweifel aufkommen, dass er verstand, was er da als Unternehmer vorantrieb.

Neben dem Unternehmer gab es noch ein paar andere Rathenaus: Den Weltreisenden, den In-die-Politik-Einmischer, den Staats- und Wirtschaftsdenker, den deutschen Nationalisten, den Brief- und Artikelschreiber, den Buchautor, und – gleich nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs – den leitenden Organisator der deutschen Kriegswirtschaft, ohne dessen Eingreifen Deutschland vermutlich nach wenigen Wochen ökonomisch zusammengebrochen wäre. Wo beginnen?

Es gibt kaum einen bedeutenden Zeitgenossen, der sich nicht an Rathenau gerieben hätte, manche machten sich auch in boshafter Form über ihn lustig wie der österreichische Schriftsteller Robert Musil in seinem Mammut-Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Uns, den Nachgeborenen, ist die Sicht auf Rathenau durch mancherlei Umstände erschwert, nicht zum wenigsten dadurch, dass sein 1945 bei Kriegsende konfiszierter Nachlass in Moskauer Archiven verschwand. Vor allem die Briefe und persönliche Notizen hätte ich gerne mal gelesen. Habe ich aber nicht. Schon das Gedruckte gibt genügend viele Rätsel auf, zum Beispiel das in der Mitte des Ersten Weltkriegs publizierte Werk Von kommenden Dingen.

Damit meine Aussage nicht blutleere Behauptung bleibt, rücke ich hier einige der Sentenzen aus dem Rathenauschen Werk ein. Sie zeigen, so meine ich, einen komplexen Denker, der sich den billigen Rechts-links-Schemata um Meilen entzieht:

»Es gibt nichts Betrübenderes als die Erkenntnis, dass wir der Plutokratie rettungslos verfallen sind. Noch widerstehen ihr drei oder vier germanische Staaten; auf wie lange?«
»Wir haben keinen Grund, nach dem Eisenbartrezept des Sozialismus das tausendjährige Gebäude organischer Arbeit zu zerbrechen, um polizeilichen Bureaukratismus an die Stelle des Wettkampfes, verbreitertes Speisemarkenwesen und gehobenes Armenrecht an die Stelle bürgerlicher Freiheiten zu setzen.«
»Die heutigen Quellen des Reichtums sind Monopole im weitesten Sinne, Spekulation und Erbschaft. Der Monopolist, Spekulant und Großerbe hat in der künftigen Wirtschaftsordnung keinen Platz.«
»Wer den deutschen Menschen will, kann nicht den proletarisch gebundenen Menschen wollen. Wir aber wissen, dass nur die ewig wechselnde Durchdringung, das stets erneute Wechselspiel von Leistung und Leitung das Volk schafft, dass Erblichkeit der Rechte und Pflichten, des Schicksals und Erlebens das Volk aufhebt und die Kaste bildet.«

Nach der deutschen Niederlage 1918/19 gab es ein Machtvakuum, eine Art Tabula rasa. Nun hätte es zum Schwure kommen können, was von Rathenaus Gedanken pure Phantasie, was dank seiner praktischen Vernunft zum Wohle des Landes in die politische Tat hätte umgesetzt werden können. Er kam nicht dazu, er wurde ermordet. Doch der Reihe nach: Im Mai 1921 trat er als Wiederaufbauminister in die Reichsregierung ein. Einige Monate später, am 1. Februar 1922, wurde er Reichsaußenminister.

Diese Position hatte nach dem Vertrag von Versailles, der Deutschland 1919 aufgezwungen worden war, nichts mehr von dem Glanz der Kaiserzeit, als das Deutsche Reich sich bemüßigt gesehen hatte, eine eigenständige Weltpolitik zu betreiben, um sich, wie man sagte, einen Platz an der Sonne zu sichern. Nun war man der entthronte Verlierer, dessen Wohl und Wehe in London und Paris diktiert wurde, zudem eingekeilt von frisch gegründeten feindseligen Staaten an der Ostflanke, nämlich Litauen, Polen und der Tschechoslowakei.

Die Feinde Deutschlands hatten indessen bei ihrer Einkreisungspolitik eines nicht bedacht. Östlich von Polen gab es einen weiteren Paria der Weltpolitik. Das war die junge Sowjetunion. Mit diesem Staat Verträge zu schließen und Geschäfte zu machen, war dem Reich nicht verboten worden. Die Strategen im Auswärtigen Amt zogen nun, wie schon zur Bismarckzeit, die Ostkarte. So kam es zum Vertrag von Rapallo. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen aus dem November 1918 war damit revidiert. Beide Länder stellten sich in den bilateralen Beziehungen außerhalb des Versailler Diktats. Auf Kriegsfolgenausgleich wurde wechselseitig verzichtet.

Die Westmächte schäumten. Ihre strikte Isolationspolitik gegenüber Russland hatte ein scheunentorgroßes Loch. Zudem hatte sich Deutschland – empörend genug – auf der Bühne der Weltpolitik zurückgemeldet. Rathenau war der Mann, der sich das getraut hatte. Legt man diesen Maßstab zugrunde, so kann man das Attentat auf den Außenminister aus nationaler Perspektive nur als bizarr bezeichnen. Darum muss es jetzt gehen.

Schlagt ihn tot: Rathenau als Hassfigur der extremen Rechten und Linken

Rathenau war Jude. Ich zögere, ob ich diesen Satz so platt und unkommentiert stehen lassen kann. Zu unterschiedlich und umstritten waren damals (wie heute) die Auffassungen darüber, wann einer ein Jude sei: Durch Herkunft? Durch Tradition? Durch Überlieferung? Durch Rasse? Durch religiöses Bekenntnis? Man sieht schon: ein weites Feld.

Gewiss, für Rathenaus Feinde spielten solche feinsinnigen Unterschiede keine Rolle. Sie grölten ihren Judenhass frei heraus, wenn sie betrunken durch Berlins Straßen marschierten und dazu aufriefen, ihn totzuschlagen. Ich schreibe diese empörende Botschaft hier so auf, damit nicht einer sagt, das Attentat sei aus dem Nichts gekommen. Ist es nicht. Zudem war politischer Mord in Deutschland an der Tagesordnung. Da gab es unzählige Motive und Varianten, die mit Jude oder Nicht-Jude zunächst einmal wenig bis nichts zu tun hatten.

Doch machen wir einen Schritt zurück: Das Problem der Emanzipation der Juden, wie man den Vorgang seinerzeit nannte, war im Verlauf des 19. Jahrhundert in Deutschland auf dem besten Wege sich in Luft aufzulösen. Ich weiß, das klingt heute unglaublich, denn es lag nicht zum wenigsten daran, dass das gebildete jüdische Bürgertum nicht nur den Weg der Integration in das deutsche Volk, sondern ganz bewusst den der Assimilation zu gehen begonnen hatte.

Ein prominenter und beredter Unterstützer dieser Bewegung war Rathenau. Seine gegen die jüdische Orthodoxie gerichtete Schrift Höre Israel! gibt hierüber Auskunft. Es ist die Frage, was aus dieser in Deutschland damals für möglich gehaltenen Selbstauflösung des Judentums geworden wäre, wenn nicht der Erste Weltkrieg alte Feindbilder reanimiert hätte, vor allem als es mit der deutschen Seite bergab ging. Es war das alte Lied, ein Sündenbock musste her: Sogenannte nationale Kreise besannen sich auf den Juden als den Quell allen Übels. Einfach aber wirksam.

Selbst kantige Vernunftmenschen wie der 1916-18 mächtigste Mann Deutschlands, General Erich Ludendorff, ließen sich nach Kriegsende davon anstecken. Vergessen war die enge Zusammenarbeit zwischen Ludendorff, dem Spitzen-Militär, und Rathenau, dem Wirtschaftsboss. Jetzt regierte der Hass des ebenfalls zum Sündenbock erklärten Ex-Generals. Der Sündenbock suchte den Sündenbock. Andere ließen sich bereitwillig anstecken. Die Enttäuschten, Entlassenen, plötzlich zu Mitschuldigen Ernannten. Auch aus den Reihen junger ehemaliger Offiziere, die sich durch die radikale Abrüstung mit einem Schlag um ihren Ruf, ihre Ehre, ihre einst unangefochtene gesellschaftliche Stellung und ihr Einkommen gebracht sahen.

Aus diesen Reihen stammten die Attentäter. Sie glaubten, so hatten ihre älteren Kameraden es ihnen versichert, Deutschland durch die Ermordung Rathenaus einen Dienst zu erweisen. Sie taten, wie ich weiter oben zu beschreiben versucht habe, im Ergebnis das Gegenteil. Sie zerstörten einen nationalen Leuchtturm.

Die Tatbeteiligten und ihre Hinterleute wurden durch die preußische Polizei erstaunlich schnell identifiziert, quer durch das Reich gejagt und die beiden Mordschützen am 17. Juli 1922 auf Burg Saaleck nahe Bad Kösen an der Saale nach einem kurzen Feuergefecht getötet – einer durch eine Polizeikugel, der andere durch Selbstmord. Die anderen Beteiligten erhielten langjährige Zuchthausstrafen, unter diesen der später bekannt gewordene Schriftsteller Ernst von Salomon.

Wozu? Eine kleine Philosophie des Politikermordes

Was haben die Mörder des Walther Rathenau-Mordes bezweckt? Was haben sie erreicht? Sie glaubten, das Vaterland retten zu müssen, indem sie eine in ihren Augen reale Weltverschwörung abwendeten. Ihr Ergebnis war Nichts, Null, Asche, denn selbst wenn man für einen winzigen Moment unterstellt, dass es die in ihren Köpfen wabernde jüdisch-freimaurerische Welt-Verschwörung gab und Rathenau ein Teil davon war, erreichten sie nichts, die Welt drehte sich weiter.

Man schießt allerdings zu kurz, wenn man annimmt, dass diese Verschwörungs-Gläubigen ausschließlich Randfiguren aus dem Lager der Gestrandeten gewesen seien. Zum Beweis des Gegenteils lese man die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann, vor allem das Vorwort zur Neuauflage aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: Da wimmelt es von Freimaurern und deren Verschwörung. Allerdings war der Schriftsteller-Star klug genug, aus der Doppelvokabel ›jüdisch-freimaurerisch‹ das ›jüdisch‹ wegzulassen – vermutlich, weil Schwiegerpapa Pringsheim ihm sonst die Tantiemen für sein großbürgerliches Leben entzogen hätte.

Das Scheitern des Attentatszwecks gilt natürlich erst recht, wenn man, so wie ich, annimmt, dass es diese jüdisch-freimaurerische Verschwörung unter Einschluss von Rathenau nicht gab. Dann führten die Attentäter den Kampf gegen ein Phantom, welches sich, ganz allgemein gesprochen, so wie es seine Art ist, unbeeindruckt zeigte. Nebenbei bemerkt bewirkten sie die Verschärfung der staatlichen Repression. Damit passierte das, was praktisch die Folge aller politischen Attentate ist, ganz egal, wie diese ausgingen. Die Staatsmacht zog den Riemen einen Zacken enger.

Im Übrigen fällt es schwer, eine allgemeine Lehre für politischen Mord und Totschlag zu formulieren. In den seltensten Fällen wird das gesteckte Ziel erreicht. Selbst der erfolgreiche Tyrannenmord ist kein Garant dafür, dass sich die Verhältnisse im erstrebten Sinne verändern. Fast könnte man es eine Regel nennen, dass der Nachfolger des Ermordeten die Verhältnisse verschlimmert. Hierfür gibt es in der Neuzeit ungezählte Beispiele. Man nehme nur die unendliche Reihe der Attentate im zaristischen Russland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Auch ist die Regel der Zwecklosigkeit nicht auf autoritäre Herrscher spezialisiert. Die nahezu unablässige Folge von Attentaten auf US-amerikanische Präsidenten spricht eine eigentümliche Sprache. Nie wurde in befriedigender Weise geklärt, wer die Hintermänner der Mordtaten waren. Der bislang letzte aus der Mordserie war Ronald Reagan. Er war ein international beachtetes Hassobjekt und zugleich der beliebteste Präsident der Amerikaner. Reagan überlebte die ihm zugedachten Schüsse. Als er aus der Narkose erwachte, machte er sogleich die ihm eigenen Witze.

Wenn mich eines wundert, so ist es dies, dass es bei der Hassfigur Donald Trump nicht ernsthaft versucht wurde, ihn durch Mord aus dem Wege zu räumen. Vielleicht fürchteten seine Feinde den Märtyrereffekt. Vielleicht wollte einfach keiner seine sorgsam manikürte Hand selbst anlegen. Statt dessen setzten Trumps Feinde auf Lüge, Diffamierung, Fälschung, Bestechung und Betrug. Und waren damit erfolgreich. Unter diesem Gesichtspunkt sollte zukünftig der eine oder andere potentielle Attentäter seine Absichten überdenken. Dann allerdings müsste er, was ich bezweifele, eine Zusatzregel akzeptieren: Man muss sich den Anschlag finanziell leisten können.

Es existiert, so glaube ich erkannt zu haben, eine moderne Zuschauerregel: Weil Gutmensch moralisch denkt, ist er empört. Man gibt es nicht gerne zu, doch da sind sehr wohl Unterschiede im Grad der Empörung wahrnehmbar. Richtet sich die Tat gegen eine Person, die man selbst missbilligt, so macht sich heimliches Behagen breit. Hierfür gibt es gegenwärtig einen zuverlässigen Gradmesser: Man redet einfach nicht darüber.

Schlussbemerkung: Über meinem Schreibtisch hing viele Jahre das Portrait von Walther Rathenau. Es erinnerte mich jeden Morgen daran, dass die Dinge komplizierter sind, als sie zunächst erscheinen. Ich hängte das Bild ab, nachdem mich eine Besucherin ganz ohne Ironie fragte, ob ich das in meinen Jugendjahren und ganz ohne Perücke sei.

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