von Peter Brandt

Am 22. April dieses Jahres verstarb in seinem zweiten Heimatland Dänemark der Historiker, Kultur- und Sportsoziologe mit auch ethnologischer Kompetenz Henning Eichberg, in den letzten Jahren verschiedentlich Globkult-Autor; er wurde 74 Jahre alt. Ich habe ihn um 1980 zum ersten Mal persönlich getroffen und hatte daran gedacht, ihn im jetzigen Sommer auf dem Weg nach Norwegen – nach langen Jahren – zuhause zu besuchen. Wir standen über die Jahrzehnte in Kontakt: Bücher, Sonderdrucke, später in elektronischer Form, gingen hin und her.

Henning Eichberg war ein sanfter, liebenswürdiger, geistig reger und offener, lebensfroher, ungewöhnlich vorurteilsfreier Mensch und ein höchst produktiver wissenschaftlicher und – im weiteren Sinn – politischer Publizist mit einem sehr weiten Horizont. Obwohl ihm die Ärzte, wie ich erst kürzlich erfuhr, schon vor etlichen Jahren das Todesurteil gesprochen hatten, ließ er sich nicht unterkriegen und ging seinem Ende in beeindruckender Weise offenen Auges und das Leben, das er führen wollte, ausfüllend entgegen. Eine starke Stütze und auch intellektuelle Partnerin fand er in seiner zweiten Ehefrau Kirsten Kaya Roessler, Psychologie-Professorin in Odense.

In seiner wissenschaftlichen Arbeit nahm Eichberg Anregungen aus unterschiedlichen Richtungen und von unterschiedlichen Autoren auf, ohne dass man ihn einen Eklektizisten nennen dürfte, vor allem von Michel Foucault, Norbert Elias und August Nitschke, seinem akademischen Lehrer, der ihn auf dem Gebiet der historischen Verhaltensforschung stark beeinflusste. Die Dissertation beschäftigt sich mit frühneuzeitlicher Militärgeschichte, wobei der Zusammenhang von technologischen und kulturellen Aspekten im Fokus steht. Seit 1971 war Eichberg als Nitschkes Assistent am Institut für Soziologie der Universität Stuttgart beschäftigt; in diese Zeit fiel 1974/75 seine sozialanthropologische Feldforschung in West-Sumatra. Habilitiert hat er sich im Fach Soziologie.

Die wissenschaftliche Untersuchung und Problematisierung der Entstehung des modernen Sports führte ihn 1982 nach Dänemark. Als Gastprofessor, dann als Seniorforscher arbeitete er im Projekt »Idrætsforsk« an der Sporthochschule Gerlev; 2004 wurde er als Professor an das Institut für Sport und Biomechanik der Süddänischen Universität in Odense berufen, wo er eine atemberaubende, international ausstrahlende und zunehmend anerkannte Forschungs- und Publikationsaktivität entfaltete. Er war Verfasser, Mitverfasser, Herausgeber oder Mitherausgeber von mehr als 50 Büchern sowie Autor von Beiträgen in 240 Sammelbänden und von unzähligen Zeitschriftenaufsätzen, die in 17 Sprachen erschienen.

Die Auswanderung nach Dänemark im Alter von vierzig Jahren geschah nicht aus freien Stücken. Aus offensichtlich politischen Gründen blieben ihm die Türen der westdeutschen Universitäten verschlossen. Eichberg war in den 70er Jahren Ideengeber und führende Gestalt einer Gruppe von weit rechtsaußen kommenden jungen ›Nationalrevolutionären‹ namens »Sache des Volkes«, dann um die Zeitschrift »Wir selbst«, wo man erkennbar Impulse von der linken Jugendrevolte der späten 60er Jahre aufnahm. Vor allem in der Frühphase seines nationalrevolutionären Engagements spielten geistige Einflüsse der neurechten französischen Nouvelle École um Alain de Benoist eine wichtige Rolle. Es half Eichberg nicht, dass er sich von seinen politischen Ursprüngen am rechten Rand der CDU in Hamburg (wohin er mit seinen Eltern als Achtjähriger durch Vertreibung aus Schlesien und später Flucht aus der DDR gekommen war), also von der reaktionären Richtung, und dann auch von Varianten des Rechtsextremismus um 1980 längst verabschiedet hatte und sich inzwischen der Linken zurechnete, was auch in Kreisen der Alten und Neuen Rechten so empfunden wurde. Doch die Attitüde des Renegaten verschmähte er.

Die Erfahrung der Abstoßung durch das deutsche akademische Milieu machte Eichberg zusätzlich aufnahmebereit für das von Deutschland (wie von Frankreich) mit seinem traditionell konfrontativen politischen Stil in der politischen wie der Alltagskultur stark abweichende Dänemark. Dort wurde er bald Mitglied der (Links-) Sozialistischen Volkspartei, wo er sich hauptsächlich in der Kulturpolitik engagierte. Die von ihm hoch geschätzte Tradition des Grundtvigianismus, die in Nordeuropa auch und gerade für die politische Linke prägend gewesen ist, machte diesen Schritt noch leichter. Nie verlor er das Interesse an nationalen Fragen, insbesondere im Hinblick auf Minderheiten, und an Begriffen wie Realität des ›Volkes‹, die er in ihren verschiedenen Dimensionen immer wieder thematisierte. Ein Text von Anfang 1992 trägt den Titel: »Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.«

Wenn Eichberg sich positiv auf Volk und Nation bezog, dann ging es ihm nicht um das ›nationale Interesse‹, sondern stets um die nationale Identität. Als theoretischer Anarchist war er Anti-Etatist. Man kann wohl sagen, dass die Identität des Menschen als Individuum und als Gruppenwesen sein Lebensthema war. »Nationale Identität … lässt sich … beschreiben … nur als Verhältnis. Sie bezeichnet nach innen hin ein – oft als ›Krise von‹ oder ›Suche nach‹ charakterisiertes Verhältnis zu sich selbst. Und sie ist nach außen hin nur beschreibbar als Relation: Was das Dänische sei, ist nicht als solches erfahrbar, sondern nur in Relation zu je spezifisch anderen, zum Grönländischen zum Beispiel oder zum Deutschen, zum Pakistanischen oder auch zum Fünischen. Je nach Relation ist die ›Identität‹ also jeweils äußerst verschieden – ohne beliebig zu werden… Die nationale Identität erscheint … [anders als der ›Nationalcharakter‹] überwiegend in Frageform: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wer bin ich? … Sie scheint zudem eine Frage zu sein, die nie aufhört, sondern sich immer wieder neu stellt.« (In einem Vortrag 1987, abgedruckt in: Henning Eichberg, Die Geschichte macht Sprünge. Fragen und Fragmente, Koblenz 1996, hier S. 81 f.)

Nicht nur rechte Autoren haben Eichberg für den vermeintlich unpolitischen Zug seines Denkens kritisiert, für die Umgehung konkreter Machtrealitäten – und das schon in seiner nationalrevolutionären Phase. Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt, doch scheint mir, dass die Hervorbringung eines Großteils seiner stets anregenden, inspirierenden Denkansätze nur durch die Ausblendung der Ebene der Machtpolitik zustande kommen konnte.

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