Peter Brandt

(Vortrag bei der Eröffnung des Regionalzentrums Berlin der FernUniversität am 18. September 2009)

Den meisten der Anwesenden wird in Erinnerung sein, wie heftig und teilweise erbittert 1991 die Debatte um die künftige Hauptstadt des neu vereinigten Deutschland geführt wurde: zuerst in der Publizistik, dann im Parlament. Streng genommen ging es gar nicht um die Frage der Hauptstadt; als solche war Berlin nämlich schon im Einigungsvertrag benannt worden. Hauptstadt und Regierungssitz sind in der Regel, aber nicht zwingend identisch. So ist Den Haag seit rund 200 Jahren Sitz der zentralen politischen Institutionen der Niederlande, wird aber nicht als Hauptstadt angesehen. Diesen Titel hat man der alten Wirtschafts- und Kulturmetropole Amsterdam vorbehalten, die in politischer Hinsicht ohne jede konkrete Funktion ist.

 

So einfach konnte es sich der Bundestag bei der Entscheidung zwischen Bonn und Berlin, worauf sich die Diskussion schnell zuspitzte, nicht machen, existierte doch ein Beschluss des ersten Bundestags vom 3. November 1949, wenige Monate nach der Gründung des neuen Staates auf dem Territorium der drei westlichen Besatzungszonen, dem zufolge sich das Parlament in Berlin versammeln würde, sobald freie Wahlen in ganz Berlin und im östlichen Teil Deutschlands möglich seien.

Bekanntlich hat man bis heute keinen vollständigen Umzug der Ministerien von Bonn nach Berlin vorgenommen, und ich will hier auch keine Vermutungen darüber anstellen, ob sich in den nächsten Jahren der Sog in diese Richtung verstärken wird. Der Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991 war insofern eindeutig, als die Verlagerung des politischen Entscheidungszentrums vom Rhein an die Spree nun nicht mehr zur Disposition stand.

Die vorangegangene Parlamentsdebatte zeigte, wie stark der symbolische Gehalt dessen war, worüber man stritt – neben und vielleicht noch vor den sachlichen Erwägungen auf beiden Seiten, die ja übrigens parteipolitisch gemischt operierten, mit Ausnahme der PDS, ohne die der Antrag zugunsten Berlins keine Mehrheit gefunden hätte. Auf der symbolischen Ebene ging es, etwas vereinfacht gesagt, darum, ob man die neue, gesamtdeutsche Bundesrepublik als Fortsetzung der alten Bonner Republik ohne Wenn und Aber, die Vereinigung als deren schlichte Erweiterung nach Osten verstehen wollte oder ob man trotz staatsrechtlicher Kontinuität des ursprünglich westdeutschen Gemeinwesens einen stärkeren Akzent auf die seit 1990 neue Qualität des deutschen Staates legen wollte.

So etwas wie Hauptstädte als Sitze der Herrschaft und der Zentralverwaltung gab es schon in den Reichsbildungen der frühen Hochkulturen, ob wir an Ägypten, Mesopotamien, China oder auch an Südamerika denken. Mit dem Übergang vom nomadischen zum sesshaften Dasein, der durch die steigende Produktivität der Agrarwirtschaft ermöglichten Stadt-Land-Differenzierung und beruflichen Arbeitsteilung war die Grundlage dafür geschaffen worden. Für die Stadtstaaten der griechischen Poleis stellt sich die Hauptstadt-Frage nicht, ebenso wenig für das antike Rom, wo ein Stadtstaat nach und nach zum Weltreich expandierte.

In Europa entwickelte sich das avancierte Städtewesen des Römischen Reiches in den katastrophischen Umwälzungen der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends bis auf vergleichsweise unbedeutende Reste zurück, bevor eine neue Welle von Städtegründungen und städtischer Blüte – als Teil eines allgemeinen ökonomisch-gesellschaftlichen Aufstiegs einsetzte, in Deutschland etwa um 1100. Hauptstädte im heutigen Verständnis sind ein Produkt dessen, was die Historiker Frühe Neuzeit nennen, etwa 1500 bis 1800, als der moderne, souveräne Staat entstand, überwiegend in der Form der absoluten Monarchie. Gerade die Ausdifferenzierung der Lebenssphären schuf verstärkt das Bedürfnis, sie politisch zu reintegrieren.

Das feudale Königtum des Mittelalters, auf der Basis einer wenig integrierten, politisch uneinheitlichen und locker verfassten Gesellschaft, gebunden an die persönliche Repräsentation der Herrschaft, hatte als Reisekönigtum funktioniert. Diese ambulante Ausübung des Amtes war damals schon aus praktischen Gründen unvermeidlich, um für den Herrscher und sein Gefolge den Unterhalt zu sichern. Selbst für Paris, bis heute die Hauptstadt par exéllance, mit seiner rund anderthalb Jahrtausende zurück zu verfolgenden Rolle, gilt: Es stellte zwar die bevorzugte, nicht aber die alleinige Residenz dar. Dennoch ist augenfällig, dass speziell mit Paris und London ein schon ganz früh herausragender Hauptstadttyp Gestalt annahm, der beispielgebend wirkte, wo Bevölkerungskonzentration, politisch-administrative, wirtschaftliche und kulturelle Funktionszuweisungen zusammenwirkten. ›Natürliche‹ Hauptstädte gibt es nämlich nicht. Stets liegen politische Entscheidungen zugrunde.

Im französischen und britischen Fall hängt die frühe Entwicklung der wichtigsten Städte zu Hauptstädten mit dem planmäßigen Ausbau des unmittelbaren königlichen Machtbereichs seit der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende zusammen, während im deutschen Fall die königliche bzw. kaiserliche Machtstellung schon seit dem Hochmittelalter erodierte und die Herausbildung des modernen souveränen Staates in den größeren Einzelfürstentümern, also gegen das Reich erfolgte. Die in der Epoche des Absolutismus als künstliche Planstädte gegründeten territorialstaatlichen Residenzen wie Hanau oder Erlangen, Ludwigsburg, Mannheim oder Karlsruhe zeugen ebenso von diesem Vorgang wie generell die Formierung jenes für Deutschland bis heute charakteristischen mehrpoligen Städtesystems mit – zumindest – München, Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf und Leipzig als Submetropolen.

Ähnlichkeit mit den erwähnten absolutistischen Neugründungen von Hauptstädten (die es in großer Zahl auch außerhalb Deutschlands gab, denken Sie nur an Sankt Petersburg) hat der Ausbau kleiner Siedlungen teilweise dörflichen Zuschnitts zu neuen Hauptstädten bei revolutionären Umwälzungen mit Schaffung neuer Staatswesen, so in den USA (Washington D.C. anstelle von Philadelphia) und vielen seiner Einzelstaaten sowie – mehr als ein Jahrhundert danach – in der Türkischen Republik (Ankara anstelle von Istanbul, dem früheren Byzanz bzw. Konstantinopel als Zentrum des Oströmischen, dann des Osmanischen Reiches). Zahlreiche andere, auch kuriose Beispiele ließen sich ergänzend anführen. Wir wollen jetzt aber konkreter als bisher die deutsche Hauptstadtproblematik in den Blick nehmen.

Das seit dem 15. Jahrhundert vermehrt so genannte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, ein lehnsrechtlich-genossenschaftlicher Verband mit einem tradierten, religiös konnotierten Universalreichsanspruch, schon lange vor seiner Auflösung unter dem Einfluss von Napoleon 1806 ein Anachronismus (Voltaire spottete, es sei weder heilig, noch römisch, noch reich), dieses Gebilde konnte keine Hauptstadt hervorbringen, weil es sich nicht zum modernen Staat weiter entwickelte, vielmehr letztlich den gegen das Reich mehr und mehr Eigenstaatlichkeit gewinnenden deutschen Territorialfürstentümern erlag. Dem Selbstverständnis nach wäre die Hauptstadt des alten Reiches Rom gewesen, das aber seit Jahrhunderten außerhalb des Einflussbereichs der sog. Römischen Kaiser deutscher Nationalität lag.

Die Regierungs- und – allgemeiner – Hauptstadtfunktionen blieben indessen verteilt: In Wien residierte der Kaiser, seit die Krone an die Habsburger übergegangen war, ergänzt um weitere Regierungsämter, während der Reichserzkanzler und die höchsten geistlichen Würdenträger in Mainz saßen. In Regensburg tagte seit 1663 der Immerwährende Reichstag, die Vertretung der, vor allem hochadligen, Reichsstände, in Wetzlar das Reichskammergericht. Schließlich verdienen Nürnberg, wo die Reichskleinodien, darunter Krone, Reichskreuz und Reichsapfel, Krönungsmantel und Heilige Lanze, aufbewahrt wurden, und nicht zuletzt Frankfurt, wo der Kaiser gekürt und gekrönt wurde, Erwähnung.

Alle diese Orte, die die Einheit des Alten Reiches zum Ausdruck brachten, tauchten später wieder auf, wenn die Deutschen ein Hauptstadt suchten, zuletzt 1990/91, als etwa die ›Bayernpartei‹ allen Ernstes Regensburg vorschlug. Frankfurt, Freie, also kaiserunmittelbare Reichsstadt seit 1372, wurde 1815, nach der Konstituierung des Deutschen Bundes Sitz des Bundestags. Dieser Zusammenschluss war ein Staatenbund, eine Nachfolgeorganisation des Alten Reiches, kein Bundesstaat, sowie der damalige Bundestag kein Parlament, sondern die Versammlung der Gesandten der fast uneingeschränkt souveränen Mitgliedsstaaten war.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in einer Phase rapiden sozialen und mentalen Wandels, ergriff die Forderung nach »Einheit und Freiheit«, nach dem gesamtdeutschen Verfassungsstaat, anfangs nur von Intellektuellen-Zirkeln verfochten, immer weitere Volksschichten, und als 1848 im Zuge der Märzrevolution eine Deutsche Nationalversammlung gewählt wurde, trat sie in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Da auch der sog. Reichsverweser und die neue Reichsregierung in Frankfurt amtierten, lässt sich hier erstmals von einer deutschen Hauptstadt sprechen. Das hoffnungsvoll begrüßte Paulskirchenparlament und die von diesem erarbeitete fortschrittliche Verfassung scheiterten bekanntlich schon in den Folgejahren an den Machtverhältnissen in den Einzelstaaten. Ein Jahrhundert später, 1949, sollte die Mainmetropole noch einmal ins Spiel kommen, als eine große Minderheit des Bundestags, vor allem aus der Sozialdemokratie, verhindern wollte, dass Regierung und Parlament des neu gebildeten trizonalen Staatsfragments ihre Arbeit links des Rheins fortführen.

Die moderne Nation, verstanden als gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhang und Bewusstseinsgemeinschaft, entwickelte sich also, wie schon deutlich geworden sein dürfte, in Deutschland nicht im Rahmen eines schon existierenden staatlichen Gehäuses, wie es etwa in Frankreich der Fall war, sondern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst als ›Kulturnation‹ der kleinen Schicht Gebildeter aus dem Bürgertum und dem sich sozial und mental öffnenden Teil des Adels. Bevor sich die bildungsbürgerliche Kulturnation im Widerspruch gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu politisieren begann, fand sie in Weimar, der kleinen Residenz eines kleinen thüringischen Herzogtums mit damals wenigen tausend Einwohnern, ihr geistiges Zentrum. Es waren ja nicht nur Goethe und Schiller, Wieland und Herder, die Weimar für Jahrzehnte zu einer Hauptstadt des Geistes im politisch zersplitterten Deutschland machten.

Die Erinnerung an diese geistige Blütezeit in einer Periode politischer Ohnmacht an eine unzweifelhaft humane Tradition veranlasste nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem revolutionären Wechsel vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarisch-demokratischen Republik die neu gewählten Abgeordneten der verfassungsgebenden Nationalversammlung, in Weimar zu tagen, als in Berlin bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen tobten, und dort die danach benannte Verfassung auszuarbeiten, die, nebenbei gesagt, besser war als ihr Ruf. Nicht daran scheiterte die Weimarer Republik. Obwohl es in Süddeutschland 1918/19 Bestrebungen in diese Richtung gab, wurde jedoch die Verlegung der Reichshauptstadt aus Berlin heraus kein wirkliches Thema.

Damit sind wir endlich bei Berlin. Eine gesamtdeutsche Hauptstadt Berlin, wir sahen es, lag noch Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs nahe, auch gerade deswegen, weil die Stadt an der Spree als Hauptstadt des neben Österreich größten deutschen Einzelstaats fungierte. Berlin wurde 1871 deswegen zur deutschen Hauptstadt, weil der lange erstrebte und von der liberal-nationalen Bewegung des Bürgertums vorbereitete Nationalstaat faktisch erst auf kriegerischem Weg unter preußischer Hegemonie und unter Ausschluss Österreichs zustande kam. Der König von Preußen war jetzt im Hauptberuf Deutscher Kaiser, der preußische Ministerpräsident (jedenfalls in der Regel) zugleich Reichskanzler. Preußische und Reichsverwaltung waren eng miteinander verzahnt, wobei übrigens die obere Reichsebene im Lauf der Zeit an Selbstständigkeit und Gewicht gewann. Entsprechendes galt für den Einfluss des Reichstags, der Volksvertretung.

Die herausgehobene Rolle Berlins innerhalb Brandenburgs bzw. Preußens geht übrigens darauf zurück, dass sich die stolzen Bewohner der Stadt Mitte des 15. Jahrhunderts im »Berliner Unwillen« offen gegen Kurfürst Friedrich II., genannt »Eisenzahn«, er war der zweite Herrscher aus dem Geschlecht der Hohenzollern, empörten. Friedrich Eisenzahn wollte die städtische Autonomie brechen und setzte sich damit schließlich auch durch. Paradoxerweise wurde just der Bau der Burg, des später erweiterten, 1950 gesprengten und jetzt zum Wiederaufbau anstehenden Stadtschlosses, als Demonstration des Sieges über die aufsässigen Berliner und zwecks ihrer wirksameren Niederhaltung, zum Ausgangspunkt der dauerhaften Residenz der Hohenzollern und damit der preußischen, dann auch der deutschen Hauptstadt.

Immerhin wuchs Berlin nach 1871 schnell in seine neue Rolle hinein. Eine der wenigen wirklich gesamtdeutschen Universitäten war schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Humboldtschen Neugründung hier beheimatet. Eine gezielte staatliche Förderung ließ Berlin auch international zu einem der wichtigsten Wissenschaftsstandorte werden. Auch wenn Leipzig Vorort des Verlagswesens blieb, zogen die Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen von Westen und Süden an die Spree. An die Transportwege, vor allem die Eisenbahnlinien, optimal angebunden, expandierte Berlin wie keine andere deutsche Stadt auch hinsichtlich des Bevölkerungswachstums (Verdoppelung auf fast 2 Millionen zwischen 1880 und 1900) und wirtschaftlich, namentlich im Finanzwesen und in der Elektro- und Maschinenbauindustrie, ohne allerdings jemals das Niveau von London oder Paris zu erreichen, wohl auch nicht kulturell, allenfalls in den wenigen Jahren der ›Goldenen Zwanziger‹. Als Ergebnis der früheren Vielstaaterei und der föderalen Tradition musste Berlin eben weiter gegen andere deutsche Hauptstädte konkurrieren, so dass es in den einzelnen Bereichen unterschiedliche Ausprägungen der Zentralität von Berlin gab und gibt.

Die Abneigung der deutschen Provinz, auch aus der Bildungsschicht, gegen Berlin während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik speiste sich aus unterschiedlichen Quellen: antiborussische Ressentiments mischten sich mit rückwärtsgewandter, romantisierender Verklärung des sog. altdeutschen Städtewesens, etwa in Gestalt Nürnbergs, der »deutschesten aller deutschen Städte«, während Berlin typisch schien für die schnell emporgekommenen, molochartigen Großstädte der Moderne und ihrer Massen- oder (wie man sagte) ›Asphaltkultur‹. Dazu passte, aus der Sicht konservativer, zivilisationskritischer Beobachter, dass die Metropole Berlin ein freigeistiges Bürgertum mit hohem jüdischem Anteil und eine politisch mobilisierbare Arbeiterschaft beheimatete. (Gewaltige Mehrheiten bei Wahlen für die Sozialdemokratie im späten Kaiserreich, sie war damals ja eine fundamental-oppositionelle Partei, und Stimmenanteile von bis zu einem Drittel und mehr für die KPD in der Weimarer Republik zeugen davon.)

Bei den phantastischen Plänen Adolf Hitlers und seines Hofarchitekten Albert Speer, die Berlin nach dem ›Endsieg‹ zu einer nie gesehenen, gigantischen Welthauptstadt ›Germania‹ ausbauen wollten, sollte mit dem alten Namen auch die Erinnerung an das ›rote Berlin‹ und allem, was damit assoziiert wurde, getilgt werden. Auch wenn es weder vor noch nach 1933 eine besondere Hinneigung der Einwohner Berlins zur NSDAP und zum ›Dritten Reich‹ gab (eher im Gegenteil), konnte es nicht verwundern, dass bei Ende des Zweiten Weltkriegs die Stadt als Machtzentrale des NS-Regimes im Ausland, aber auch in weiten Teilen Deutschlands negative Assoziationen weckte. 1990/91 hat man ja seitens mancher Bonn-Befürworter versucht, einiges von dem neu zu beleben.

Konrad Adenauer, die führende Gestalt der neu gegründeten bürgerlichen Sammlungspartei CDU in Westdeutschland, hatte im Frühjahr 1946 in der Auseinandersetzung mit Jakob Kaiser, dem Vormann der CDU in Berlin und der Sowjetzone, darauf bestanden, es sei nach der Wiederaufrichtung eines deutschen Staates für den Süden und den Westen Deutschlands unzumutbar, die politische Zentrale wieder nach Berlin zu verlegen, und zwar unabhängig von den Besatzungsverhältnissen. Adenauer selbst hatte jedes Mal, wenn er vor 1933 in seiner Eigenschaft als Mitglied des preußischen Staatsrats im Eisenbahnzug nach Berlin gefahren sei, bei Magdeburg die Jalousien herunter gelassen. »Damit ich diese asiatische Steppe nicht sehen musste«.* Er war beileibe nicht der Einzige, der die Hauptstadt Berlin am liebsten endgültig losgeworden wäre.

Dass es dazu nicht kam, war letztlich ein Resultat des Ost-West-Konflikts. Für die Sowjetunion und die hinter ihr stehenden (oder in der Absicht, über Neutralitäts- bzw. Brückenkonzepte die nationale Einheit zu bewahren, balancierenden) Kräfte, wie der erwähnte Jakob Kaiser, war es selbstverständlich, den Wiederbeginn des politischen Lebens in Berlin (der inmitten der Ostzone gelegenen Vier-Sektoren-Stadt und Sitz des Alliierten Kontrollrats für ganz Deutschland) zu konzentrieren. Als die staatliche Teilung Deutschlands vollzogen wurde – aufgrund wechselseitiger Aktionen und Reaktionen aller Siegermächte, nicht aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses, sonst wäre die komplizierte Konstruktion für Berlin völlig unsinnig gewesen –, nahm die Regierung der DDR trotz Viermächtestatus ihren Sitz im Ostteil Berlins, das damals noch schlicht als ›deutsche Hauptstadt‹ firmierte. Wie die der Bundesrepublik zielte die erste Verfassung der DDR von 1949 noch auf ganz Deutschland, und beide seit Ende 1948 getrennten Berliner Stadtverwaltungen beanspruchten die Zuständigkeit für ganz Berlin.

Vorausgegangen war der, an der legendären Luftbrücke und dem Behauptungswillen der Berliner schließlich gescheiterte Versuch der Sowjetunion, durch die Blockade der Zugangswege West-Berlins zu Lande und zu Wasser die Alliierten zur Aufgabe ihrer bundesdeutschen Weststaatspläne oder zum Abzug aus Berlin zu zwingen. Damit wurde Berlin in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik auf neue Weise zum nationalen Symbol, und es schien nunmehr undenkbar, den Anspruch der Stadt, die Hauptstadt Deutschlands zu sein, grundsätzlich zu bestreiten.

Diese Situation hielt unverändert an, solange Berlin einer der Brennpunkte des Kalten Krieges blieb, etwa bis Mitte der 1960er Jahre. Mit der ›Politik der kleinen Schritte‹, den Passierscheinabkommen der Jahre ab 1963, die die Folgen des Mauerbaus abmilderten, machte die Senatsregierung Berlin zum Experimentierfeld der Entspannungspolitik. Diese trug in der Folgezeit objektiv dazu bei, Voraussetzungen für die deutsche Einigung zu schaffen, auch wenn die Mehrheit, einschließlich der politischen Führungsschicht, das mehr und mehr für (in absehbarer Zeit) unerreichbar hielt. Die Weiterexistenz der Absurdität West-Berlin mit seinem Zwitterstatus über die Jahrzehnte hinweg hielt die deutsche Frage auch insofern offen, als sie eine starre Konfrontation beider Teilstaaten und Machtblöcke analog der Situation in Korea verhinderte. Immer wieder mussten praktische Verabredungen getroffen werden, selbst in den Zeiten des Kältesten Krieges, und es lag gewissermaßen auf der Hand, dass eine echte, langfristige Perspektive der Halbstadt außerhalb irgendeiner Art von gemeindeutscher Perspektive nicht existierte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass deutschlandpolitische Anstöße in der Zeit der Zweistaatlichkeit immer wieder gerade von Berlin ausgegangen sind.

Ein Weiteres und Letztes: Wenn wir uns an Adenauers Abneigung gegen Berlin erinnern, drängt sich die Überlegung auf, dass er mit seinem nachdrücklichen Votum für Bonn als Regierungssitz im Jahr 1949, wobei er auch den Erwartungen der Alliierten, namentlich der Briten, entsprach, gegen seine Absicht selbst dazu beitrug, die Übertragung der politischen Hauptstadtfunktionen an Berlin bei Wiederherstellung der staatlichen Einheit offen zu halten. Man darf zweifeln, ob Frankfurt tatsächlich ein Provisorium geblieben wäre, als solches konnte man das kleine Bonn – nach den Worten des Publizisten Johannes Gross ein »kapitales Minimum« – trotz sukzessiver Verbesserung der dortigen Infrastruktur bis zum Schluss ansehen, wenn man wollte. Und trotzdem war die Mehrheit für Berlin im Juni 1991 denkbar knapp.

Berlin zeigt heute wesentliche, typische Merkmale einer Hauptstadt. Es ist nicht nur die einwohnerstärkste Stadt unseres Landes, sondern auch eine europäische Kulturmetropole und ein Attraktionspol für ausländische wie inländische Gäste. Ich wollte Ihnen heute Abend verdeutlichen, dass diese Situation nichts Natürliches oder in irgendeiner Weise Zwangsläufiges ist. Seitdem Berlin überhaupt in Betracht kam, standen bei jeder staatlichen Umwälzung oder Neugestaltung immer wieder Alternativen bereit, von denen die Bonner in den Jahren 1990/91 nur die letzte war.

* Reiner Pommerin, Von Berlin nach Bonn. Die Alliierten, die Deutschen und die Hauptstadtfrage nach 1945, Köln/Wien 1989, S. 47; Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeption in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949, 2. erw. Aufl. Stuttgart 1980, S. 433.

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