von Lutz Götze

In der Geschichtswissenschaft wird der Übergang vom Mittelalter zur ›frühen‹, das 16. bis 18. Jahrhundert umfassenden, Neuzeit seit jeher an unterschiedlichen Daten festgemacht. Genannt worden sind hauptsächlich der Fall Konstantinopels unter dem Ansturm der Osmanen 1453 und die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg kurz danach in Mainz, die (tatsächlich mindestens zweite und eigentlich dem Seeweg nach Indien geltende) ›Entdeckung Amerikas‹ 1492 durch Christoph Kolumbus und Martin Luthers Thesenanschlag 1517. Im Hintergrund aller dieser Ereignisse standen die gewaltsame europäische Expansion, die Herausbildung eines früh kapitalistischen Weltmarkts, unter Verlagerung der Haupthandelswege in den Atlantik, die Ausdehnung und Verdichtung von protoindustriellen gewerblichen Zonen, die zunehmende Kommerzialisierung der feudalen Agrarwirtschaft einschließlich der Rentenform sowie die Entstehung des modernen souveränen Staates und die militärischen Umwälzungen mit der Durchsetzung der Söldner- statt der früheren Ritterheere, nicht zuletzt auch die geistig-künstlerische Bewegung der Renaissance.

Hier wird in diesem Zusammenhang der Blick auf ein weniger bekanntes Ausgangsdatum gelenkt. Gestützt auf reichhaltige Reiseerfahrungen in Mittel- und Südamerika sowie das Studium spanischer und indianischer Zeugnisse, lautet meine These:

Die frühe Neuzeit nahm ihren Anfang im Moment der Begegnung des großen Inka-Königs Atahualpa mit dem spanischen Eroberer Francisco Pizarro im Badeort Cajamarca, hoch oben in den nördlichen Anden des heutigen Peru. Das Treffen ereignete sich im Jahre 1532.

Der Raubgeselle aus Spanien war, von Acapulco gen Süden segelnd, mit seinen Mörderbanden 1531 an der peruanischen Küste gelandet: angenommen wird ein Ort in der Nähe der heutigen Hauptstadt Lima. Dem Inka folgte er, informiert vermutlich von verräterischen Indios, in den Norden des Reiches, wo der Nachfolger des Pachacamac, nachdem er seinen Halbbruder und Feind Huascar besiegt hatte, residierte und in den heißen Quellen Cajamarcas Linderung von Gicht und Arthrose erhoffte.

Das einst mächtige Inkareich war durch den Bruderkrieg geschwächt, was Pizarro erfahren hatte und sich zunutze machte. Das erste Treffen des Inka und des Konquistadors soll neugierig – friedlich verlaufen sein, wie Quellen berichten. Atahualpa mit seinen achtzigtausend Gefolgsleuten hegte keinen Argwohn gegen den Spanier mit seinen lediglich einhundertachtundsechzig Soldaten, vierzig Pferden und wenigen Feuerwaffen. Bei der zweiten Begegnung jedoch ließ Pizarro – sich dabei eine Legende vom heimgekehrten bärtigen Inka-Priester Viracocha zu eigen machend – Atahualpa kurzerhand festnehmen und dessen Anhängern mitteilen, ihren König erst dann wieder freizulassen, wenn sie einen ganzen Raum seines Palastes mit Gold und Silber gefüllt hätten.

Andere Quellen vermelden, Atahualpa habe selbst dieses Angebot gemacht, um sein Leben zu retten. Wie auch immer: In den Folgetagen schleppten die Indios Gold und Silber von unschätzbarem Wert herbei und selbst, als sich Atahualpa bereit erklärte, den katholischen Glauben anzunehmen, ließ Pizarro den Inka nicht frei, sondern verhängte das Todesurteil über seinen Gefangenen. 1533 starb Atahualpa qualvoll unter der Garotte.

Für die Inka waren Gold, Silber und Edelsteine nichts als Material, hatten allenfalls einen geringen Tauschwert-vergleichbar Muscheln, Stoffen und anderen Produkten. Für die Spanier hingegen wurden sie zum Wert schlechthin und begründeten in der Folgezeit die Umwertung aller Werte. Gold, Silber und Edelsteine wurden fortan zum Maß aller Dinge und bleiben es bis in die Moderne.

Vor allem Gold. Der Mythos von El Dorado ist sicher weit älter als jenes Treffen 1532, doch erst die Inbesitznahme unvorstellbarer Goldvorräte schuf eine vollkommen neue Denkweise und veränderte die Wirklichkeit fundamental. Über Jahrhunderte hinweg wurde stets der Wert der Waren in Gold angegeben; bis in die Moderne konnte jeder Dollar in Gold umgetauscht werden. Erst die Erfindung des Papiergeldes – von Johann Wolfgang Goethe im Faust II beschrieben – ebnete den Weg der Befreiung der Wirtschaft und des Handels vom Gold als grundlegendem Tauschwert. Doch noch heute haftet dem Material der Mythos des Einmaligen, Glänzenden und Wertbeständigen an, wie gerade die Turbulenzen um Euro und Dollar des Jahres 2017 beweisen.

Die frühe Neuzeit also, so meine These, verdankt ihr Entstehen einem einzigartigen Verbrechen der spanischen Konquistadoren. Sie hat sich davon nie erholt, vielmehr haben Raub und Mord des Pizarro den Weg bereitet für unzählige weitere schreckliche Verbrechen bis in unsere Tage.

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