Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

An den Reaktionen auf die SPD-Wahl der neuen Vorsitzenden scheint vor allem eines echt zu sein: das Erstaunen. Ex negativo kann man daraus schließen, was die Mehrzahl der Kommentatoren, berufen oder unberufen, von der innerparteilichen Demokratie der Genossen halten: nichts. Allen galt als so gut wie bewiesen, dass das Paar Geywitz/Scholz das Rennen machen würde: Schließlich wollte es die Parteispitze so und das allein würde zählen. Mit der Wahl vom vergangenen Samstag ist der Partei auf einen Streich gelungen, woran ihre große Konkurrentin seit längerem erfolglos laboriert: Sie hat sich der Mitverantwortlichen vom Sommer 2015, dessen Erbschaft noch immer die politische Landschaft vergiftet, endgültig entledigt und ihr gelang die Rückkehr zu innerparteilichen Verhältnissen, wie sie zuletzt Anfang der dreißiger Jahre herrschten: Sie ist jetzt charismafreie Zone.

Zu den Eigenarten der Politik gehört, dass ursprünglich analytisch gebrauchte Begriffe unversehens umschlagen können. Dem einst von Max Weber ins Spiel gebrachten Begriff des unabdingbar zur politischen Führung benötigten Charismas folgte wenige Jahre später der programmatische Ruf nach dem charismatischen Führer – der Rest der Geschichte ist bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Seither fürchten die Deutschen das politische Charisma, aber sie entgehen ihm deswegen nicht. Das wird auch die deutsche Sozialdemokratie einholen. Mit ihrer jüngsten Entscheidung hat sie sich, vermutlich für längere Zeit, von der Macht verabschiedet und muss nun sehen, wie sie ihre Minister samt Tross aus einer Regierung zurückzieht, in der sich die Mehrzahl der Akteure bereits aufs mentale Altenteil zurückgezogen hat – anders wäre ein Streich wie das sogenannte Klimapaket nicht zu erklären.

Grob gesehen gab es drei Reaktionen zur Wahl: Neben dem Jubel der Naturprogressiven in der Partei die stille, mit Einheitsappellen durchsetzte Panik der Ex- und Noch-Sympathisanten der alten SPD bis hinauf in die Parteispitze und die leicht zynisch klingenden Propheten des freien Falls: S-P-D adieu. Das ist bei einer Partei, die sich beharrlich weigert, ihren vergangenen Wahlverlusten auf den Grund zu gehen und daraus eine angemessene Politik zu entwickeln, nicht weiter verwunderlich. Die SPD, an die sich Generationen von Wählern gewöhnt hatten, kannte nur drei Modi des Existierens: als Noch-, als Wieder- und als kommende Regierungspartei. Nicht nur Genossen nannten diesen Habitus staatstragend: Seit Godesberg regulierte die Partei auf der programmatischen Seite nach, was auf der Wählerseite angesagt war. Das Ergebnis nannte sich Volkspartei. Insofern war der Genosse Trend während der fetten Jahre auch immer ein Zeitgenosse, der das Gras wachsen hörte.

Seit letztem Samstag ist die SPD keine staatstragende Partei mehr. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet das eingefahrene Abstimmungsergebnis: Sie hat sich mit dem Los abgefunden, eine Programmpartei unter anderen zu sein, mit keinem weitergehenden Anspruch als dem, gelegentlich einmal wieder mitregieren zu können, wenn die Umstände es erlauben, am besten im festen Dreierverbund mit Grünen und Linkspartei.

Dabei hat sie, was das Programmatische angeht, keineswegs zugelegt. Sie hat nur ihre Absicht bekundet, ein paar Pfründeninhabern bei Gelegenheit das Ruhepolster, genannt GroKo, unterm Hintern wegzuziehen. Programmatisch ist die neue SPD wenig mehr als der kleinste gemeinsame Nenner von Grünen und Linkspartei, mit einem Hauch Nostalgie, den eine Partei, deren Mitglieder hauptsächlich im Alterssegment 60+ zu finden sind, bitter nötig hat. Wobei die Altersstruktur mit dafür verantwortlich ist, dass die Parteispitze, auch das ein Novum der Parteigeschichte, von ihrer Jugendorganisation in Geiselhaft genommen werden kann, deren Grenzen zu den beiden genannten Konkurrenzparteien hin ohnehin verschwimmen.

Unbeirrbar hält der siegreiche Teil der SPD-Basis an dem altgedienten Irrglauben fest, ein Linksruck der CDU/CSU, herbeigeführt durch die asymmetrische Demobilisierungsstrategie der Kanzlerin, habe die Partei in Bedrängnis gebracht und sie müsse auf diese Herausforderung mit einer Linksverschiebung der eigenen Positionen antworten. Sieht man etwas genauer hin, dann ist eher das Gegenteil der Fall: In der GroKo durfte die SPD, abseits der Kanzlerfrage, weitgehend stressfrei vor sich hinwerkeln, ohne das Ergebnis jemals effektiv auf dem eigenen Konto verbuchen zu können.

Und so lautet die Falle: Jeder Versuch der Partei, nach links auszuweichen, vernichtet die Erfolgsbilanz der Regierungsjahre, jeder Versuch, sie festzuhalten, deklassiert die Partei zur profillosen Steigbügelhalterin einer längst auf Abruf regierenden Kanzlerin, die den Machterhalt über Prinzipien stellt. Nur wenn irgendwo die Finanzierungsfrage sich stellt, erinnert der politische Gegner genüsslich an den ältesten Gassenhauer der Republik, dass ›Sozis‹ eben nicht mit Geld umgehen könnten.

Auch Parteien besitzen ein gewachsenes Innenleben, eine – nicht mit Tradition zu verwechselnde – ›Kultur‹. Die naive ›Linksverschiebung‹ der Partei, soweit nicht bloß Ankündigungs-Tamtam, beschädigt die in langen Jahrzehnten gebahnten Wege innerparteilicher Auseinandersetzung – und Profilierung – zwischen ›rechten‹ und ›linken‹ Sozialdemokraten, die immer auch das Wählerspektrum im Blick behielt und ohne die das Konzept ›Volkspartei‹ ohnehin gegenstandslos geworden ist. Genau betrachtet entsprang bereits das mittlerweile gescheiterte Projekt Aufstehen, soweit von linken Sozialdemokraten mitgetragen, der dadurch hervorgerufenen Notlage: der darin aktive Personenkreis suchte, um nicht vor sich selbst das Gesicht zu verlieren, den Schulterschluss mit einer realistisch denkenden Linken in den Reihen von Linkspartei und Grünen, um dem Dauerdilemma der eigenen Partei auf diese Weise ein Schnippchen zu schlagen. Nach den jüngsten Manövern fragt man sich, ob der Rest der Partei überhaupt begriffen hat, was da passierte.

Man fragt sich so manches, zum Beispiel, ob es der Partei wirklich entgangen sein sollte, dass die Hauptströme der Wähler sich längst um andere Themen gruppieren: allen voran die innere Sicherheit, die Regulierung der Zuwanderung, die Überforderung der Staatsorgane, angefangen bei der Polizei, den Gerichten und einem noch längst nicht auf die Erfordernisse einer Einwanderungsgesellschaft eingeregelten Schulsystem, schließlich und endlich die Sorge um eine torkelnde Altersversorgung, die nun, nach Schröders gescheitertem Vorstoß, auch die aktuelle Bundesregierung vertrauensvoll in die privaten Hände der Versicherten hineinzwingen möchte. Da wirkt die Bereitwilligkeit, mit der die Partei, Hand in Hand mit der Klimakanzlerin, einer NGO-gesteuerten Schülerbewegung wirkliche oder eingebildete Macht über das Regierungshandeln einräumt, wie eine schlechte Parodie auf den in Grund und Boden verdammten Populismus der AfD. Mehr als Scheinpopularität ist hier ohnehin nicht zu holen. Zu undurchsichtig ist die Materie und zu rasch droht alles mühsam ›Erreichte‹ an den Pranger zu geraten, sobald der nächste Sommer oder das nächste Pop-Idol der Klimabewegung neue Energien zuführt.

Die einfache Wahrheit ist: in all diesen wirklichen Fragen der Nation ist die Partei, wie der Rest des Landes, tief gespalten. Es besteht auch keine gegründete Hoffnung, sie könnte mit Hilfe der alten Tugenden der Diskursbereitschaft und des offenen, ergebnisorientierten Schlagabtausches wieder zusammenfinden. Mit diesem Befund nähert man sich der tiefsten Krise der Sozialdemokratie: der ohne Not zu einem Kampf auf Leben und Tod ausgeweiteten Fehde mit einer AfD, die, man erinnere sich, einmal angetreten war, um in den Gefilden der von ihrer Kanzlerin auf Alternativlosigkeit eingeschworenen CDU zu wildern.

Der täglich erneuerte ›Kampf gegen Rechts‹ führt der AfD in freier Konkurrenz jenen Teil der Wählerschaft zu, den die Volkspartei SPD seit Bestehen der Bundesrepublik als ihre Stammklientel betrachtete. Man kann sich dieses Kuriosum nicht oft genug vor Augen stellen: Was nach Parteiherkunft und Parteilogik sachlich zwingend in der SPD diskutiert und verhandelt gehörte, weil es das Leben und die allzu vollmundig beschworenen Sorgen der Leute berührt, verwandelt sich im ›Kampf‹ zwischen Demokratie- und Abendlandrettern in einen Popanz aus hate speech, Gesinnungsschwafelei und -rechthaberei sowie latenter und nicht so latenter Gewalt, angesichts dessen mehr ins Rutschen geraten ist als ein simples Parteiprofil.

Übersehen hat die SPD bei alledem etwas anderes. In dreißig Jahren hat sie es nicht geschafft, auf dem Boden der sogenannten Neuen Bundesländer, sprich der alten DDR, ihr seit Willy- und Helmut-Tagen zementiertes West-Image als Noch-, Ex- und Wieder-Regierungspartei zu reproduzieren. Geschafft hat sie, fast im Alleingang, etwas anderes: die Wiedergeburt der einst praktisch vollständig delegitimierten alten Staatspartei der DDR, die sich heute Die Linke nennt, nach exakt diesem Modell.

Hier ist nicht der Ort, die Fehler aufzuzählen, die zu dieser Konstellation geführt haben. Die ernüchternde Tatsache lautet: Heute ist die SPD-Ost nur noch der potenzielle oder aktuelle Juniorpartner einer Linkspartei, die nicht bloß von Legitimitätsbewusstsein strotzt, sondern bei der Bevölkerung auch als solche wahrgenommen wird – teils aus aufgefrischter Anhänglichkeit, teils aus neu aufgekommener Ängstlichkeit nach dem fatalen Motto aller Nach-Diktatur-Gesellschaften: Seid euch mal nicht so sicher.

Dass ausgerechnet SPD-geführte Ministerien dieser allgemeinen Verunsicherung Vorschub geleistet haben und weiterhin leisten, durch das ›Netzwerkdurchsetzungsgesetz‹ des Bundes ebenso wie durch die Finanzierung auf Gesinnungsschnüffelei ausgerichteter privater, vorzugsweise in Verbünden aktiver ›Initiativen‹, hat der Partei, neben den traditionellen Erwerbstätigen, die vielleicht wichtigste Bezugsgruppe entfremdet: jenen Teil der 68er-Nachfolgeschaft, der dem libertären und bürgerlich-liberalen, subkulturell-emanzipativen Ideal der Frühzeit über die Jahrzehnte hinweg die Treue gehalten hat und sich mittlerweile zwischen Maul- und Durchhalte-Appellen eingepfercht sieht, von deren Lautsprechern weder intellektuelle Brillanz noch Toleranz für jemanden zu erwarten steht, der in geistiger Unabhängigkeit und Experimentierlust sein Lebenselixier findet. Die SPD hat ihre Intellektuellen verloren, das ist schlimm genug, jetzt schickt sie ihnen den Rest-Intellekt hinterher.

Nein, Einheit ist nicht das Gebot der Stunde. Eine Partei, in der sich zwei Fraktionen gegenüberstehen, die einander nichts zu sagen haben, deren eine die andere sukzessive ins Schweigen oder aus der Partei drängt, eine solche Partei hat die Pflicht sich zu teilen. Die Wähler, um die es am Ende geht, besitzen ein Recht darauf zu erfahren, wen sie wählen und was der, den sie wählen, in der eigenen Partei zu sagen hat. Erfahren sie es nicht, erfahren sie es nicht bald, dann lässt die nächste Quittung nicht lange auf sich warten.