Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Erinnerung an Leipzig-Connewitz, Sommer 1991: der eingeflogene West-Dozent unterwegs auf Parkplatzsuche nahe der damaligen Szenekneipe Backwahn, dirigiert von ein paar im Fond sitzenden Studenten … einer klugen, munteren Gruppe, vereint durch die Aussicht, einen Abend lang über das Land und seine Zukunft zu diskutieren. Plötzlich ein Schrei aus vier Mündern: »Gas geben!«, dazu ein dumpfer Schlag gegen das Fahrzeugheck –: nachdrücklicher ließ sich die Szene-Freiheit in jenen ferngerückten Zeiten nicht unterstreichen. Natürlich waren das die Rechten, ausgerüstet mit Fahrradketten oder was auch immer, die ihrer Enttäuschung über den davonbrausenden Feind nonverbal (vermutlich auch verbal, aber das hörten wir nicht) Ausdruck verliehen.

Leipzig, Herbst 2019: die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung bittet zum Kongress. Thema: »30 Jahre Friedliche Revolution – das ungeliebte Wunder? Zeitzeugen und Bürgerrechtler berichten«. Am 14. November, zwei Tage vor der Veranstaltung, kommt die Absage, ausgelöst durch eine Mitteilung des Tagungslokals: Die Rede ist von einem »Supergau, eine(r) große(n) technische(n) Havarie in unseren Eventräumen. Es betraf die ELA der Barocksäle inkl. der daran angeschlossenen Nebenräume. Betroffen sind die Lüftungsanlage, die komplette Beleuchtungsanlage und in Teilen auch die Brandschutzanlage…« So sieht sie aus, die Szene-Freiheit anno ’19, dreißig Jahre nach dem Event, das die Deutschen in diesem Jahr so nachdrücklich zu zivilgesellschaftlichen Aktivitäten animiert.

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Einer der angeschriebenen Zeitzeugen war Gunter Weißgerber, Gründungsmitglied der SDP, später SPD-Bundestagsabgeordneter mit erfolgreichem Kontakt zur Basis, unermüdlicher Zeitkommentator und seit diesem Jahr einer aus der wachsenden Zahl prominenter und nichtprominenter Sozialdemokraten ohne Parteibuch – mit Parteispitze und -politik zerfallener Sozialdemokraten, die gewillt sind, für eine andere SPD zu stehen, komme, was da wolle, ohne ins andere Lager abzudriften. Das andere Lager …

Weißgerber, der stets mit heftiger Kritik an der AfD, auch auf Globkult, nicht spart, hatte sich entschlossen, die Einladung anzunehmen, um Flagge zu zeigen – nicht für die Stiftung, nicht für die AfD, sondern für das grundgesetzlich verbürgte Recht, immer und überall ungehindert seine Meinung zu äußern und im Gedankenaustausch auch mit dem politischen Gegner zu bleiben. Dieses Recht, auch den Langsamen dämmert es allmählich, fängt an in diesem Land Flecken zu zeigen, die einige Zeitzeugen just an das erinnern, wovon sie gern im Plusquamperfekt Zeugnis ablegen würden, in der Zeitform der vollendeten Vergangenheit – doch so vollendet ist die Vergangenheit nicht und diese offenbar schon gar nicht.

Was die ›Havarie‹ angeht, so hat sie die Dimension des Kettenschlages von Anno dunnemal längst überschritten. Sie ist zu einer gesamtgesellschaftlichen Havarie geworden. Auch die Akteure sind entschieden andere als damals – man kann das feststellen, ohne sich in den Strudel der üblichen Schuldzuweisungen zu stürzen, in dem, auf der Jagd nach dem Sündenbock, die Gesellschaft sich der Handschuhe entledigt und ihrer zur Utopie umgefälschten Auflösung entgegenfiebert.

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Was Weißgerber hätte ausführen wollen, das lässt sich heute andernorts nachlesen. Ich möchte nur angesichts dieser nichtgehaltenen Rede eines ungehaltenen senior politician ein paar Punkte herausgreifen, die einerseits den Anlass beleuchten, andererseits deutlich über ihn hinausgreifen. Sie beginnt mit dem (untergeschobenen) Voltaire-Zitat Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, daß Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen. Es stammt von der Biographin Beatrice Evelyn Hall. Weißgerber lässt den historischen Voltaire zu Wort kommen: Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.

Weißgerber hätte hinzufügen können, dass dieses Recht für Voltaire offenbar kein demokratisch verbürgtes Recht ist, sondern ein Menschenrecht, das nur durch die widerwärtigste Tyrannei beschnitten wird. Der Unterschied mag manchem gekünstelt erscheinen, ist es aber nicht: Auf dieses Recht kann (und sollte) man sich einigen, ohne eine Grundsatzdebatte über Demokratie führen zu müssen.

Dem Redner kommt es an dieser Stelle auf etwas anderes an:

»Soweit Voltaire und Hall, die meine Begründung für diese Rede bei ihnen liefern. Ich stehe zu Voltaire, auch ich habe Haltung.«

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Was ist Haltung? Jedenfalls nicht Meinung. Haltung haben heißt zu seinen Überzeugungen stehen. Na sicher, sagen die Apologeten der Zensur: Haben wir. Mehr als genug. Der kleine Unterschied zwischen Überzeugungen haben, nämlich eigene, und zu ihnen stehen, und sich Überzeugungen beugen, weil es sich um einen sicher geglaubten Allgemeinbesitz handelt, um ihnen tatkräftig beim als Feind ausgelobten Anderen Geltung zu verschaffen, sollte aber nicht außer acht gelassen werden.

Wer vom Recht auf Meinungsfreiheit durchdrungen ist und aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer es errungen werden muss, wenn es einmal verlorenging, der muss mit Verhältnissen (und Parteien) fremdeln, die seit langem den Punkt umkreisen, an dem es zur Disposition steht:

»Die Meinungsfreiheit ist in der Bundesrepublik seitens Teilen der Zivilgesellschaft unter tatkräftig-wohlmeinender staatlicher Förderung schwer unter Druck. Nur existenziell Unabhängige können es sich leisten, in Widerspruch zum ökologischen Umbaudesaster der Volkswirtschaft, zur Klimahysterie, zur Destabilisierung der Energiewirtschaft, zum Strangulieren der Automobilindustrie, zur Atomisierung der Gesellschaft mittels des Genderunfugs, zur fahrlässigen Zuwanderungs- und einäugigen Sicherheitspolitik zu gehen.

Kritik wird zunehmend zur Majestätsbeleidigung und verbal zu ›Hass‹ disqualifiziert.

Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz war es aus gerechnet ein Sozialdemokrat, der das Schnüffeln und Anzinken salonfähig machte. Der Verfassungsschutz bietet ein ›Hinweistelefon‹ für schnelles Anzinken an. Cornelius Sulla (römischer Dictator von 82-79 v.u.Z.) und seine Proskriptionslisten lassen grüßen.«

›Schnüffeln‹ und ›Anzinken‹: Ist das Haltung? Eher nicht. Es ist auch nicht ›Meinung‹, es ist nur ›gemein‹, soll heißen, es wird rasch epidemisch, sobald Tür und Tor geöffnet sind. Ob öffentlich oder insgeheim, spielt da kaum eine Rolle.

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Das Gegenstück zur Meinungsfreiheit ist die Informationsfreiheit. Was nützt es, meine Meinung zu sagen, wenn der andere sie nicht hören darf? Lesen wir, was Weißgerber dazu 2019 zu sagen weiß:

»Demonstrierten 1989/90 Montag für Montag für Freiheit und Einheit Hunderttausende entgegen des Uhrzeigersinns um den Leipziger Innenstadtring und liefen gleichzeitig mehrere hundert vorwiegend junge Leute im Uhrzeigersinn innerhalb des Rings völlig gefahrlos dem Wunsch der tausendfachen Übermacht entgegen, so ist das heute alles nicht mehr möglich. Die 1989 gewonnene Demonstrations- und Redefreiheit zerrinnt in täglichen Exzessen. Im Gegensatz zur DDR geschieht das nicht staatlich institutionalisiert, die Republik des Grundgesetzes schützt die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht. Jeder Pegida-Demonstrant müsste das durch den Polizeischutz, den seine Demonstrationen regelmäßig erfahren, inzwischen erkannt haben. Was die Gegner von Pegida nicht sehen und berichten wollen, ist die Gewaltlosigkeit dieser Dresdner Demonstrationen. Die passt einfach nicht ins gewünschte Bild. Ob mir Pegida nun passt oder nicht, das ist anzuerkennen.

Es sind große Teile der Vierten Gewalt in Verbindung mit zur Selbstjustiz neigenden Blockwarten, die ein Gefühl der Ohnmacht aufkommen lassen. Es ist nicht so, dass über Gewalt nicht berichtet wird. Es wird aber parteiisch, einseitig berichtet.

Wer dagegen die sog. Mainstream-Medien und die seriösen Blogs im Internet als eine Medienlandschaft annimmt, bekommt viele gute Informationen auf den Tisch. Es ist nicht so, dass die Mainstream-Medien lügen und in den Blogs die Wahrheit allein zu Hause ist. In der Mitte liegt die Erkenntnis. Überall sind Menschen mit eigenen politischen Ansichten unterwegs. Denken müssen wir schon selbst.

Ich bin auch für das Institut der Öffentlich-Rechtlichen Medien. Wir brauchen eine ausgewogene Grundversorgung. Die im Moment völlig aus dem Ruder läuft. Auch mir ist die rund-um-die-Uhr-Berieselung zuwider. Adenauer wollte das ZDF als Regierungsfernsehen installieren. Was zum Glück damals verhindert wurde. 2019 habe auch ich das Gefühl, mit ARD und ZDF einem Regierungsfernsehen ausgeliefert zu sein. Mit der Regierung Merkel haben große Teile der Medien endlich ihre eigene Regierung. Die ÖR-Medien bedürfen der Evaluierung, nicht der Abschaffung.«

Das ist trivial? Sagten Sie, das sei trivial? Wo wohnen Sie, wenn man fragen darf? Nein, es ist nicht trivial. Es ist essentiell. Es widerstrebt ihnen, diesen Satz anzunehmen? Sehen Sie: Es ist nicht trivial. Warum widerstrebt es Ihnen, den Satz anzunehmen? Mit dieser Frage sind wir schon mittendrin.

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»Viele Normalbürger gewinnen den abstoßenden Eindruck, dass sich große Teile der vierten Gewalt mit dem Teufel Linksradikalismus gegen den Teufel Rechtsradikalismus verbunden haben und alle Meinungen, die nicht im sehr linken Biotop kursieren, generell als rechts und damit außerhalb der Gesellschaft verorten. Es wird ein riesiger Popanz mit noch mehr Steuergeld aufgeblasen, der diese Gesellschaft spaltet. Und es war die SPD, die diese Spaltung ausgerechnet in Leipzig 2013 auf den Weg brachte. Vor sechs Jahren beschloss die SPD die ›Kommunistische Plattform‹ der Linkspartei verschweigend, fürderhin einen konsequenten RotRotGrün-Weg zu gehen. Es folgte 2014 die Thüringer Linksaußenkoalition und geradezu schlüssig im September 2018 auf diesem Weg in eine linke Republik der SPD-Ruf nach Einbindung der Antifa in den gemeinsamen politischen Kampf um die Republik. Ja, welche Republik denn? Die Republik, in der die Antifa ein Ministerium besaß, dass war die Diktatur der Arbeiterklasse, die DDR.

Die meisten Demonstranten 1989/90 gingen aber für eine Demokratie ohne rechten oder linken Anstrich auf die Straße. Die linken Jakobiner schickten sie in die Wüste, die rechten Jakobiner wollten sie dort auch verdorren lassen. Auch wollten sie, dass Justitia nach der Klassenjustiz der DDR-Zeit die Augen wieder verbunden werden. In den letzten Jahren gewann ich den Eindruck, an Justitias Augenbinde wird gezerrt.

Seit längerem schwant mir, wären es damals umgekehrte Demonstrationszahlen auf dem Leipziger Ring gewesen, die in dem Fall an Zahl viel kleineren Freiheits- und Einheitsbefürworter hätten ihren Marsch gegen den Anti-Freiheits- und Einheitswunsch der dann tausendfachen Überzahl nicht ohne größte Gefahr für Leib und Leben gehen können. Zum Glück waren wir damals Tausende Male mehr als viele der damaligen Gegenläufer.«

Der letzte Satz hat es in sich. Er enthält ein politisches Bekenntnis – für Freiheit und Einheit – und eine politische Einsicht: Es wäre ein Irrtum anzunehmen, der Satz, dass alle Gewalt vom Volke ausgehe, habe neben seiner demokratischen nicht auch eine demagogische Bedeutung: Gerät eine Macht ins Taumeln, dann hütet euch vor denen, die sie, selbst posthum, zu mobilisieren versteht.

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Gerät die Macht in diesem Lande ins Taumeln? Davon ist weit und breit nichts zu sehen. In Bewegung geraten ist das Parteiensystem und es ist nichts als schlechte Analyse, die Ursache dafür in der AfD – oder allgemein: im Populismus – zu orten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Merkel-Jahre haben die Spannungen und Brüche in der Parteienlandschaft offengelegt, die durch die Zusammenlegung zweier im Grunde inkompatibler Parteiensysteme entstanden. Man mag das für ein Ost-Phänomen halten, aber das wäre denn doch zu kurz gedacht.

Der deutsche Populismus verdankt einen Gutteil seiner Popularität der Angst vor dem Populismus, also vor dem Wähler, dem angesichts von Parteien graut, die mit mehrfach übermalten Fronten auf Kundenfang gingen und gehen, während jeder, der es wissen will, weiß oder wissen kann, wie zäh alte Seilschaften (und, mit Gorbatschow zu reden, altes Denken) sich hinter den Fassaden behaupten und wie wenig homogene Wirklichkeit das scheinbar homogene Programmwesen birgt. Kaum überraschend trifft es auch und gerade die einst, nicht zuletzt dank der östlichen Neugründung SDP, so geradlinige SPD, seit sie die offizielle Distanz zur PDS/Linkspartei zugunsten durchsichtiger Planspiele und weit weniger durchsichtiger inhaltlicher Neuausrichtungen zu unterlaufen begann. Soll heißen, das Misstrauen der Wähler gegen die schein-angestammten Parteien ist seit den neunziger Jahren unaufhaltsam, seit Merkels ersten Regierungsjahren sprunghaft gewachsen. Das festzustellen ist keine kleine Sache. Es ist eine soziologische Einsicht, dass Parteien, deren Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet, Gefahr laufen sich zu radikalisieren. Das kann über Parteiprogramme geschehen, muss aber nicht: Wachsende Unduldsamkeit und Militanz gegenüber dem zum Feind beförderten politischen Gegner sind der andere Pfad, und sein Ende ist absehbar.

»Jan Fleischhauer schreibt am 9. November 2019 im Focus ›Im linken Lager heißt es jetzt, man müsse AfD-Wähler ›ausgrenzen, ächten, kleinhalten, ihnen das Leben schwer machen‹‹. Auf diese Idee können nur Leute kommen, die dort weitermachen wollen, wo 1989 SED und MfS aufhören mussten: Bei Gesinnungsterror und Hexenjagd gegen die eigene Bevölkerung. Wer nicht dafür ist, ist dagegen und gehört ins Lager! Rechts ist, was nicht mit den Augen von Linksaußen auf die Welt blickt. Rechts ist dabei alles, was rechts des linken Randes über die Mitte bis zum Randbereich des demokratischen rechten Spektrums reicht. Nie hätte ich gedacht, dass große Teile der Union diese Sicht übernehmen statt ihren Platz ›rechts der Mitte‹ zu verteidigen.

SED und MfS hatten am Ende mit dieser Sicht nahezu die gesamte Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Unglaublich aber wohl doch wahr: Das Experiment wird im Moment ohne Stasi aber mit Hilfe der Antifa wiederholt.«

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Es sind keine Jubelfeiern geworden. Der dreißigste Geburtstag der Freiheit auf gesamtdeutschem Boden – um diesen einstmals bedeutungsschwangeren Ausdruck aufzugreifen – beleuchtet ein schwieriges Land, versunken in Zweifel und Hader, überflutet von unbotmäßigen Erinnerungen und überschwemmt mit Zurichtungen der billigsten Art. Da sollte man nicht vergessen, dass es noch immer das alte Land in der Mitte Europas ist, durchzogen von Spannungen und Interessen, die nicht an seinen Grenzen Halt machen, und zerfurcht von Konflikten, die, wie immer, Menschen in all ihrer Bedürftigkeit hinterließen. Auch dafür findet Weißgerber das richtige Wort:

»Unser Vater war zeitlebens Antikommunist und Antinationalsozialist. Also ein Demokrat. Er hasste das Sowjetsystem, die Menschen darin ließ er das nicht spüren. Unsere Eltern fuhren gern im Sommer in ein Betriebsferienheim an die Ostsee. Zwischen Berlin und Trassenheide standen oft meines Vaters ›arme Schweine‹ in Gestalt von Sowjetsoldaten mit Motorrad an Straßenkreuzungen, die manchmal tagelang ohne Verpflegung auf ihre Kolonnen warteten. Jedes Mal fuhren unsere Eltern in das nächste Dorf und kauften dort Brot, viel Brot. Sie brachten es den jungen Kerlen und bei der Übergabe sagte unser Vater immer ›Hier, chleb, Brot. Aber bitte beim nächsten 1953 nicht auf uns schießen!‹ Die Soldaten verstanden den Sinn der Worte sicher nie, aber dass sie von Deutschen Brot erhielten, dafür waren sie dankbar. Ihre Vorgesetzten, für die immer Krieg war, waren dazu nicht in der Lage.«

Applaus.